J. G. Hamann, Gedanken über meinen Lebenslauf

 

Der Text wird hier wiedergegeben nach: „Schriften J. G. Hamanns, ausgewählt und herausgegeben von Karl Widmaier, Leipzig 1921, S. 29-102“. Er wurde aber der neueren Rechtschreibung angenähert, soweit es möglich und geboten schien. 2024 / T.G.

 

J. G. Hamann

 

Gedanken

über meinen Lebenslauf

 

Ps. 94,19.

In der Menge meiner Gedanken in mir

ergötzen deine Tröstungen meine Seele.

 

London, 21. April 1758

 

Bis hierher hat mir der Herr geholfen.

 

1

Ich bin den 27. August 1730 in Königsberg in Preußen geboren, und den folgenden Tag, soviel ich weiß, durch die christliche Vorsorge meiner frommen und ehrlichen Eltern, zum Bad der heiligen Taufe gebracht worden. Gott hat mich die Ehre und Vorteile der Erstgeburt genießen lassen, und ich bin meiner Mutter, wie Jaebez, ein Sohn der Sorgen und Schmerzen gewesen. Sie hat meinem Vater noch einen Sohn an meinem jüngern Bruder gegeben, und wir beide sind der ganze Reichtum unsrer Eltern gewesen, den Gott mit so viel Gnade erhalten als gegeben hat.

Mein liebreicher Vater im Himmel, womit soll sich mein Dank für den Überfluss des Segens anfangen, womit du mich schon in den Umständen meiner Geburt als mit einem Kranze geziert hast! Ein gesunder Leib, den du im Verborgenen gebildet hast – eine Seele, der du den Orden des Himmels und das Unterpfand der Seligkeit, in Abwaschung meiner angeerbten Sünden und Aufnehmung in den Bund deines Sohnes und den Schoß seiner Kirche, umsonst geschenkt hast, noch ehe sie sich ihres Daseins selbst bewusst war, so wie du die Milch in den Brüsten meiner Mutter bereitetest, noch ehe ich den Durst und die Notwendigkeit und den Geschmack derselben kannte – Eltern, deren Andenken unter die teuersten Begriffe meiner Seele gehört und ohne zärtliche Bewegung der Liebe und Erkenntlichkeit von mir nicht übersehen werden kann, durch die du dich selbst mir zuerst hast offenbaren wollen, und die nach ihren Kräften sich angelegen sein ließen, mich zu dir zu führen – die du in zeitlichen Umständen gesegnet hast, und die ihr eigenes Leben als eine Probe deiner weisen und gütigen Regierung jederzeit ansahen und uns anpriesen. Du hast mich gewürdigt, ein Zeuge von dem Abschiede meiner Mutter zu sein, die in deine Ruhe eingegangen. – Ihre guten Werke werden ihr nachgefolgt sein. Das Verdienst deines Sohnes ersetzt unsre Unvollkommenheit und die Gebrechen unsers Guten; die Seligkeit, die er erworben, ist der Lohn, welcher die Undankbarkeit der Welt überschwänglich gutmacht. Lebt mein Vater noch – so lass sein Alter gesegnet sein. Tröste ihn in dem Kummer, worin er meinetwegen ohne Zweifel gedrückt wird. Tröste ihn mit eben dem Geist, der mich aufgerichtet hat, und dessen Öl allein unserm Gesichte Glanz geben und unser Herz mehr als junger Most und das Fette des Weizens fröhlich machen und erquicken kann. Lass ihm die Not der gegenwärtigen Drangsale unter deinen Flügeln leicht werden. – Ist dieses Gebet, mein Gott, ein Irrtum, so mache seine Freude voll durch die Bekehrung eines Sünders, der Buße tut und den er auf Erden zu verlieren geglaubt, um ihn in der Heimat deiner Kinder wiederzufinden. Erhöre mich, mein Gott, um deines lieben Sohnes willen. Amen!

3

Ich bin frühe von meinen Eltern zur Schule gehalten worden. Sie waren beide Feinde des Müßigganges und Freunde göttlicher und menschlicher Ordnung. Sie begnügten sich nicht mit dem bloßen Schein ihrer Pflichten und dem Zeremoniell der Erziehung, was so viele Eltern schandenhalber ihre Kinder genießen lassen; sie hatten unser Bestes zu ihrem Augenmerk und taten so viel selbst, als ihre Umstände und Einsichten es erlaubten. Unsre Lehrmeister mussten ihnen Rechenschaft von unserm Fleiß und Aufführung ablegen; wir fanden zu Hause eine Schule an der Aufsicht, ja, an der strengen Aufsicht und an dem Beispiel unsrer Eltern. Lügen, Umtreiben und Näscherei waren drei Hauptdinge, die uns nicht vergeben wurden und denen wir niemals Erlaubnis hatten uns zu überlassen. Wir können uns eher einer Verschwendung in unsrer Erziehung rühmen, als über eine Sparsamkeit darin beschweren. Die rechte Haushaltung und Wirtschaft darin ist die größte Kunst; so wie der erste Fehler ein größer Lob der Eltern und einen schwereren Vorwurf der Kinder macht. Unser Haus war jederzeit eine Zuflucht junger Leute, die studierten und welche die Armut sittsam machte. Sie waren jederzeit willkommen und wurden bisweilen ausdrücklich für ihren Unterricht bezahlt, als Nebenstunden, als Wiederholung und Zubereitung der Schule; sie waren zugleich unsre Gesellschafter, Zeitvertreiber, Aufseher und wurden mit ältern Jahren Vertraute und gute Freunde. Dergleichen Vorteile haben wir genossen, solange wir in unsers Vaters Hause gewesen und als ich wieder in dasselbe zurückkam; hieher gehören Sprachen, Griechisch, Französisch, Italienisch, Musik, Tanzen, Malen. So schlecht und recht wir in Kleidung und in andern Torheiten kurzgehalten wurden, so viel Ausschweifung wurde uns hierin verstattet und nachgesehn.

4

Die guten Absichten meiner lieben Eltern würden besser erfüllt worden sein und ihre großmütige Neigung besser angewandt, wenn sie einen guten Rat in der Wahl ihrer Mittel und wir eine größere Rechenschaft vom Gebrauch derselben zur Richtschnur gehabt hätten. Wie vorzüglich aber vor unzähligen andern Eltern ihre Einsichten und Grundsätze und die Triebe ihres Herzens gegen ihre Kinder waren, hat mich die Erfahrung mit öfterem Zurückdenken und In-mich-gehen gelehrt.

5

Ich habe in meiner Schulerziehung drei Abwechselungen gehabt. Das erste war ein Zusammenfluss von Kindern jedes Geschlechts und jedes Alters unter einem abgesetzten Priester, dessen Name Hoffmann war. Dieser Mann hat den Grund gelegt, und ich bin sieben Jahre sein Schüler gewesen, nach deren Verlauf er mich so weit gebracht zu haben glaubte, als ein Kind nötig hätte, um auf einmal ein Jüngling zu werden; oder vielleicht war dies bloß ein Geständnis seiner eigenen Unfähigkeit, mich länger zu führen. So dunkel die Erinnerung seines Unterrichts, so weiß ich so viel, dass selbiger außerordentlich war, dass er mir das Latein ohne Grammatik beizubringen gesucht hatte.

6

Von hier kam ich in die Hände eines Schulmannes, der ein öffentliches Amt hatte und eine Winkelschule dabei hielt, die in zwei runden, besetzten Tischen bestand. Sein Name war Röhl, und er war Prorektor im Kneiphof, sein Stiefsohn war sein Gehilfe. Dieser Mann hatte viel Glück und Erfahrung, beide aber beruhten auf bloßer Pedanterie und dem Schlendrian der Schulkünste. Ich wurde von dem kleinen Hügel, wo sein Vorgänger mich gesetzt, plötzlich verrückt und beschuldigt, nichts zu wissen, weil ich seine Methode nicht kannte. Bei diesem Manne hab ich vom Donat angefangen und mit einem Mut, den er selbst bewunderte, einige der vornehmsten und schwersten lateinischen und griechischen Schriftsteller unterschiedene Male durchgepeitscht. (Er hat mich buchstabieren gelehrt und eine Weise dazu, die nicht zu verachten ist und die ich nachgeahmt habe.) Er schmeichelte mir und sich selbst, einen großen Lateiner und Griechen erzogen zu haben; ich konnte einen Römer verdeutschen, ohne die Sprache noch den Sinn des Autors zu verstehen. So waren meine lateinischen und griechischen Zusammensetzungen Buchdruckerarbeit, Taschenspielerkünste, wo das Gedächtnis sich selbst überfrisst, und eine Schwindung der übrigen Seelenkräfte entsteht, weil es an einem gesunden und gehörigen Nahrungssaft fehlt. Sein Sohn brachte mich sehr weit in der Rechenkunst; alles dies geht verloren, wenn das Urteil nicht bei Kindern gezogen wird, wenn sie ohne Aufmerksamkeit und Verstand fertiggemacht werden. Es ist eben so wie in der Musik, wo die Finger nicht allein, sondern hauptsächlich die Ohren und das Gehör gelehrt und unterrichtet und geübt werden müssen. Wer noch so geschwind und richtig ohne Gefühl der Harmonie ein Stück oder hundert gelernt hat, spielt wie ein Tanzbär in Vergleichung des elendesten Geigers, der seine eignen Grillen auszudrücken weiß. Ich will hier einige Anmerkungen hinzufügen. Die erste ist, dass ich glaube, mein Gedächtnis und meinen Kopf sehr geschwächt zu haben durch diesen gehäuften und unnützen Schulfleiß und dass meine natürliche Lebhaftigkeit und Fähigkeit einigermaßen darunter gelitten. Ein noch größer Übel ist, dass diese Methode alle Ordnung, ich möchte sagen allen Begriff und Faden und Lust an derselben in mir verdunkelt hat. Ich fand mich mit einer Menge Wörter und Sachen auf einmal überschüttet, deren Verstand, Grund, Zusammenhang, Gebrauch ich nicht kannte. Ich suchte immer mehr und mehr ohne Wahl, ohne Untersuchung und Überlegung aufeinanderzuschütten, und diese Seuche hat sich über alle meine Handlungen ausgebreitet, dass ich mich endlich in einem Labyrinth gesehn habe, von dem ich weder Aus- noch Eingang, noch Spur erkennen konnte. Unterdessen ich mich wirklich in einigen Dingen weiter befand, als ich es nötig hatte, so war ich dafür in weit nützlichern und nötigern ganz zurückgelassen; weder Historie noch Geographie, noch den geringsten Begriff von der Schreibart, Dichtkunst. Ich habe den Mangel der beiden ersten niemals gehörig ersetzen können, den Geschmack an der letztern zu spät erhalten und finde mich in vieler Mühe, meine Gedanken mündlich und schriftlich in Ordnung zu sammeln und mit Leichtigkeit auszudrücken.

