DAS FÜNFUNDZWANZIGSTE KAPITEL. (1.B./25.K.)

 

VON DER LIEBE DES NÄCHSTEN INSONDERHEIT.

 

Inhalt.

1) Wer Liebe übet, ist kein Sündenknecht; wir müssen aber den Menschen lieben, wie Gott uns liebt. 2) Der Nächste ist uns zur Probe gesetzt. 3) Ohne dessen Versöhnung haben wir bei Gott keine Gnade. 4) Von den Lieblosen weichet Gottes Liebe; 5) und sie haben keinen Teil an Christi Verdienst. 6) Darum liebe deinen Nächsten, denn ihr seid alle einander gleich. 7) Hassest

du ihn, so hasset dich Gott, 8) als der über nichts so sehr, als über die Unbarm-herzigkeit zürnet.

 

Von welchem jemand überwunden ist, dessen Knecht ist er. 1 Petr. 2,19.

 

Es ist keine schwerere und härtere Dienstbarkeit, als wenn man den sündlichen Affekten dienet, und sonderlich der Feindseligkeit; denn dieselbe bindet und belästiget alle Leibes- und Seelenkräfte, und läßt dem Menschen keine Gedan-ken frei. Wer aber die Liebe übet, der ist recht frei in seinem Herzen, der ist kein Knecht und Leibeigener des Zorns, des Neides, des Geizes, Wuchers und Mammons, der Hoffart, Lügen und Verleumdung. Die Liebe macht ihn von allem dem frei, und läßt sich also nicht überwinden von den schändlichen Lastern; der ist ein rechter Freier in Christo durch den Geist der Freiheit: Denn wo der Geist ist, da ist Freiheit, 2 Kor. 3,17. Ein solcher Mensch, der in der Liebe Christi wandelt, der ist kein leibeigener Sündenknecht, und Leibeigener der fleischlichen Affekten und Begierden mehr; denn der Geist der Liebe Gottes hat ihn befreiet, und gereiniget von fleischlichen Lüsten. Nun sehen wir, wie die Liebe Gottes sich über alle Menschen erstreckt, welches er nicht allein in seinem Wort, sondern auch in der ganzen Natur bezeuget. Denn er hat den Menschen den Himmel insgemein gegeben, der bedecket sie alle, der ist mein und meines Nächsten; also, die Sonne ist mein und meines Bruders, es muß der Höchste sowohl als der Niedrigste von der allgemeinen Sonne, Luft, Erde und Wasser leben. Wie es nun Gott mit uns meinet, so sollen wir es auch mit unsern Nebenmenschen meinen. Denn Gott hat selbst sich hiemit uns zu einem Exempel vorgestellt, dass er gegen uns alle gleich gesinnt sei, keinen mehr oder weniger liebe, als den andern. Das ist, er hat uns alle in Christo gleich lieb, sieht keine Person, Würdig-keit oder Verdienst an. Und wie er gegen uns gesinnet ist, also sollen wir auch gegen unsern Nächsten gesinnt sein; und wie wir uns gegen unsern Nächsten verhalten werden, also will er sich auch gegen uns verhalten. Hat er uns also in unser Herz gelegt, uns damit zu überzeugen, wie er gegen uns gesinnt ist, also sollen wir auch gegen unsern Nächsten gesinnt sein. Darum liegt nun die Probe in unserm Herzen und Gewissen; da sollten wir eingehen, und uns selber fragen wie wir mit unserm Nächsten stehen, wohl oder übel; wie wir uns nun befinden, also stehen wir auch mit Gott. Denn wie wir unserm Nächsten tun, also will uns Gott auch tun. Das heißt: Ps. 18,26.27. Bei den Heiligen bist du heilig, und bei den Verkehrten bist du verkehrt, das ist, hast du ein verkehrtes Herz gegen dei-nen Bruder, so ist dir Gott auch zuwider.