7

Ein rechtschaffener Lehrmeister muss bei Gott und sich selbst in die Schule gehen, wenn er die Weisheit seines Amtes ausüben will; er muss ihn nachahmen, so wie er sich in der Natur und in der Heiligen Schrift offenbaret und vermöge beider in gleicher Art in unsrer Seele. Der allmächtige Gott, dem nichts kostet, dem nichts zu teuer für die Menschen gewesen ist, der sparsamste und langsamste Gott. Das Gesetz seiner Wirtschaftlichkeit von Zeit, womit er in Geduld die Früchte abwartet, sollte unsere Richtschnur sein. Es ist nichts daran gelegen, was noch wieviel Kinder und wir Menschen überhaupt wissen; aber alles, wie. Er sagt zu seinen Jüngern: In der Stunde, da es euch nötig sein wird zu reden, soll euch gegeben werden, erstlich und vornehmlich wie, und nächstdem, was ihr reden sollt. Diese Ordnung scheint uns Menschen umgekehrt zu sein; sie ist aber gewissermaßen Gott eigen und durch seine eigenen Wege geheiligt. Dem Reinen ist alles rein; der natürliche Geschmack kann die Güte der Speisen unterscheiden, die natürliche Mäßigkeit ihr Verhältnis bestimmen; aber der Dank und der Wille Gottes, nach dem und womit wir selbige genießen, ist allein das Werk des Glaubens und die Bedingung des göttlichen Segens. Wir säen nicht ganze Gewächse, auch nicht ganze Früchte derselben, sondern nichts mehr als das Kleinste davon, den Samen; und dieser selbst ist zu überflüssig, so dass er verfaulen muss, der Leib desselben, ehe er aufgehen kann. Dieser geht aber nicht auf, wenn der Boden nicht zubereitet und die Jahreszeit in Acht genommen wird. Von diesen Bedingungen hängt also das Gedeihen des Samens notwendiger als von der Natur desselben selbst ab. Die Mittel, Kinder zu unterrichten, können daher nicht einfach genug sein. So einfach sie sind, ist noch immer viel Überflüssiges, Verlornes und Vergängliches an denselben. Sie müssen aber reich an Wirkungen, eine Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit zur Anwendung und Ausübung in sich schließen. Sobald Kinder lesen gelehrt werden, sollte man Muster wählen, wodurch sie Licht im Verstand und Tugend im Herzen empfingen, nicht das erste das beste Buch und bloß des Lesens willen, sondern das Lesen selbst, wenn es die Hauptabsicht ist, muss als eine Nebenabsicht angesehen werden, wodurch der Gebrauch der sinnlichen Aufmerksamkeit, eine Öffnung und Aufklärung der Begriffe, eine Erweckung guter Empfindungen und Vorbildung guter Neigungen zubereitet wird. So sollte die Erlernung der fremden Sprachen als ein Hilfsmittel, die Muttersprache besser zu verstehen, an Gedanken fruchtbar zu werden, selbige zu zergliedern, die Zeichen derselben gegeneinanderzuhalten, den Unterschied derselben zu bemerken, kurz, was ein bloßes Gedächtniswerk zu sein scheint, als eine Vorbereitung und Übung aller Seelenkräfte und höherer, wichtigerer, schwererer, ja geistlicher Dinge gebraucht werden. Der Mangel dieser Lehrart macht Sprachen so schwer, so trocken und verdrießlich, so eitel und unnütz. Was haben Kinder, die Hausväter, Hirten, Handwerker usw. werden sollen, ja, die Kinder sind, mit den Taten griechischer und römischer Helden, fremden Völkern, Sitten usw. für Beziehung und Verwandtschaft? Dieser Gebrauch ist desto weniger zu entschuldigen, da die Welt Muster der Sprache in sittlichen Regeln, Erzählungen usw. besitzt, wo die Reinigkeit, Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit durch den Inhalt und Nutzbarkeit erhoben wird. Ein Landjunker sollte eher die Schriftsteller des Ackerbaues als das Leben Alexanders und die Briefe des Plinius zu seinen Lehrbüchern der römischen Sprache machen, und ich habe immer einen Auszug einer solchen römischen Wirtschafts-Bibliothek in gebundenen und ungebundnen Sprachmustern gewünscht, wie die vortreffliche Sammlung eines französischen Schriftstellers ist, den ich mit vielem Nutzen gebraucht habe. Das Latein würde nicht allein dem jungen Adel, sondern auch vielen Bürgerskindern leichter, angenehmer und brauchbarer werden, und die Einsichten der Wirtschaft, woran dem gemeinen Wesen und einzelnen Bürgern so viel gelegen, dadurch ausgebreitet werden. Eben diese Anmerkung habe ich selbst zum Teil im Schreiben gebraucht, weil die Vorschriften, die man Kinder nachzeichnen lässt, eben so als ihre Übungen, sie lesen zu lehren, gebraucht werden müssen, ja im Schreiben selbst auf die Erlangung des Augenmaßes und der Aufmerksamkeit ein beständig Auge gehalten werden muss. Die Betrachtungen meiner eignen Erziehung leiten mich vielleicht auf zu weitläufige Ausschweifungen. Dies ist aber ein so wichtig Werk, und ich finde noch immer in meinem Herzen einen zärtlichen Ruf Gottes, Lämmer zu weiden, dass ich der Versuchung nicht widerstehen kann, mich der Neigung meines Herzens zu überlassen, die mir so vieles über diesen Gegenstand in die Feder gibt.

Ich glaube, dass der Gebrauch des Schreibens viele Zeit, viele Mühe und Überdruss Kindern kostet, ja dass derselbe bei einigen desto nachteiliger ist, je früher sie dazu angeführt werden. Der Nachteil der Gesundheit, weil diese Arbeit ein anhaltendes Sitzen erfordert, eine Gelegenheit, nichts zu tun oder wenigstens müßig in Gedanken zu sein, unterdessen die Hand mit Verdruss sich beschäftigen muss. Was hat ein Kind für Lust, ein A oder B zu machen; oder gehören Jahre zu der Kunst, 24 Buchstaben nachmachen zu können? Könnte man Kinder nicht lieber mit Malen und Zeichnen, mit der hieroglyphischen Schreibekunst den Anfang machen lassen? Dies würde leichter sein, weil wir alle zum Nachahmen geboren sind, besonders die Natur nachzuahmen; der Sinn des Auges, das Urteil desselben, der Sinn und der Geschmack des Verhältnisses und der sichtbaren Schönheit, die Vergleichung der Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, worin ein so großer Vorteil der Denkungskräfte besteht. Es würde nützlicher sein, allen Handwerkern zur Vollkommenheit ihrer Hantierung dienen, Reisenden zum unsäglichen Vorteil, ein allgemeiner Zeitvertreib des Frauenzimmers und junger Leute, ein schärfer und kritisch Auge über die Werke der Natur und Kunst einflößen und uns vorbereiten zu einer zierlichen und geschwinden Handschrift; ja, dieser Teil der Zeichenkunst der Buchstaben würde leichter und geschwinder erlernt werden. Die Geschichte der Künste und der menschlichen Natur in derselben scheint dies noch mehr zu bestätigen. Sind nicht die Maler die ersten Schreibmeister und die Poeten und Redner die besten Schriftsteller gewesen? Die Vollkommenheit der Welt scheint in der Entfernung von der Natur zu bestehen. Wie unnatürlich haben uns Moden und Gewohnheiten gemacht, und wie schwer fällt uns in unsern Zeiten, zu zur Einfalt und Unschuld der alten Sitten zurückzukehren! 

9

Mein lieber, redlicher Vater sah zum Teil die Mängel der Schulerziehung ein, die ich genoss. Er suchte einen von den vornehmsten zu ersetzen, indem er den Hofmeister einer Priesterwitwe ersuchte, mich einen besondern Unterricht mit den Söhnen dieser gütigen Frau genießen zu lassen. Anstatt mich an der lauteren Milch des Evangelii zu begnügen, verfiel ich in einen andern Abweg meiner Neugierde und kindischen Vorwitzes, in allen Ketzereien und Irrtümern bewandert zu werden. So sucht der Feind unserer Seelen und alles Guten den göttlichen Weizen durch sein Unkraut zu ersticken. Ich füllte meinen Kopf mit den Namen und abgeschmackten Streitigkeiten aller Toren an, die Ketzer gewesen waren oder Ketzer gemacht hatten, um sich unterscheiden zu können. Was für Mühe muss es Gott und seinem Geist geben, um den Schutt bloß aus dem Wege zu räumen, worunter der Satan unsre Seelen vergräbt, wenn wir mit ihm an selbigen zu bauen gedenken.

10

In eben dem Hause hatte ich nebst meinem Bruder das Unglück, von einem Kinde angesteckt zu werden, das mit einem giftigen Ausschlage geboren worden war, und von dem es nicht geheilt werden konnte, sondern jung starb. Die besetzten Hüte, die wir hatten, dienten unschuldigerweise dem Kinde zur Versuchung, sich mit selbigen zu bedecken. Wir haben beide sehr lange und zu großer Beschwerde und Kummer unserer seligen Mutter daran ausgehalten. Gott ist so gnädig gewesen und hat uns beide davon geheilt. Ich wiederhole ihm meinen Dank. Er wolle nicht aufhören, mein Arzt zu sein, solange ich auf dieser ansteckenden Erde, das Gift der Sünde im Blut und Herzen, und unter dem unschlachtigen Geschlecht von Sündern wallen soll. Ich trage ein Zeichen von meiner Genesung an diesem Aussatz an meinem kahlen Haupte, wo die Haare nach dem Rand, worin der Hut dasselbe einschließt, völlig ausgefallen sind. Sie schwuren aus, und die Wurzeln derselben waren voll Eiters, der Gestank unerträglich, den meine selige Mutter nicht verdrießen ließ, unsertwegen mit Tränen öfters über unsere Schmerzen und Unart auszustehen. Meine ausgefallnen Haare sind gottlob das einzige, was ich bisher an meinem Leibe verloren habe, und dies die einzige Krankheit, deren Dauer und Wichtigkeit in meinem bisherigen Leben Aufmerksamkeit verdient. Während derselben habe ich große Anfälle von Schwindel und Schwachheit des Hauptes gelitten, von denen ich gottlob in der Fremde fast nichts mehr empfunden.

11

Vor dieser Heimsuchung hatte mein Vater einen Bösewicht zum Lehrjungen in Diensten, der mich lehrte, es an meinem eignen Leibe zu werden. Er besuchte nachher unser Haus und gab vor, in Schweden niedergelassen zu sein. Gott, vergib ihm und mir! Die traurige Erfahrung an meinem eigenen Beispiel hat dieses Gute in mir gewirkt, so streng und behutsam als möglich auf allen Umgang der Kinder mit Bedienten und Gesinde zu sein. Ich habe dies, soviel ich gekonnt, zu meinem Augenmerk in meinen beiden Hofmeisterschaften zu machen gesucht. Ich erkenne jetzt, dass es eine Sittenlehre und Kasuistik des Satans ist, die uns einige Sünden klein macht in Vergleichung anderer. Meine Vernunft fand immer die Hurerei als ein sehr menschlich und vergeblich Verbrechen. Ich hatte Josephs Geschichte ohne Nutzen gelesen. Ja, ich hielt selbige für ein Mittel der Tugend, um dem Unglück einer ungleichen Ehe oder dem Meineide des Ehebruchs zu entgehen. So wenig vernimmt der Mensch von dem, das des Geistes Gottes ist. Ich bin in Riga dem Ehebruch sehr nahe gewesen, ich habe Versuchungen des Fleisches und Blutes sowohl als des Witzes und Herzens gehabt, und Gott hat mich gnädig bisher selbst von den Schlingen der Huren, ich möchte sagen durch ein Wunder, behütet. Er wolle mir Gnade geben, mich vor aller Befleckung des Geistes und Leibes zu hüten, und dieses irdische Gefäß, das er durch seine Einwohnung heiligen wolle, zum Gliede Christi machen und von aller Unreinigkeit lauter und unversehrt erhalten!

12

Ehe ich auf die letzte Periode meiner Erziehung komme, will ich noch eine Betrachtung über solche kleine Winkel- und Nebenschulen machen, für die manche so eingenommen sind, dass sie selbige öffentlichen vorziehen. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich glaube, dass eine mittlere Anzahl von Kindern ungleich mehr Mühe und Fleiß erfordert als eine größere, und eine kleine Anzahl für die Sitten der Kinder gefährlich ist, weil ihre Vertraulichkeit leichter statthat und zu dem Missbrauche derselben daher mehr Gelegenheit, wie auch zu dem Neide und Hasse, der unter vielen nicht so schädlich und mehr zur Eifersucht und Aufmunterung dient.

13

Mein Vater, mein redlicher Vater, nahm mich mit viel Sorge aus dieser Zucht, wo ihm zu gute Hoffnungen und vielleicht größere von meinem Fortgang im Lernen gemacht waren, als selbiger verdiente. Er entschloss sich endlich, mich in eine öffentliche Schule zu tun, und er tat eine glückliche Wahl an der Kneiphöfschen. Ich hatte Schüler, die unter mir gewesen waren, akademische Freiheit erhalten sehn, und musste mir jetzt gefallen lassen, auf der zweiten Klasse als der sechste dem Range nach vorlieb zu nehmen, wo ich lateinische Autores zu erklären bekam, die mir sehr geläufig waren, dass ich also keine Zubereitung nötig hatte, um andere zu übertreffen. Es war kurz vor der öffentlichen Prüfungszeit, dass ich zur Schule kam. Dies war Ursache, dass der Rektor derselben mit vieler Klugheit mich unter meinen Ansprüchen setzte. Ich hatte zugleich hier Gelegenheit, einen Anfang in der Historie, Geographie und dem Stil zu machen. Der Rektor dieser Schule war ein verdienter, gelehrter und frommer Mann, Dr. Salthenius, ein Mann von seltenen und außerordentlichen Gaben, der gleiche Treue und Weisheit und Redlichkeit in seinem Amte besaß. Nächst ihm habe ich zwei Lehrern vornehmlich viel zu danken, die beide jetzt Prediger, der eine bei der Altstadt, der andere auf dem Lande, geschickte, liebreiche und fromme Zwillinge, die beide in ihrer Art Muster waren, Buchholtz und Herold.

14

Bei der ersten Versetzung nach gehaltener Schulmusterung kam ich als der Erste auf die erste Klasse; eine Unterscheidung, die mir von meinen Mitschülern ohne Neid gegönnt wurde. Ich musste für diese kleine Freude wegen meines Ausschlages eine gute Zeit aus der Schule bleiben. Hier bekam ich die ersten Begriffe von Philosophie und Mathematik, von Theologie und Hebräischem. Hier wurde mir ein neues Feld zu Ausschweifungen offen, und mein Gehirn wurde zu einer Jahrmarktsbude von ganz neuen Waren. Ich brachte diesen Wirbel mit auf die hohe Schule, wohin er eigentlich gehörte, und wo ich als ein akademischer Bürger den 30. März 1746 eingeschrieben wurde.

15

Ich bin ein Schüler des berühmten Knutzen in allen Teilen der Philosophie, der Mathematik und Privatvorlesungen über die Algebra gewesen, wie auch ein Mitglied einer physiko-theologischen Gesellschaft, die unter ihm aufgerichtet wurde, aber nicht zustande kam. Mit wie wenig Treue, mit wie wenig Ordnung und mit wie wenig Nutzen sind alle diese Gelegenheiten, zu lernen und nutzbar zu werden, von mir abgewartet worden – wie wenig habe ich daran gedacht, dass ich den sauren Schweiß meines Vaters durchbrächte und die süße Hoffnung vernichtete, Früchte von dem zu sehen, was er mit so viel Lust und Verleugnung seiner eignen Notdurft anwendete. Höre, Gott, und vergib! – Ersetze ihm das, worum ihn sein eigen Kind gebracht hat – und rechne es mir nicht zu oder lass mich die Strafe, die ich dafür verdient, nicht zu schwer empfinden. Begnüge dich an der Reue und dem Schmerz, womit ich erkenne – und lass es nicht zu spät erkannt sein.

16

Die Erinnerung eines nicht so berühmten Lehrers ist mir angenehmer. Gott ließ ihn in unterdrückten, kümmerlichen und dunklen Umständen leben; er war eines bessern Schicksals wert. Er besaß Eigenschaften, die die Welt nicht achtet und daher auch nicht belohnt. Sein Ende war wie sein Leben, unvermerkt, ich zweifle nicht, dass es selig ist. Sein Name war Rappolt; ein Mann, der eine besondere Scharfsinnigkeit besaß, natürliche Dinge zu beurteilen, mit der Andacht und Einfalt und Bescheidenheit eines christlichen Weltweisen, und eine ungemeine Stärke, den Geist der römischen Schriftsteller und ihrer Sprache nachzuahmen. Lass, Gott, deinen Segen und den Segen ihres Vaters auf seinen Söhnen ruhen! 

17

Unterdessen ich in den Vorhöfen der Wissenschaften umschweifte, verlor ich den Beruf, den ich geglaubt hatte für die Gottesgelehrtheit gehabt zu haben. Ich fand ein Hindernis in meiner Zunge, in meinem schwachen Gedächtnis und viele Heuchelhindernisse in meiner Denkungsart, den verdorbenen Sitten des geistlichen Standes und der Wichtigkeit, worin ich die Pflichten desselben setze. Ich hatte freilich recht, wenn ich mich selbst als den Geber und Urheber desjenigen, was dazu gehört, betrachtete. Ich vergaß die Quelle alles Guten, von der ich alles erwarten und mir versprechen konnte, was mir fehlte, und mit dessen Beistand ich alles hätte überwinden können, was mir im Wege lag.

18

Ich genoss als Student einer vorzüglichen Liebe von meinem Paten und Beichtvater, in dessen Hause ich wöchentlich speiste, auch von seinen Söhnen, insbesondere dem Gottesgelehrten, der durch seine Schriften wie sein Vater sich berühmt gemacht, wo ich gleichfalls die Woche einmal speiste; dass ich also zwei Freitische hatte, um Gelegenheit zum Lernen zu haben, und die Schüchternheit, die ich spät behalten habe und die mir noch anhängt, mir abzugewöhnen. Ich hätte unstreitig alle diese Bequemlichkeiten besser anwenden können, als ich getan, und ich habe den Schein der Undankbarkeit mir für einige zugezogen. 

19 

Obgedachter mein Pate machte mir unterschiedene ansehnliche Geschenke von Büchern, er gab mir gleichfalls den Zubereitungsunterricht zum Christentum und segnete mich unter einer großen Anzahl anderer den Sonntag nach Ostern, wo ich nicht irre 1743 oder 44, ein. Ich erinnere mich, dass er auf den Altar kam mit dem siebenten Vers des Liedes: Ach Herr! wie ist dein Zorn so groß usw.

 

Dein‘ Schäflein tust du weiden wohl, 

Im Busen du sie trägest, 

Dein‘ Arm hast du der Lämmer voll, 

Des Schwachen treulich pflegest. 

Niemand reißt dir eins aus der Hand, 

Dein Blut hast du daran gewandt,

Uns teuer erkauft zum Leben.

Ja, weil du uns gezeichnet hast, 

Nicht zu schwer machst des Kreuzes Last, 

So sei dir alles ergeben!

 

20 

Ich komme auf die Folge meines Lebens zurück. Was mich vom Geschmack der Theologie und aller ernsthaften Wissenschaften entfernte, war eine neue Neigung, die in mir aufgegangen war, zu Altertümern, Kritik – hierauf zu den sogenannten schönen und zierlichen Wissenschaften, Poesie, Romanen, Philologie, den französischen Schriftstellern und ihrer Gabe, zu dichten, zu malen, schildern, der Einbildungskraft zu gefallen usw. Gott wolle mir den Missbrauch meiner natürlichen Kräfte, die sich vielleicht unter einer gehörigen Anwendung derselben auf eine vorzügliche Art der Welt sowohl als mir selbst hätten hervortun und nützlich machen können, ja, die ich zum Dienst seines Hauses und seines Werks auf Erden gewidmet hatte, die ich so verstümmelt und verdorben habe – den Aufwand der edeln Zeit, die Unkosten meines Vaters, die Hoffnung, einen Stab seines Alters an seinen Kindern zu haben – mein gnädiger Gott, höre und vergib! Verbessere, was ich verdorben habe, wenn es nicht zu spät ist, und mache das Nachjahr, das du mir noch gönnen willst, desto gesegneter. Lass alle meine Fehler zu meinem Besten gereichen; lass sie mir dienen, endlich einmal klug zu werden und andre mit desto mehr Nachdruck und Eifer vor den Klippen zu warnen, an denen ich selbst gescheitert!

21 

Ich bekannte mich also zum Schein zur Rechtsgelehrsamkeit. Meine Torheit ließ mich immer eine Art von Großmut und Erhabenheit sehen, nicht für Brot zu studieren, sondern nach Neigung, zum Zeitvertreib und aus Liebe zu den Wissenschaften selbst, dass es besser wäre, ein Märtyrer, denn ein Taglöhner und Mietling der Musen zu sein. Was für Unsinn lässt sich in runden und vollautenden Worten ausdrücken! Ich hörte also über die Institutionen und Pandekten ohne Zubereitung und Wiederholung des Gehörten, ohne Ernst, ohne Treue, ein Jurist zu werden; so wie ich keine gehabt noch gewiesen hatte, um ein Theolog zu sein.

22 

Unterdessen hatte mir immer im Sinn gelegen, eine Hofmeisterstelle anzunehmen, um Gelegenheit zu finden und in der Welt meine Freiheit zu versuchen. Das Haus meiner lieben Eltern schien mir einen Zwang in einigen Stücken zu tun, und ich wollte Meister meines Geldes sein, worin ich zu meinem Besten teils ein wenig zu sparsam gehalten wurde, teils aber zu spät gelernt habe, selbiges, als ich mein eigenes hatte, besser zu Rate zu halten. Vielleicht war auch kein göttlicher Segen bei meiner Einnahme, der das wenige überflüssig macht. Unordnung, der allgemeine Grundfehler meiner Gemütsart, eine falsche Großmut, eine zu blinde Liebe und Wohlgefallen für anderer Urteile und eine Sorglosigkeit, die aus Unerfahrenheit und Unwissenheit zum Teil entsprang, waren alle schuld.

23 

Der Zufall diente mir unvermutet in meinen Absichten. Es kam ein Prediger aus Livland (Pastor Blank), der mit unter die Hauslehrmeister gehörte und uns auf dem Klavier unterrichtet hatte, um seine Eltern und seine Freunde in Preußen zu besuchen. Er kam in unser Haus. Ich glaubte eine ungemeine Veränderung in seinem Betragen und Aufführung anzutreffen, da ich ohnedies ein sehr günstig Vorurteil für Livland und die Lebensart der Livländer wegen einiger Freunde, die ich unter denselben hatte, hegte. Er suchte unterschiedene ledige Stellen in Livland zu besetzen. Unter andern war eine auf dem Gute, woselbst er Prediger war. Die Bedingungen waren nicht vorteilhaft eben. Ein einziger Sohn, ein sehr reiches Haus, seine Nachbarschaft und andere Dinge mehr bewogen mich, diese anzunehmen. Ich entschloss mich, ungeachtet der Vorstellungen meiner Eltern und der bösen Prophezeiungen, die man mir von der Frau machte, zu der ich kommen sollte.

24

Ich verließ meiner Eltern Haus im November 1752, unterdessen meine selige Mutter vor Wehmut schmelzte, mein Vater mich selbst bis ans Tor begleitete, und ein alter Schwabe, ein ehrlicher, aufgeweckter Kopf, Wagner, unser Nachbar und Buchhalter eines Buchladens, eine Meile mit mir fuhr und morgens zu Fuß wieder nach der Stadt ging. Ich hatte das Glück, einen guten Freund, Gericke, zu meinem Reisegefährten zu haben, dessen Halbbruder mir viele freundschaftliche Dienste in Kurland erwiesen, so wie ich in beider Eltern Hause in Riga besondere Güte und Liebe genossen.

25

Ungeachtet der späten Jahreszeit war die Witterung und Weg außerordentlich gut, unsre Überfahrt über das Haff sehr glücklich, und die Gesellschaft eines Kaufdieners, der in Riga sich zu meiner Zeit verheiratete und sein eignes anfing, sehr aufmunternd und angenehm. Außerdem hatten wir einen armenischen Kaufmann, der ohne eine einzige Sprache zu verstehen alle Länder durchreiste, große Lust zu schwatzen hatte, durch seine Zeichen und Figuren und unsre Missdeutung derselben sehr aufmunterte, eine Mäßigkeit in feiner Lebensart führte, die erstaunend war, und dabei eine ebenso bewundernswürdige Munterkeit und Frische des Leibes und Geistes besaß, ungeachtet er nicht mehr schien jung zu sein.

26 

Ich kehrte in Riga bei einem Landsmanne meines Vaters ein, der sehr lange in unserm Hause auf die vertrauteste Art aus und ein gegangen war. Hierauf nahm ich meine Reise nach dem Gute, wo die Baronin B… (Budberg) lebte, zwölf Meilen von Riga, Kegeln. Ich langte an einem Sonnabend aus Papendorf, dem Pastorat dieses Gutes, an, sah sonntags darauf die Familie daselbst, wo ich zu Haus gehören sollte. Ein Kind von neun Jahren, das sehr schüchtern, steif und zärtlich aussah. Außer ihm hatte ich seine jüngere Schwester und eine Waise, die von der Baronin erzogen ward. Der Anfang, den ich in diesem neuen Beruf machte, war gewiss schwer. Ich hatte mich selbst, meinen Unmündigen und eine unschlachtige, rohe und unwissende Mutter zu ziehen. Ich ging wie ein mutig Ross im Pflug mit vielem Eifer, mit redlichen Absichten, mit weniger Klugheit und mit zu vielem Vertrauen auf mich selbst und Zuversicht auf menschliche Torheiten bei dem Guten, das ich tat oder tun wollte. Wir sind von Natur geneigt, unsere Bemühungen zu überschätzen, die Wirkungen davon als eine unumgängliche Folge zu erwarten, anderer Pflichten nach unsern Vorurteilen und Neigungen abzuwägen und zu berechnen. Der Ackersmann kann sich keine hundertfältigen Früchte von der sorgfältigen Wirtschaftskunst allein versprechen. Der Boden, die Witterung, die Eigenschaft des Samens, ein kleines Ungeziefer, Dinge, die unsrer Aufmerksamkeit entgehen, haben ihren Anteil, und über das alles das Gedeihen der göttlichen Vorsehung und Regierung. Meine Handlungen sollten von Menschen erkannt, bisweilen bewundert werden, ja sie sollten zu ihrer Beschämung gereichen. Dies sind alles unlautere Triebe, die den Gebrauch unsrer Kräfte verwirren und zuschanden machen. Gott erwies mir unendlich viel Gnade; er gab mir mehr Geduld, als ich fähig war, mehr Klugheit, mehr Glück, das ich alles auf meine eigne Rechnung vielleicht schrieb und vielleicht eine Wirkung des Gebets meiner frommen Eltern und eine Nachsicht seiner göttlichen Langmut und Gnade war. Meine ungesellige oder wunderliche Lebensart, die teils Schein, teils falsche Klugheit, teils eine Folge einer innern Unruhe war, an der ich sehr lange in meinem Leben siech gewesen; eine Unzufriedenheit und Unvermögenheit, mich selbst zu ertragen, eine Eitelkeit, sich selbige zum Rätsel zu machen – verdarben viel und machten mich anstößig. Ich schrieb zwei Briefe an die Baronin über die Erziehung ihres Kindes, die ihr das Gewissen aufwecken sollten. Man verstand selbige nicht, und ihre Aufnahme goss Öl ins Feuer. Ich wurde also unvermutet abgeschafft, ohne ein halbes Jahr im Hause gewesen zu sein, mit einigen Demütigungen meines Stolzes, für die ich durch die Zärtlichkeit des Kindes und die Schmeichelei, unschuldig zugleich oder mit Bösem für Gutes vergolten zu sein, einige Genugtuung hatte. Ich wickelte mich, soweit ich konnte, in den Mantel der Religion und Tugend ein, um meine Blöße damit zu decken, schnaubte aber vor Wut, mich zu rächen und mich zu rechtfertigen. Dies war eine Torheit, die ich selbst mit der Zeit einsah und die daher verrauchte.