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2. Darum ist uns nun unser Bruder zur Probe gesetzt der Liebe Gottes, das ist, an unserm Nächsten will uns Gott probieren, ob unsere Liebe gegen ihn recht-schaffen sei. Denn Gott bedarf unsers Dienstes nicht ein Stäublein, sondern der Nächste.

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3. Darum hat es Gott so genau auf den Nächsten gerichtet, und auf unser Ge-wissen gelegt, dass wir in allen Dingen uns nach ihm richten sollen, und allemal, ja alle Stunden also gegen unsern Nächsten gesinnt sein, wie er gegen uns. Denn unser keiner kann ohne seines Nächsten Versöhnung bei Gott in Gnaden bleiben, Gottes halben hats keine Not. Der ganzen Welt Sünden sind auf einmal aufgehoben, und vollkommene Vergebung erlangt worden durch den Tod Jesu Christi. Denn wir alle sind der Knecht, welchem der König alle seine Schuld aus Gnaden schenkte, da er nicht hatte zu bezahlen. Aber hernach, als der Knecht mit seinem Bruder so unbarmherzig handelte, hub der König seine Vergebung wieder auf, und ward also der Schalksknecht, um seines Bruders willen, ver-dammt, und der Beschluß darauf gegeben: Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebet von eurem Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehle, Matth. 18,35. Item: Eben mit dem Maß, da ihr messet, wird man euch wieder messen, Luk. 6,38.

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4. Also ist immer ein jeder Mensch nicht von sein selbst wegen allein da, sondern auch von seines Nächsten wegen. Denn so stark ist das Gebot von der Liebe des Nächsten, dass, wenn es gebrochen wird, so weichet Gottes Liebe von uns hintan, und wird der Mensch stracks von der strengen Gerechtigkeit gerichtet und verdammt.

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5. Wenn wir das bedächten, es würde nimmermehr ein Mensch mit dem andern zürnen, und die Sonne über seinen Zorn nicht untergehen lassen, Ephes. 4,26. Denn obwohl Christus mit seinem Tode am Kreuz aller Welt Sünden einmal ganz und vollkommen gebüßet und bezahlt, und also der ewige König uns allen unsere große Sünden aus Gnaden geschenket und vergeben hat; dennoch, so wir un-sern Bruder hassen, ihn nicht lieben, und ihm nicht vergeben, so soll das ganze Verdienst Christi an uns verloren und umsonst sein, da uns doch zuvor die ewige Seligkeit erworben war durch Christum.

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6. So gar hat Gott uns an die Liebe des Nächsten verbunden, dass er nicht will von uns geliebt werden ohne unsern Nächsten; versehen wir es nun da, so haben wir es bei Gott auch versehen. Und eben darum hat Gott nicht einen Menschen besser erschaffen wollen, als den andern, damit wir nicht Ursache hätten, einander zu verachten, und uns über einander zu erheben, sondern unter einander, als Kinder eines Vaters, in Friede und Einigkeit leben, und ein ruhiges Gewissen haben sollen.

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7. Hassest du nun deinen Bruder, so hassest du Gott, der dir solches verboten hat, und so hasset dich Gott wieder. Verachtest du deinen Bruder, so verachtet dich Gott wieder. Und das ist dein Gericht und Verdammnis, und verlierst auf einmal die Vergebung der Sünden, das teure Verdienst Christi und seine Erlö-sung.

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8. Denn es ist unmöglich, des Blutes Christi, welches aus Liebe vergossen ist, mit feindseligem Herzen fruchtbarlich teilhaftig zu werden. Ja, wir sehen aus dem Gleichnis, Matth. 18,35. dass Gott nicht so sehr zürnet über die große Schuld der zehntausend Pfund, als über die Unbarmherzigkeit; die Schuld kann er ver-gessen, aber die Unbarmherzigkeit nicht. Darum sollen wir an den göttlichen Schluß gedenken: Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun.

 

Gebet um christliche Barmherzigkeit gegen den Nächsten.

(Siehe im Paradiesgärtlein.)

 

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