27

Ich brachte hierauf einige Monate in Riga zu, verzehrte das wenige Geld, das ich empfangen hatte, und war überdies auf Rechnung meines Wirts, der eben derjenige Landsmann meines Vaters war, wo ich bei meiner Ankunft eingekehrt hatte. Diese Zeit wurde von mir zwischen einem wüsten, misanthropischen Fleiß und Ausschweifungen der Lüste und des Müßigganges geteilt. Mein Geld schmolz bis auf den letzten Dukaten, den ich die Torheit hatte für einige unnütze Bücher anzubrechen. Ich hatte teils sorglos gelebt, teils vergebliche Versuche gemacht, eine neue Stelle zu bekommen. Gott erbarmte sich meiner und bediente sich des Schwagers selbst dieser Baronin, um mir eine sehr vorteilhafte Gelegenheit und Tür in Kurland aufzutun, da ich am Rand der Dürftigkeit war und schon viele schlaflose Nächte um selbige gehabt hatte. Ich fühlte meine Verlegenheit viel stärker, weil ich keinen Freund, mich zu entdecken, hatte, und das Haus, wo ich war, meiner völlig überdrüssig geworden. Ich machte ihnen aus dieser Undankbarkeit gegen meiner Eltern gutes Herz ein großes Verbrechen. Es ist wahr, dass diese Leute sehr eigennützig und ruhmrätig mit ihren guten Werken waren. Dies muss uns aber das Gute nicht schmälern, was wir von der Hand des Nächsten genießen. Unsre Eitelkeit lässt uns zu viel über die Bewegungsgründe und die Art, womit man uns verbindet, klügeln, damit wir desto weniger Ursache haben, erkenntlich zu sein. Ich habe sie mit gleicher Münze bezahlt; und gestehe dies mit Scham und Reue; wiewohl ohne meines Wissens vorsätzlich so gehandelt zu haben, sondern teils aus Unwissenheit, teils aus Not.

28

Ich kam also 1753 in der schönsten Jahreszeit nach Kurland zu dem General W... (Witten), der eine geborne Gräfin von L... zur Gemahlin und zwei Söhne hatte. Ich folgte hier zwei Hofmeistern, die zugleich gearbeitet hatten, davon der eine ein Windbeutel und roher Mensch und der andere ein seichter Kopf gewesen war. Ich fand hier zwei Kinder von einer sehr verschiedenen Gemütsart, als ich an meinem Baron gehabt hatte, wo mehr Zucht, Ansehn und Schärfe nötig und mehr zu hoffen war, weil der älteste große Fähigkeit besaß, mit dessen Neigungen ich aber niemals so zufrieden habe sein können, als meines ersten Zöglings mich gemacht haben. Gott erzeigte mir unsäglich viel Gnade gleichfalls in diesem Hause bei Kindern und Eltern, ja selbst bei allen Hausgenossen. Ich schrieb selbige gleichfalls zu viel auf meine Rechnung und machte zu große Gegenansprüche für meine Verdienste. Ich wurde unzufrieden, ungeduldig, heftig, aufs Äußerste gebracht – und hatte viele Mühe, ein Jahr auszuhalten, wo ich mit vielem Gram, Verdruss, Unwillen, zum Teil Unglimpf – wiederum nach Riga ging.

29

Außer der außerordentlichen Gunst, die ich in diesem Hause von Eltern und Kindern, meinen Abschied ausgenommen, genossen habe, erwarb ich mir die Freundschaft des Herrn von Oven, eines Westfälers, eines sehr verdienten Mannes, der ein seltenes Herz mit einem vorzüglichen Genie verband, und in dessen liebreichem, nützlichem und herzlichem Umgang ich öfters außerordentlich glücklich mich geschätzt habe. Der liebe Gott vergelte ihm und regiere ihn und mache ihn vollkommen glücklich und ruhig. Wir hatten einige Ähnlichkeit in unsern guten Absichten und Ausschweifungen derselben, in unsern Wünschen und in dem Mangel ihrer Erfüllung.

30

Nächstdem ist ein geborner Türke ein brüderlich gesinnter Freund gegen mich gewesen, gegen den ich leider sehr unerkenntlich sein muss. Gott gebe mir Gnade, meinem lieben Bassa gerecht zu werden, und vergelte ihm alles Gute, was er auf alle mögliche Art mit einem sehr redlichen, treuen und zärtlichen Herzen an mir getan hat.

31

Ebenso manche süße Stunden hat mir der Umgang des Herrn Parisius, eines Regiments-Chirurgus bei der russischen Armee, und des gelehrten und gefälligen Magisters Haase gebracht, der bei ungleich größern Verdiensten, ungleich geringern Vorteilen, ungleich höhern und allgemeinern Gaben, zufriedner und demütiger zu leben, durch sein Beispiel leider umsonst lehrte.

32

Ich erinnere mich hier besonders mit der Wehmut eines freundschaftlichen Herzens des Dr. Lindner in Mitau, dessen Umgang und beständige Vertraulichkeit ich mit Schmeichelei anführe und sein Schicksal um desto mehr bedaure, weil ich ihm jetzt hierin nur gar zu ähnlich bin. Der Höchste wolle ihm sein Kreuz ebenso segnen, als er meines gesegnet hat, um mich zur Erkenntnis des einzigen Notwendigen und meiner selbst zu bringen. Er tröste ihn mit eben dem Trost, womit ich getröstet worden bin, und schenke ihm eben den Ernst zur Besserung seiner selbst, mit dem ich Gottes Geist jetzt anrufe, und seine Führung als das einzige Mittel, Sünde zu meiden und aus den Irrwegen, worein sie uns zuletzt bringt, wieder herauszuhelfen! Erhöre mich, Gott, um deines Sohnes und deines heiligen Namens willen. Amen! 

33

Ich ging also 1755 im besten Sommer wieder nach Riga zurück, voller Betrachtung und Nachdenken über meine eigene Verwirrung, zugleich aber voller Hoffnung und Zufriedenheit, die mir die Gegenwart zweier Freunde versprach. Der erste davon war mein Berens, den Gott als ein besonder Werkzeug gebraucht, dessen Absicht und Ende ich noch nicht absehen kann, wiewohl ich voller Vertrauen und Zuversicht lebe, dass seine weise Vorsehung, die Menschen braucht, um Knoten in unserm Leben zu machen, selbige auch zu seiner Ehre und zu unserm Besten aufzulösen weiß. Dieser außerordentliche Freund war einer meiner Lieblinge in Königsberg gewesen und war von da auf Reisen gegangen, wo er mit großem Nutzen und augenscheinlichen Vorzügen wieder zurückkam. Gott weiß, wodurch er für mich so sehr eingenommen worden. Der die Herzen kennt und prüft und zu brauchen weiß, hat seine weisen Absichten gehabt, uns beide durch einander in Versuchung zu führen. Ich glaube an Gottes Vorsehung in diesem Spiel als ein Christ, dem die Vorsehung Rechenschaft von jedem seiner Haare auf dem Haupt versprochen. Dieser Freund hatte mich so wenig vergessen und seine Freundschaft so wenig gegen mich geändert, dass er mich aufzusuchen eilte, sobald es ihm möglich war, und unvermutet deswegen nach Mitau kam, ja in eben der Nacht einen Expressen abschickte, der das ganze Haus in Grünhof in Aufruhr setzte. Ich fuhr aus dem Bett, um mich in Kleider zu werfen und ihm entgegenzueilen, und fand ihn ruhig schlafend. Sein Willkommen war so außerordentlich zärtlich und freundschaftlich, dass ich in Verlegenheit geriet, ihm in meiner Antwort gleichzukommen oder ihn zu erreichen. Er bezauberte mich mit Aussichten, Anschlägen, Begriffen von der Welt, neuen Wissenschaften, dem herrschenden Geschmack des jetzigen Jahrhunderts usw. und hundert sinnreichen Ausschweifungen, die ein menschenfreundlich Herz und eine fruchtbare Einbildungskraft hervorbringen kann.

34 

Der zweite Freund, den ich zu meinem Wirt gewählt hatte, war mein alter Lindner, mit dem ich von dem ersten Jahre der hohen Schule an in einer brüderlichen Vertraulichkeit gelebt hatte, und der jetzt Rektor in Riga geworden war. Ich war der Lepidus in diesem Triumvirate; die Freundschaft aber wallte in uns dreien gleich stark. Wir brannten gegeneinander, uns zu sehn und zu genießen.

35 

Wieviel Schlacken sind in den besten unserer natürlichen und künstlichen Triebe! Wie verdorben muss der Boden sein, der die beste Weizensaat zu Trespe macht und verwandelt! Wie leicht ist es der Natur selbst, auszuarten! –

36

Ich kam eben zu einer Zeit, wo man in Riga das Landleben auf den Höfchen genießt, und hatte das Glück, eine Kur des Pyrmonter Brunnens mit der Berensschen Familie zu gebrauchen. Meine Gesundheit hatte teils durch die Schularbeit, durch einen unordentlichen Fleiß in Nebendingen und durch den Tumult von Affekten, in dem mein Gemüt, wie ein Nachen auf einer stürmischen See, beständig hin und her geworfen ward, sehr gelitten; dass mir also diese wohltätige Gelegenheit sehr zustatten kam. Ich konnte, ungeachtet alles Anlasses, zufrieden zu sein, mich der Freude in der Gesellschaft der edelsten, muntersten, gutherzigsten Menschen beides Geschlechts doch nicht überlassen. Mein Gehirn sah einen Nebel von Begriffen um sich, die es nicht unterscheiden konnte; mein Herz fühlte Bewegungen, die ich nicht zu erklären wusste; nichts als Misstrauen gegen mich selbst und andere, nichts als Qual, wie ich mich ihnen nähern oder entdecken sollte; und in diesem Zustande habe ich mich am meisten in demjenigen Hause befunden, wo ich der größte Bewunderer, Verehrer und Freund aller derjenigen war, die zu selbigem gehörten. Wie ist es möglich, dass man mich hat für einen klugen, geschweige brauchbaren Menschen halten können, wo es mir niemals möglich gewesen, mich, was ich bin und sein kann, zu entdecken. Dies ist ein Geheimnis, das ich niemals habe verstehn, noch aufklären können. Ich habe also Ursache, alle diese Dinge teils als Ahnungen anzusehn, teils als Wirkungen der Hand Gottes, die über mir schwer gewesen, dass ich mich selbst unter allem dem Guten, was mir von Menschen geschah, nicht erkennen sollte. Ich sehe alle meine Unruhe, unter der ich gelebt, als eine Folge davon an, und ich tröste mich, dass Gott diese Rute, unter der ich geseufzt, ohne sie zu erkennen, jetzt von sich legen und mir seinen gnädigen Willen entdecken wird, dem ich mich ganz überlassen. Ich bin eine unzeitige Frucht in allem meinem Tun und Handlungen, in allen meinen Unternehmungen und Anschlägen gewesen, weil sie ohne Gott gewagt, angefangen und ein Loch bekommen, anstatt ein Ende zu nehmen. Ich habe mich endlich wund und blutig gegen den Stachel gestoßen, den ich nicht habe erkennen wollen, und bitte nichts mehr, als dass der gnädige Gott, der seiner Verheißung nach dem bußfertigen und gläubigen Sünder vergibt und alles Vergangene vergisst, mein künftiges Leben neu und heilig sein lassen wolle.

37 

Ich lebte also in Riga und genoss viele zufriedene Stunden und viele Gefälligkeiten in meines Freundes Hause, wo ich als ein Bruder, ja beinahe als ein älterer Bruder angesehen war. Der Schulstaub war mir verhasst geworden, und ich wollte und sollte mich dem nützlichen Geschmack der Zeit bequemen, Handels- und ökonomische und politische Dinge treiben. Diese Wissenschaften gefielen mir wegen der Neuigkeit und dem Einfluss in das menschliche Leben. Ich hätte selbige zu Nebendingen mit mehr Füglichkeit wählen können als metaphysische oder romanhafte Systeme. Aber es war unüberlegt, ein neu Gebäude anzufangen, um mich mit einmal aus der Zelle in Geschäfte zu versetzen, die Geläufigkeit und Ausübung und Anführung oder vielmehr Handleitung erfordern.

38

Während dieser Zeit hatte ich das Glück, meinen ersten Zögling, den jungen Baron B..., in meines Freundes Hause zu sehn. Ich war durch meinen Nachfolger gerächt worden. Aus gutem Herzen nahm ich mich seiner an und hätte gern einen Handlanger an seinem Unterricht abgegeben. Es schien aber, dass dies eher Anlass gab, eine Kaltsinnigkeit in unsrer Freundschaft, und dies einen sehr schlimmen Stein des Anstoßes in des Jünglings Gemüt zu machen. Mein Freund schien meine Aufmerksamkeit für den jungen Baron als Eingriffe oder Vorwürfe anzusehn, und der letztere bezahlte mich mit Hass und Verachtung. Wir waren vielleicht alle drei in einem Missverständnisse, das aber allen dreien nachteilig wurde und dem zum großen Anstoß geriet, dem wir am meisten zu nutzen oder zu gefallen suchten.

39

Ich wurde mit der Zeit schwermütiger, weil ich keinen Weg vor mir sah, mir auf eine ehrliche Art fortzuhelfen und nach Wunsch und Neigung gebraucht zu werden. Gott nahm sich wieder meiner an auf eine sehr außerordentliche und augenscheinliche Art. Ich wurde in eben dasselbe Haus nach Kurland auf die dringendste Art zurückgerufen, aus dem ich mit einiger Übereilung nachteiliger Reden ausgegangen war, und man erbot sich, alle meine Forderungen gefallen zu lassen. Not, Selbstgefälligkeit und zum Teil Vernunft und Klugheit rieten mir, diesen Ruf zu hören. Ich kam also gegen das Ende desselben Jahres nach Kurland und Grünhof sehr willkommen zurück.

40

Mit dem Anfang des 1756. Jahres erhielt ich von meinem lieben Vater die betrübte Nachricht von meiner seligen Mutter Unpässlichkeit und nicht lange darauf den zärtlichen Befehl, nach Hause zu kommen, falls ich sie noch sehen wollte, und ihre Wünsche hierin zu erfüllen. Dies setzte mich in neue Unruhe; die Vorstellung, eine liebreiche Mutter zu verlieren, und eine Überlegung über meine Verfassung und den wenigen Trost, den sie haben würde, mich wiederzusehn. Ich hatte ein reichlich Gehalt von 150 Albertustalern, und keinen Rock dafür mir angeschafft, ja mich sogar in Schulden gesetzt, wozu eine törichte, gramvolle Reise nach Riga Anlass gegeben hatte, meinen Freund zu sehen, den ich unpässlich fand, und dem ich mehr im Wege und Vorwurf als zur Erleichterung war. Dieses Geld hatte mir mein ehrlicher Bassa vorgeschossen, bei dem ich nachgehends noch tiefer eingeriet, ohne dass ich imstande war, ihn vor meiner letzten Abreise zu bezahlen, und ihm noch nicht habe Genüge tun können, woran ich ohne Wehmut und Schmerzen nicht gedenken kann.

41

Mein Herz und meine Pflicht riefen mich gleichwohl nach Hause. Ich gab die Nachricht davon meinen Freunden nach Riga, die sich hierauf erklärten und mich in ihre Dienste, Geschäfte und Familie aufnahmen. Ich fand vielen Widerstand, dies einzugehen, unterdessen war es ein Trost, worin ich Gottes Vorsehung zu finden glaubte und mich sowohl selbst als meine Eltern damit zu schmeicheln meinte. Ich machte also den letztern auf meine Ankunft mit Johannis Hoffnung, ging mit einem schweren und zweifelhaften Herzen die Bedingungen und ein Verbindnis mit der Berensschen Familie ein, auf deren Unkosten ich eine Reise tun sollte, um mich aufzumuntern und mit mehr Ansehen und Geschick in ihr Haus zurückzukommen.

42

Gott gab außerordentlichen Segen, dass ich von dem Hause aus Kurland mit Scheingründen und ohne Aufrichtigkeit losgelassen wurde unter dem Versprechen, wieder zu kommen, das eine offenbare Lüge und wider alle meine Absichten und Neigungen war. Ich langte den vierten Tag am Sonntage frühe mit vorzüglichem Glück in Trutenau an und wurde von meinem Vetter Zöpfel und meinem lieben Bruder, der in Ohnmacht fiel, mich wiederzusehn, in einer Kutsche eingeholt. Gott, mein liebreicher Gott, hatte meine selige Mutter über 20 Wochen auf mich warten lassen, ehe er sie zu sich nahm. Mein alter Vater lauerte weinend am Fenster auf mich und machte mir einen betrübten Willkommen. Ich sah meine Mutter – meine selige Mutter –, die Gott durch so viel wiederholte Wunder vom Siech- und Todbett hatte aufstehen lassen, ohne jemals mit rechtem Ernst von ihren Kindern, wenigstens von mir, darum gebeten noch gedankt worden zu sein. Sie empfing mich mit mehr Gleichgültigkeit, als ich dachte, weil sie den Tag vorher eine schleunige Veränderung erlitten und Gott ihre Schritte zum Grabe verdoppelte. Sie gestand, dass sie nichts mehr auf der Welt erfreuen könnte – sie bestrafte mich mit den ersten Augenblicken wegen des Tones, mit dem sie mich reden hörte, der ihr verändert und nicht männlicher geworden zu sein schien. Sie war ein Gerippe, und ihre Züge durch ihr schmerzhaftes langwieriges Lager gänzlich verstellt, dass ich sie ohne ein natürliches Mitleiden nicht ansehen konnte. Ich gestehe es, dass mein Herz weit unter der Zärtlichkeit war, die ich ihr schuldig geblieben, und dass ich imstande war, mich ungeachtet der nahen Aussicht, sie zu verlieren, auf der Welt andern Zerstreuungen zu überlassen. Unterdessen hatte ich das Glück, dass sie meine Handreichung vor allen andern sich gefallen ließ, dass sie mich am liebsten rief, um sie zu heben und im Bette zurechtzulegen. Der gnädige Gott forderte sie nach einigen Tagen ab, da ich kaum eine Woche ein Zeuge und Teilnehmer ihres Kreuzes und der Last meines alten, redlichen Vaters gewesen war. Ich habe sie sterben gesehen – unter vielen Bewegungen und Betrachtungen über den Tod – und den Tod eines Christen. Der Höchste gab ihr in ihrer Todespein ein säuberlich Gebärde, ihr Herz wurde fein sanft gebrochen, und sie verging wie ein Licht ohn übrig Weh auf dein unschuldig Blut, das du für sie vergossen. Ich wohnte ihrer Beerdigung mit unsäglicher Wehmut und Betrübnis bei, worin mein Herz zu zerschmelzen schien; wurde aber leider durch die Welt und durch die Grillen meines Glücks bald wieder getröstet.

43

Hierauf machte ich mich von meinen Verbindlichkeiten in Kurland gänzlich los und erhielt Geld und Vollmacht zu meiner Reise, die ich nach langer Verzögerung und mit halber Schwermut und Zufriedenheit einer falschen Hoffnung antrat, woran es unser Fleisch und Blut und Welt und Satan niemals fehlen lässt, um uns desto mehr ins Bloße zu setzen und für unsere Leichtgläubigkeit hernach auszulachen. Ich stieg den 1ten Oktober 1756 des Morgens frühe auf den Postwagen nach Danzig und nahm von meinem Vater auf dem Bett Abschied, für den ich Gott allein anrufen, und den ich dem himmlischen Vater jetzt allein empfehlen kann.

44

Ich hielt mich in Danzig bloß einen Posttag auf, und von da nach Berlin. Unterwegens hielt ich den erschrecklichen Sturm aus, der so viel Schaden getan, und wo ich gottlob unbeschädigt, wiewohl mit großem Glück, in Köslin ankam und ein paar Tage stille lag. Mein Reisegefährte von Danzig nach Berlin war ein Jude, ein umgänglicher und gefälliger junger Mensch, der in Halberstadt zu Hause gehörte und ein guter Reisegefährte für mich war, weil er, wie ich, studiert hatte und auf Handel ausging. Ich ging in Köslin in die Kirche und hörte einen erbaulichen Priester. Das Städtchen ist sehr kümmerlich und das Wirtshaus elend. Wir waren die ersten Leute, die so lange sich darin aufgehalten hatten. Der Mann war ein Barbier, und die Frau erwies mir viel Gutherzigkeit, weil sie glaubte, dass ich viel Ähnliches mit ihrem Prediger hätte, der mich erbaut hatte, ohne diesen Umstand zu wissen.

45

Ich kam hierauf den 14. Oktober in Berlin an, wo ich eine außerordentlich gütige Aufnahme bei dem Geh. Rat Ursinus fand meines alten Vaters wegen; wie auch bei dem jungen Grafen von Fink. Außerdem wurden mir auf meines Freundes Empfehlung aus Riga viele Gefälligkeiten im Merkschen und Guzkowskischen Hause erwiesen. Ich ließ mir diesen Ort als den ersten großen, den ich gesehn hatte, außerordentlich gefallen und fand daselbst einige alte gute Freunde, Rutzen, Pastor Reinbek, Reusch, die alle vergnügt waren, mich zu sehen; ich lernte meinen Freund Sahme kennen; und unter Gelehrten den Juden Moses nebst einem andern seines Glaubens und seiner Fähigkeit oder Nacheiferung; den Prof. Sulzer, der mich in die Akademie führte; Ramler; einen jungen französischen Akademisten, der ein Schweizer war, Merian, der mich zu Premontval führte. Ich konnte gleichwohl nichts genießen, war allenthalben gezwungen und für mich selbst in Ängsten, tiefsinnig ohne zu denken, unstet und unzufrieden gleich einem Flüchtling eines bösen Gewissens.

46 

Ich reiste den 23. November von Berlin, wo ich mich für meinen Vorsatz viel zu lange und nach der Länge der Zeit viel zu unnütz aufgehalten hatte, und ging nach Hamburg, weil Herr Merk eine Summe Goldes daselbst abzusetzen wünschte, die mir viel Sorge machte, weil die erste Nacht das Schloss von meinem Koffer ging, die ich aber glücklich nach Hamburg überbrachte. Von da eilte ich nach Lübeck, wo ich den 28. des Morgens an einem Sonntage ankam und in meines gütigen Mutterbruders Haus abstieg.

47 

Hier wollte ich auf Unkosten meiner Blutsfreunde überwintern. Ich kam unvermutet und verursachte so viel Wunder als Freude. Alles sah mich gottlob gerne, und ich habe Ursache, mich der Zärtlichkeit und Freundschaft zu rühmen, womit ich in meines Oheims Hause und bei den meisten meiner übrigen Verwandten aufgenommen worden bin. Meiner Eltern Andenken war allenthalben gesegnet und glücklich für mich. Ich fand im Roedschen Hause viele Gunst und, mehr als mir gedient war, an Karstens einen geprüften Freund. Meine alte Muhme erinnerte mich besonders öfters an meine selige Mutter; sie waren sich sehr ähnlich und hatten sich schwesterlich einander jederzeit geliebt.

48

Die sanften Entzückungen der Blutsbande waren für mich gewissermaßen neue Empfindungen, weil meine Eltern beide sich als Fremdlinge in Königsberg zusammengefunden hatten. Ich befand mich mitten unter redlichen und vergnügten Leuten und überließ mich dem Müßiggange und den Lüsten desselben zu sehr, ich strengte mich an, was ich konnte, zufrieden zu sein, und zerstreute mich nach aller Möglichkeit – alles umsonst. Der Wurm stirbt nicht – wie sollte jeder Sünder darüber erschrecken, ohne an das Feuer zu denken, das nicht auslöscht. Der erste allein ist Strafe und Qual genug.

49 

Ich reiste unter Tränen und tausend herzlichen Glückwünschungen den 24. Jänner 1757 von Lübeck ab und wurde von meinem Vetter und einer Gesellschaft Freunde auf den halben Weg nach Hamburg begleitet, wo wir bei dem alten ehrwürdigen Präpositus Brandenburger abtraten, der sich in den Versuchen der niedersächsischen Poeten durch einige glückliche Gedichte bekannt gemacht und gleichfalls ein weitläufiger Vetter von uns ist.

50 

Ich reiste bei gutem Winter den 5. Feb. ab nach Bremen. Hier fiel ein starkes Tauwetter ein, ich fand aber dafür einen jungen Hamburger, Reich, zum Reisegefährten, der nach Amsterdam gehn wollte, und mit dem ich Gesellschaft machte. Wir nahmen Extrapost, um den kürzesten und sichersten Weg zu gehen. Wir reisten mit ungemeiner Gefahr die ersten Tage, weil alles überschwemmt und kein Weg zu sehn war. Den 9. geschah unsre Abreise durch Delmenhorst, Wilshausen, Klappenburg, Löningen, Voßelohe, Lingen, Neuhus, Hartenberg, Zwoll, Amersfort, Amsterdam, wo wir den 17. anlangten.

51 

In dem Wirtshause, wo wir einkehrten, traf ich einen Buben von Landsmann an, der unser Haus sehr wohl kannte und ein Hauskunde gewesen war. Sein Name war Klein. Es war ein durchtriebener, schleichender Bösewicht, der seine Landsleute anlockte, um sie zu verführen und zu betrügen. Er war unser Anführer in ein liederlich Haus, wo wir leicht hätten in Verlegenheit kommen können, weil er mit dem Wirt unter einer Decke lag. Er ließ alles auftragen, ohne einen Heller zur Bezahlung bei sich zu haben. Ich bezahlte für ihn, und er lief nach einigen Tagen mit dem Gelde weg, unterdessen er allenthalben niederträchtige Schulden gemacht hatte.

52 

Meine Zeit in Amsterdam war ebenso verloren. Ich war irregemacht und wusste nicht, ob ich nach Handel oder Wissenschaften fragen sollte. Ich hatte alles Glück, Bekannte und Freunde nach meinem Stande und Gemütsart zu finden, worauf ich sonst so stolz gewesen war, verloren. Ich glaubte, dass sich jedermann vor mir scheute, und ich scheute selbst jeden. Ich kann keinen Grund davon angeben, als dass Gottes Hand über mich schwer war; dass ich ihn aus den Augen gesetzt und verlassen hatte, ihn mit lauem Herzen und mit dem Munde bloß bekannte und anrief; dass meine Wege ihm nicht gefielen; dass ich ungeachtet seiner Erinnerung und Rührung meine Schuld nicht erkennen wollte; dass ich mich immer vielmehr zu zerstreuen, aber umsonst auch dies suchte; dass ich meinen Geschmack zuletzt beinahe verleugnet hätte, um mir bloß selbst zu entgehen. Und diesen Grund finde ich in dem größten Teil meines Lebens als einen Anstoß, dass ich alles Gute, was mir Gott verliehen, gemissbraucht, verscherzt, verschmäht habe. Ich ging darauf aus, mein Glück zu machen; ich trug immer den Vorwurf gegen mich selbst herum, dass ich an meinem jetzigen Wechsel nicht wohl gehandelt hätte; ich müsste also selbigen bloß als ein Hilfsmittel anwenden, eine bessere Gelegenheit zu meinem Glück zu erhaschen; und ich hätte dies getan, wenn ich eine gefunden hätte, die mich instand gesetzt, meine Freunde zu befriedigen. Alles umsonst; kein Mensch konnte mich kennen, kein Mensch wollte mich kennen. Ich sollte meine Bahn zu Ende laufen und das Ziel sehn meiner unbedachtsamen Wünsche, meiner törichten Neigungen, meiner ausschweifenden Einfälle.

53 

Ich erhielt endlich meinen Wunsch, nach England zu gehen, mit den freigebigsten Aufdringungen. Der letzte Ort meiner Bestimmung gab mir noch meine einzige und letzte Hoffnung ein; ein lächerlich Vorurteil für dieses Land unterstützte selbige, das ich immer als die Heimat oder den rechten Grund und Boden für meine abenteuerliche Denkungs- und Lebensart angesehen hatte. Ich verließ am Gründonnerstage oder Karfreitage, den ich für unnötig hielt zu heiligen, weil er in Holland und England nicht als ein Fest angesehn wird, auf einer Treckschüte Amsterdam, feierte die ersten Ostertage in Leyden in der größten Unordnung und Unterdrückung des Gemüts. Hierauf ging ich nach Rotterdam, wo ich im Swienshoefd oder Schweinskopf einkehrte, dem besten Wirtshause, und daselbst einen jungen Engländer fand, mit dem ich von Amsterdam nach Leyden gegangen war, der Gesellschaft suchte. Dies war mir sehr angenehm, und ich machte mir bereits schmeichelhafte Einbildungen von seiner Bekanntschaft, die ein schlechtes Ende hatte. Wir bedungen uns eine Jacht nach Helvoetsluys, wo denselben Tag, den 16. April, das Paketboot abging; es war Sonnabend. Wir langten den folgenden Sonntag in einer ziemlich starken Gesellschaft, unter der auch ein junger Bremer war, der der Sprache wegen nach England ging und zu studieren gedachte, bei sehr gutem Winde in Harwich des Abends an, ohne dass ich einigen Anstoß der Seekrankheit gefühlt hatte, Schwindel und einige Übelkeit ausgenommen. Wir mieteten uns den Morgen darauf, montags, eine Post. Mein Engländer, dessen Namen Shepherd, war ein Studierender, der auch auf Reisen in Holland ausgegangen und mit ebenso-viel Nutzen als ich, weil er keine andre Sprache als seine eigne verstand, und ein Katholik, wo ich nicht irre. Ich fand ihn morgens auf Knien beten und wunderte mich teils, erbaute mich teils an seiner Andacht, dass ich daher mehr Vertrauen zu ihm fasste. Er hatte sich angeboten, mich für 2 Guineen nach London mit allen Unkosten des Zollhauses und anderer Ausgaben zu schaffen. Ich gab ihm selbige; er gab mir aber ungefähr eine halbe Guinee auf dem halben Weg zurück mit vieler Angst und sagte, ich möchte das übrige selbst bezahlen. Ich hatte mit seiner Unruhe so viel Mitleiden und für seine Aufführung so viel Verachtung, dass ich nicht drang auf eine weitere Befriedigung. Er hatte es vielleicht aus Not getan, weil ich ihm selbst in London bei meiner Ankunft noch einen Schilling vorschießen musste, den ich so wenig als ihn selbst wieder gesehen.

54

Wir kamen denselben Abend sehr spät den 18. April 1757 in London an, wo ich mit meinem Bremer eine sehr unruhige Nacht in der Inn hatte, weil selbige als eine Mördergrube in unsern Augen vorkam und voller Gesindel zu sein schien, unsre Stube so sehr unsicher war, dass jeder ins Fenster einsteigen konnte, der uns nicht hätte durch die Tür aufwecken wollen. In London sind alle Fenster aufzuschieben.

55

Ich schöpfte einige Tage Odem, ehe ich mich meiner Geschäfte annahm, hatte nebst meinem Bremer, der in Begleitung eines Führers und Freundes, der ein junger Kaufmann war und seine Schwester heiraten sollte, ein gutes Wirtshaus gefunden. Nachdem ich einen Mietslakai angenommen hatte, war die erste Torheit, die ich beging, einen Marktschreier aufzusuchen, von dem ich gehört hatte, dass er alle Fehler der Sprache heilen könnte. Er lebt in Islington. Ich erkundigte mich in einem deutschen Wirtshause nach ihm, wo man ihn sehr wohl kannte und mir gestand, dass er einige Kuren getan hätte, die ihn berühmt gemacht; man könnte aber nicht die Ursache meiner Bedürfnis sehen. Ich ging und fand einen alten Mann, der mich untersuchte und nichts an meinen Werkzeugen der Sprache sehn konnte, der mir sein Haus und eine große Summe Geldes zur Bedingung seiner Kur machte, wo ich eine gewisse Zeit lang nichts reden und endlich buchstabieren sollte. Mehr konnte ich von seiner Methode nicht herausbringen. Ich musste also meine Geschäfte mit der alten Zunge und mit dem alten Herzen anfangen. Ich entdeckte selbige denjenigen, an die ich gewiesen war; man erstaunte über die Wichtigkeit meiner Angelegenheit, noch mehr über die Art der Ausführung und vielleicht am meisten über die Wahl der Person, der man selbige anvertraut hatte. Nachdem man sich von der ersten Bewunderung erholt hatte, fing man an zu lächeln – dreist seine Herzensmeinung zu entdecken – über diejenigen, die mich gesendet hätten, wozu ich gekommen war, und beklagte mich selbst. Alle diese Dinge beunruhigten mich und brachten mich zugleich auf. Ich arbeitete endlich an einem Memorial an den russischen Abgesandten – das war alles, was ich tun konnte. Er benahm mir alle Hoffnung, etwas auszurichten, und gab mir desto mehr Versicherungen von seinem Eifer, mir zu dienen, damit der letzte vielleicht angerechnet werden sollte, wenn die erste eintraf. Es gibt gewisse Stellen und gewisse Geschäfte, die man am besten und mit der größten Ehre verwalten kann, wenn man nichts oder so wenig als möglich tut. Sollten wir es uns einen Ernst sein lassen, alles mögliche in acht zu nehmen, so würden wir erstlich unsre Bequemlichkeit und Ruhe sehr hintansetzen müssen, uns großer Gefahr und Verantwortung aussetzen, uns vielleicht Feinde machen, Opfer unsers guten Willens und Unvermögens werden. – In diesen Umständen befindet sich ein Minister, der Hochverrat seiner Pflichten, der Ehre desjenigen, in dessen Namen er da ist, usw. als Klugheit und Vorsichtigkeit ansieht, der das Interesse anderer unterdrückt seiner eignen Sicherheit wegen, der Schwierigkeiten für Unmöglichkeiten ansieht. Ich glaubte also, dass ich nach eben den Regeln in meinen Geschäften verfahren müsste, so wenig als möglich tun, um nicht die Unkosten zu häufen, mir durch übereilte Schritte Blößen zu geben und Schande zu machen; und dies Wenige musste ich als alles, was füglich und tunlich war, ansehn. Ich ging also unterdrückt und taumelnd hin und her, hatte keinen Menschen, dem ich mich entdecken, und der mir raten oder helfen konnte. Ich war der Verzweiflung nahe und suchte, in lauter Zerstreuungen selbige aufzuhalten und zu unterdrücken. Was Blindheit, was Raserei, ja Frevel war, kam mir als das einzige Rettungsmittel vor. Lass die Welt gehen, wie sie geht – mit der Lästerung eines Vertrauens auf die Vorsehung, die wunderlich hilft – nimm alles mit, was dir aufstößt, um dich selbst zu vergessen – dies war ein System, nach dem ich meine Aufführung einrichten wollte und durch jeden unglücklichen Versuch niederfiel, das ich aber wieder aufbaute zu eben der Absicht. Mein Vorsatz war nichts als eine Gelegenheit – eine gute Gelegenheit. Gott weiß, was ich nicht dafür angesehn hätte, um meine Schulden bezahlen und wieder frei in einer neuen Tollheit anfangen zu können. Ich gab also alles auf, die leeren Versuche, in die ich durch Briefe, durch die Vorstellungen der Freundschaft und Erkenntlichkeit aufwachte, waren lauter Schein, faules Holz, Irrlichter, die Sumpf zu ihrer Mutter haben. Nichts als die Einbildung eines irrenden Ritters und die Schellen meiner Narrenkappe waren meine gute Laune und mein Heldenmut. Ich hatte in Berlin die Torheit gehabt, eine Woche lang bei dem Lautenisten Baron Stunden zu nehmen; mein redlicher Vater hatte mich erinnert und deswegen gestraft, ich sollte an meinen Beruf und an meine Augen denken. Dies war umsonst gewesen. Der Satan versuchte mich wieder mit der Laute, die mir in Berlin Verdruss gemacht hatte, weil ich eine geliehene unwissender Weise einem armen Studenten Viermetz verdorben hatte, der sich von der Musik ernährte, und dem ich keine Guttuung dafür erwiesen, sondern vielmehr durch seine sehr bescheidene und rührende Empfindlichkeit im Herzen beleidigt worden war. Ich fing daher wieder an, nach einer Laute zu fragen, als wenn mein ganzes Glück auf dieses Instrument, in dem ich so wenig musikalische Stärke besitze, ankäme. Es war nicht möglich eine zu finden, und man sagte mir, dass es nicht mehr als einen einzigen in London gäbe, der schweres Geld damit hätte verdienen können, jetzt aber als ein Junker lebte. Ich brannte, diesen Sohn der weißen Henne kennen zu lernen, und hatte meinen Wunsch. Wie sehr bin ich durch denselben gestraft worden! Er wurde mein Vertrauter, ich ging täglich aus und ein, verzog mich in seine Nachbarschaft; er hatte sein eigen Haus, unterhielt eine Hure – er bot mir alles an. So sehr mich mein Urteil, mein erstes, von ihm entfernt hatte, so viele Bedenklichkeiten ich über seinen Charakter in meinem Sinn hegte, so wurde alles von ihm eben gemacht. Ich glaubte jetzt gefunden zu haben, was ich wollte – du kannst durch ihn bekannt werden, du hast jetzt wenigstens einen Menschen, mit dem du umgehen kannst, du hast ein Haus, wo du dich zerstreuen kannst, du kannst dich auf der Laute üben und an seine Stelle treten, du kannst so glücklich als er werden. – Ich danke dem lieben Gott, dass er mich lieber gehabt, und dass er mich von einem Menschen los gemacht, an den ich mich wie ein Mühlensklave gekuppelt hatte, um einen gleichen Gang der Sünde und Laster mit ihm zu tun.

56

Mein blindes Herz ließ mir gute Absichten bei meiner Vereinigung sehen, einem Menschen, der ohne Erziehung und Grundsätze war, Geschmack und die letztern einzuflößen. Ich Blinder wollte ein Wegweiser eines andern sein oder vielleicht ihn unterrichten, zierlich zu sündigen, Vernunft zur Bosheit zu drehen. – Ich fraß umsonst, ich soff umsonst, ich buhlte umsonst, ich rann umsonst; Völlerei und Nachdenken, Lesen und Büberei, Fleiß und üppiger Müßiggang wurden umsonst abgewechselt; ich schweifte in beiden, umsonst in beiden aus. Ich änderte in drei Vierteljahren fast monatlich meinen Aufenthalt, ich fand nirgends Ruhe; alles war betrügerisch, niederträchtig, eigennützig Volk.

57

Endlich erhielt ich den letzten Stoß an der Entdeckung meines Freundes, der mir schon unendlich viele Merkmale des Verdachts gegeben hatte, die ich unterdrückte. Ich erfuhr, dass er auf eine schändliche Art von einem reichen Engländer unterhalten wurde. Er war unter dem Namen Senel bekannt, gab sich aber für einen deutschen Baron aus, hatte eine Schwester in London, die auf eben solche Art vermutlich von dem ...ischen Abgesandten unterhalten ward und unter dem Namen einer Frau von Perl einen Sohn hatte ... Ich erschrak über dieses Gerücht und wollte Gewissheit haben. Er hatte mir einen Pack Briefe längstens anvertraut, die er abzufordern vergessen hatte ungeachtet ihrer vorgegebenen Wichtigkeit, und die ich ihm auch nicht, ich weiß nicht aus welcher Ahndung, zurückgegeben, ohne dass es mir jemals eingefallen war, sein Vertrauen zu missbrauchen. Sie waren sehr los gesiegelt. Ich konnte jetzt nicht der Versuchung widerstehn, aus selbigen Gewissheit zu haben. Ich erbrach solche daher und machte mir selbst die Entschuldigung, falls ich nichts hierin in Ansehung des ihm beigelegten Verbrechens finden würde, sie ihm mit dem aufrichtigen Bekenntnis meines begangnen Vorwitzes wiederzugeben und ihm in Ansehung des übrigen alle mögliche Verschwiegenheit zu verschwören; zugleich aber ihm meine Freundschaft aufzusagen, wofern ich andre Geheimnisse entdeckt, die meinen Grundsätzen widersprochen hätten. Ich fand leider zu viel, um mich von seiner Schande zu überzeugen. Es waren abscheuliche und lächerliche Liebesbriefe, deren Hand ich kannte, dass sie von seinem vorgegebnen guten Freunde waren.

58

Ich war sehr unruhig über meine Maßregeln, glaubte aber aus Klugheit genötigt zu sein, einige Briefe zurückzubehalten, worin die größten Proben seines Verbrechens enthalten waren, und den Gebrauch davon der Zeit und den Umständen zu überlassen. Er hatte sich einige Zeit auf dem Lande bei den Gesellen und Lohnherrn seiner Bosheit aufgehalten. Als er zurückkam, forderte er mit vieler Behutsamkeit seine Briefe ab, die ich ihm mit einiger Unruhe einhändigte, und die er mit ebensoviel und mehr annahm. Ich wollte mich ihm entdecken und meine Vorstellungen deswegen machen. Daher ließ ich mir gefallen, auf den vorigen Fuß, wiewohl ohne das Herz mehr, mich wieder einzulassen. Es schien, er hatte mich bloß zu schonen gesucht, um zu entdecken, ob ich von dem Geheimnisse der Bosheit etwas wüsste. Wie ich ihn darüber schien ruhig gemacht zu haben, glaubte er sich mir allmählich mit gutem Fug entziehn zu können. Ich kam ihm zuvor und hatte eine andre Entschließung gefasst, an den Engländer, den ich kannte, selbst zu schreiben, um ihm die Schändlichkeit und Gefahr seiner Verbindung mit seinem Nebenbösewicht vorzustellen. Ich tat dies mit so viel Nachdruck, als ich fähig war, verfehlte aber meines Endzweckes; anstatt sie zu trennen, vereinigten sie sich, um mir den Mund zu stopfen.

59 

Unterdessen war ich auf ein Kaffeehaus gezogen, weil ich keine Seele zum Umgange mehr hatte, einige Aufmunterung in öffentlichen Gesellschaften zu haben und durch diesen Weg vielleicht bekannt zu werden und eine Brücke zum Glück zu bauen. Dies war immer die erste Absicht aller meiner Handlungen. Es war mir zu teuer und zu verführerisch, länger auszuhalten; ich war bis auf einige Guineen geschmolzen und musste mich wieder verändern. Ich ging voller Angst und Sorgen aus, um ein neues Zimmer zu haben. Gott war so gnädig, mich eines finden zu lassen, in dem ich noch bin, bei sehr ehrlichen und guten Leuten seit dem 8. Februar dieses 1758sten Jahres, in Marborough-Street bei Mr. Collins. Es sind beides junge Leute, die sich eine Ehre daraus machen, jedermann zu bekennen, dass sie Bediente gewesen, die einen kleinen Handel angefangen, den Gott sichtbar gesegnet, und die dies mit Dank, anhaltendem Fleiß und Demut erkennen. Es ist eine besondre Gunst der Vorsehung, dass sie mich dieses Haus hat finden lassen, in dem ich auf die billigste und zufriedenste Art lebe, weil ich nicht um einen Heller fürchten darf übersetzt zu werden und die beste Aufwartung umsonst genieße. Ich habe gedacht, wozu mich Gott nicht eher dieses Haus hat finden lassen, das mich hätte früher retten können. Er weiß allein die Zeit, die beste Zeit, uns den Anfang seiner Hilfe zu zeigen. – Wir, die nichts verdienen als Zorn und das Unglück, wonach wir ringen, murren mit Gott, warum er uns nicht eher helfen will, uns, die nicht wollen geholfen sein.

60

Ich hatte im vorigen Kaffeehaus einen verstopften Leib auf acht Tage lang bisweilen gehabt und einen erstaunlichen Hunger, der nicht zu ersättigen war. Ich hatte das hiesige starke Bier als Wasser in mich gesoffen. Meine Gesundheit daher bei aller der Unordnung der Lebensart und meines Gemüts ist ein göttliches Wunder, ja ohne Zweifel mein Leben selbst und die Erhaltung desselben. Ich habe in diesem Hause nicht mehr, ungeachtet es beinahe drei Monate ist, als höchstens viermal ordentliche Speise gehabt; meine ganze Nahrung ist Wassergrütze und einmal des Tages Kaffee. Gott hat selbige außerordentlich gedeihen lassen, und ich denke mit seinem Beistande so lange als möglich dabei auszuhalten. Die Not ist der stärkste Bewegungsgrund zu dieser Diät gewesen, diese aber vielleicht das einzige Mittel, meinen Leib von den Folgen der Völlerei wiederherzustellen.

61

Ich habe 150 Pfund Sterl. hier durchgebracht und kann und will nicht weitergehn. Meine Schulden in Livland und Kurland belaufen also sämtlich über 300 Pf. ... Ich habe kein Geld mehr und meine Uhr meinem Wirt gegeben. Die Gesellschaft des gedachten Buben hat mir viele unnütze Ausgaben verursacht; mein öfteres Ausziehn und Umziehn hat mich gleichfalls viel gekostet; ich habe zwei Kleider, davon eines die Weste ziemlich reich besetzt, und einen Haufen Bücher mir angeschafft. Ich wollte in diesem Hause mich allen Umganges entschlagen und mich mit nichts denn meinen Büchern zu trösten suchen, davon ein ziemlicher Teil noch ungelesen oder wenigstens ohne Nachdenken und rechte Anwendung ungenutzt gelesen worden. Gott hatte mir eingegeben, mir gleichfalls eine Bibel anzuschaffen, nach der ich mit vieler Hitze herumlief, ehe ich eine nach meinem Sinn finden konnte, und von der ich ein sehr gleichgültiger Besitzer bisher gewesen. Meine Einsamkeit, die Aussicht eines völligen Mangels und des Bettlerstandes, – nach dem ich bisweilen aus Verzweiflung gerungen hatte, weil ich selbst dies als ein Mittel ansah, mich aufzumuntern zu einem kühnen Glücksstreich – ja ich wünschte mir die Armut aus einer ruchloseren Absicht, um den gnädigen Gott meines bisherigen Lebens, der mir allemal im letzten Notfall beigestanden, von neuem und mit Vorsatz mit sündlicher Keckheit zu versuchen – kurz die Dürre meiner Umstände und die Stärke meines Kummers entzogen mir den Geschmack meiner Bücher. Sie waren mir leidige Tröster, diese Freunde, die ich nicht glaubte entbehren zu können, für deren Gesellschaft ich so eingenommen war, dass ich sie als die einzige Stütze und Zierde des menschlichen Schicksals ansah.

62

Unter dem Getümmel aller meiner Leidenschaften, die mich überschütteten, dass ich öfters nicht Odem schöpfen konnte, bat ich immer Gott um einen Freund, um einen weisen, redlichen Freund, dessen Bild ich nicht mehr kannte. Ich hatte anstatt dessen die Galle der falschen Freundschaft und die Unhinlänglichkeit der bessern gekostet, genug gekostet. Ein Freund, der mir einen Schlüssel zu meinem Herzen geben konnte, den Leitfaden von meinem Labyrinth – war öfters ein Wunsch, den ich tat, ohne den Inhalt desselben recht zu verstehn und einzusehn. Gottlob, ich fand diesen Freund in meinem Herzen, der sich in selbiges schlich, da ich die Leere und das Dunkle und das Wüste desselben am meisten fühlte. Ich hatte das Alte Testament einmal zu Ende gelesen und das Neue zweimal, wo ich nicht irre in der Zeit. Weil ich also von neuem den Anfang machen wollte, so schien es, als wenn ich eine Decke über meine Vernunft und mein Herz gewahr würde, die mir dieses Buch das erstemal verschlossen hätte. Ich nahm mir daher vor, mit mehr Aufmerksamkeit und in mehr Ordnung und mit mehr Hunger dasselbe zu lesen und meine Gedanken, die mir einfallen würden, dabei aufzusetzen. –

63

Dieser Anfang, wo ich noch sehr unvollkommene und unlautere Begriffe von Gottes Worte zur Lesung desselben mitbrachte, wurde gleichwohl mit mehr Aufrichtigkeit als ehemals den 13. März von mir gemacht. Je weiter ich kam, je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben. Ich vergaß alle meine Bücher darüber, ich schämte mich, selbige gegen das Buch Gottes jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetzt, ja jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben. Ich fand die Einheit des göttlichen Willens in der Erlösung Jesu Christi, dass alle Geschichte; alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf diesen Mittelpunkt zusammenliefen, die Seele des Menschen aus der Sklaverei, Knechtschaft, Blindheit, Torheit und dem Tode der Sünden zum größten Glück, zur höchsten Seligkeit und zu einer Annehmung solcher Güter zu bewegen, über deren Größe wir noch mehr als über unsre Unwürdigkeit oder die Möglichkeit, uns derselben würdig zu machen, erschrecken müssen, wenn sich uns selbige offenbaren. Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eignen Lebenslauf und dankte Gott für seine Langmut mit diesem seinem Volk, weil nichts als ein solches Beispiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte. Vor allen andern fand ich in den Büchern Moses eine seltne Entdeckung, dass die Israeliten, so ein ungeschlacht Volk sie uns vorkommen, in einigen Fällen nichts als dasjenige von Gott ersuchten, was Gott willens war, für sie zu tun, dass sie ebenso lebhaft ihren Ungehorsam als je ein reuender Sünder erkannten und ihre Buße doch gleichwohl ebenso geschwind vergaßen, in der Angst derselben aber um nichts als einen Erlöser, einen Fürsprecher, einen Mittler anriefen, ohne den sie unmöglich Gott weder recht fürchten noch recht lieben konnten. Mit diesen Betrachtungen, die mir sehr geheimnisvoll vorkamen, las ich den 31. März des Abends das 5. Kapitel des 5. Buchs Moses, verfiel in ein tiefes Nachdenken, dachte an Abel, von dem Gott sagte: Die Erde hat ihren Mund aufgetan, um das Blut deines Bruders zu empfangen. – Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern als die Stimme des Bluts, als die Stimme eines erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich selbiges beizeiten nicht hörte und fortführe, mein Ohr gegen selbiges zu verstopfen; – dass eben dies Kain unstetig und flüchtig machte. Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoss sich in Tränen, und ich konnte es nicht länger – ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, dass ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingebornen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet des langen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis und seine Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heiland immer mehr und mehr zu offenbaren.

64 

Ich fuhr unter Seufzern, die vor Gott vertreten wurden durch einen Ausleger, der ihm teuer und wert ist, in Lesung des göttlichen Wortes fort und genoss eben des Beistandes, unter dem dasselbe geschrieben worden als des einzigen Weges, den Verstand dieser Schrift zu empfahen, und brachte meine Arbeit mit göttlicher Hilfe, mit außerordentlich reichem Trost und Erquickung ununterbrochen den 21. April zu Ende.

65

Ich fühle gottlob jetzt mein Herz ruhiger, als ich es jemals in meinem Leben gehabt. In den Augenblicken, worin die Schwermut hat aufsteigen wollen, bin ich mit einem Trost überschwemmt worden, dessen Quelle ich mir selbst nicht zuschreiben kann, und den kein Mensch imstande ist, so überschwänglich seinem Nächsten einzuflößen. Ich bin erschrocken über den Überfluss desselben. Er verschlang alle Furcht, alle Traurigkeit, alles Misstrauen, dass ich keine Spur davon in meinem Gemüt mehr finden konnte. Ich bitte Gott, er wolle das Werk segnen, das er in mir angefangen, meinen schwachen Glauben durch sein Wort stärken und den Geist, den gnädigen, den überschwänglichen Geist desselben, den Geist des Friedens, der über alle Vernunft ist und nicht so ein Friede als der, den die Welt gibt, den Geist der Liebe, ohne den wir nichts als Feinde Gottes; und der diesen Wohltäter hasst, wie kann der zeitlich lieben den Geist der Hoffnung, die nicht zuschande werden lässt, wie das Schattenspiel fleischlicher Einbildungen?

66

Wenn ich das große Gute, die unschätzbare Perle, den Preis, zu dem mich Gott hat geboren werden lassen, von ihm erhalten; wie sollte ich an seiner Regierung meines ganzen Lebens jetzt zweifeln? Das Ende desselben ist erreicht. Ich überlasse mich seinem weisen und allein guten Willen. Ich kenne die Blindheit und das Verderben des meinigen jetzt zu sehr, als dass ich denselben nicht verleugnen sollte. Meine Sünden sind Schulden von unendlich mehr Wichtigkeit und Folgen als meine zeitlichen. Der Gewinn der ganzen Welt würde die ersten nicht bezahlen können; und wenn Abraham von Ephron, einem Kananiter, wegen 400 Seckel Silbers hören musste: was ist dies zwischen dir und mir, sollte Gott nicht großmütiger einen Christen denken lassen als einen Heiden, wenn der erste mit ihm wegen der Hauptsache richtig geworden; wie sollte es Gott auf eine Kleinigkeit ankommen, sie obenein zum Kauf zu geben? Die 300 Pf. sind seine Schulden; er wird wie Paulus gegen Philemons Knecht mit mir verfahren und selbige nach seiner Weisheit abzurechnen wissen.

67

Ich habe diese Gedanken über meinen Lebenslauf für mich selbst oder für meinen lieben Vater und Bruder aufgesetzt; und wünsche daher, dass selbige den letztern oder meinen nächsten Freunden zur Durchlesung dienen mögen. Ich habe in denselben mit Gott und mit mir selbst geredet; den ersten in Ansehung meines Lebens gerechtfertigt und mich angeklagt, mich selbst darin angegeben und entdeckt – alles zum Preise des allein guten Gottes, der mir vergeben hat in dem Blut seines eingebornen Sohnes und in dem Zeugnis, das der Geist Gottes in seinem Wort und in meinem Herzen bestätigt. Gott hat mich aus einem Gefäß in das andre geschüttet, damit ich nicht zuviel Hefen ansetzen und ohne Rettung versauern und stinkend werden sollte. Alles muss uns zum besten dienen; da der Tod der Sünde zu unserm Leben gereicht, so müssen alle Krankheiten derselben zur Erfahrung, zum Beispiel und zur Verherrlichung Gottes gereichen. Wer die Reisekarte der Israeliten mit meinem Lebenslauf vergleichen will, wird sehen, wie genau sie miteinander übereinkommen. Ich glaube, dass das Ende meiner Wallfahrt durch die Gnade Gottes in das Land der Verheißung mich führen wird – gesetzt, dass ich hier nicht Zeit und Gelegenheit haben sollte, die Unordnungen und den Schaden, den ich andern getan, zu ersetzen. Meine Freunde würden betrübter sein müssen, wenn ich gestorben wäre am Gift des Grams und der Verzweiflung. Meine Gesundheit und mein Leben, ich wiederhole es, ist ein Wunder und ein Zeichen zugleich, dass Gott nicht an meiner Besserung noch an meiner künftigen Brauchbarkeit zu seinem Dienst verzweifelt hat. Mein Sohn, gib mir dein Herz! – Da ist es, mein Gott! Du hast es verlangt, so blind, hart, felsig, verkehrt, verstockt es war. Reinige es, schaffe es neu und lass es die Werkstatt deines guten Geistes sein. Es hat mich so oft getäuscht, als es in meiner Hand war, dass ich selbiges nicht mehr für meines erkennen will. Es ist ein Leviathan, den du allein zähmen kannst – durch deine Einwohnung wird es Ruhe, Trost und Seligkeit genießen.

68

Ich schließe mit einem Beweise meiner eignen Erfahrung, in einem herzlichen und aufrichtigen Dank Gottes für sein seligmachendes Wort, das ich geprüft gefunden als das einzige Licht, nicht nur zu Gott zu kommen, sondern auch uns selbst zu kennen: als das teuerste Geschenk der göttlichen Gnade, das die ganze Natur und alle ihre Schätze so weit übertrifft, als unser unsterblicher Geist den Leim des Fleisches und Blutes; als die erstaunlichste und verehrungswürdigste Offenbarung der tiefsten, erhabensten, wunderbarsten Geheimnisse der Gottheit, im Himmel, auf der Erde und in der Hölle, von Gottes Natur, Eigenschaften, großem überschwänglichen Willen hauptsächlich gegen uns elende Menschen, voll der wichtigsten Entdeckungen durch den Lauf aller Zeiten bis in die Ewigkeit; als das einzige Brot und Manna unsrer Seelen, dessen ein Christ weniger entbehren kann, als der irdische Mensch seiner täglichen Notdurft und Unterhalts – ja ich bekenne, dass dieses Wort Gottes ebenso große Wunder an der Seele eines frommen Christen, er mag einfältig oder gelehrt sein, tut als diejenigen, die in demselben erzählt werden; dass also der Verstand dieses Buchs und der Glaube an den Inhalt desselben durch nichts anders zu erreichen ist als durch denselben Geist, der die Verfasser desselben getrieben; dass seine unaussprechlichen Seufzer, die er in unserm Herzen schafft, mit den unausdrücklichen Bildern einer Natur sind, die in der Heiligen Schrift mit einem größern Reichtum als aller Samen der ganzen Natur und ihrer Reiche aufgeschüttet sind.

69

Das zweite ist das Geständnis meines Herzens und meiner besten Vernunft, dass es ohne Glauben an Jesum Christum unmöglich ist, Gott zu erkennen, was für ein liebreiches, unaussprechlich gütiges und wohltätiges Wesen er ist, dessen Weisheit, Allmacht und alle übrige Eigenschaften nur gleichsam Werkzeuge seiner Menschenliebe zu sein scheinen; dass dieser Vorzug der Menschen, der Insekten der Schöpfung, unter die größten Tiefen der göttlichen Offenbarung gehört; dass Jesus Christus sich nicht nur begnügt, ein Mensch, sondern ein armer und der elendeste geworden zu sein, dass der Heilige Geist uns ein Buch für sein Wort ausgegeben, worin er wie ein Alberner und Wahnsinniger, ja wie ein unheiliger und unreiner Geist unsrer stolzen Vernunft Märlein, kleine verächtliche Begebenheiten zur Geschichte des Himmels und Gottes gemacht, 1. Kor. 1,25; – dass dieser Glaube uns alle unsere eigenen Handlungen und die edelsten Früchte der menschlichen Tugend nicht anders als die Risse der feinsten Feder unter einem Vergrößerungsglas entdeckt oder die zarteste Haut unter gleichem Anblick; dass es daher unmöglich ist, ohne Glauben an Gott, den sein Geist wirkt und das Verdienst des einigen Mittlers, uns selbst zu lieben und unsern Nächsten; kurz, man muss ein wahrer Christ sein, um ein rechtschaffener Vater, ein rechtschaffenes Kind, ein guter Bürger, ein rechter Patriot, ein guter Untertan, ja ein guter Herr und Knecht zu sein; und dass, im strengsten Wortverstand, jedes Gute ohne Gott unmöglich ist, ja dass er der einzige Urheber desselben. 

70

Ich überlasse ihm also alle die Folgen meiner Sünden, da er die Last derselben auf sich genommen. Er wolle meinen Vater trösten, und wie ich ihn gebeten, mir den Gram über meine Leichtsinnigkeit und Vergessung seiner Liebe zu vergeben, so wolle er ihm auch die Früchte dieser Vergebung mitteilen. Ich kann so weit nicht reichen, und vielleicht ist er in Umständen, wo uns der gehorsamste Sohn keine Freude und Hilfe sein kann – Gott sei also sein Vater, er lebe als ein Greis mitten unter der Wut des Krieges oder als ein verjüngter Engel im Lande des Friedens.

71

Gott allein wolle meinen lieben Bruder führen und regieren, ihn für meine Torheiten, Ausschweifungen und Verbrechen behüten und ihn ein nützlich Werkzeug im Hause seines Sohnes, Jesu Christi, machen.

72 

Meine Freunde wolle er weder mit Kummer noch mit Fluch an mich denken lassen. Ihre guten Absichten mit mir mögen von der Güte Gottes öffentlich vergolten werden, damit sie ihr Herz nicht gegen andere durch meinen Missbrauch ihrer Liebe verschließen mögen. Er wolle sie eben den Reichtum des Geistes und der Gnade empfinden lassen, den mir der Verlust ihrer Wohltaten erworben.

73 

Liebreicher Gott und Vater deiner Geschöpfe und Erlösten! Dir ist all mein Anliegen bekannt; meine Hilfe kommt allein von dir. Du hast meine Sünde so lange gesehn und gehört und vergeben. Siehe und höre jetzt gleichfalls und vergib; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Amen! 

 

Gib mir Verstand aus deiner Höh, 

Auf dass ich ja nicht ruh und steh 

Auf meinem eignen Willen.

Sei du mein Freund und treuer Rat, 

Was recht ist zu erfüllen.

 

Verleihe mir das edle Licht, 

Das sich von deinem Angesicht 

In fromme Seelen strecket 

Und da der rechten Weisheit Kraft 

Durch deine Kraft erwecket.

 

Prüf alles wohl, und was mir gut, 

Das gib mir ein: was Fleisch und Blut 

Erwählet, das verwehre.

Der höchste Zweck, das edle Teil 

Sei deine Lieb und Ehre.

 

So sei nun Seele deine 

Und traue dem alleine, 

Der dich erschaffen und erlöset hat.

Es gehe, wie es gehe: 

Dein Vater in der Höhe 

Weiß allen Sachen Rat.

 

Den 24. April 1758.

 

74 

Den 25. April.

Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze. – Mein Lebenslauf gibt mir Anlass, auf zwei besondere Fälle die Wichtigkeit dieser Wahrheit anzuwenden. Erstlich, sie dringt in unsere kleinsten Handlungen und sucht die alten Unordnungen bis auf die unmerklichsten Fehler und auf eine ebenso unmerkliche Art zu verbessern. Der Satan und unser Fleisch macht uns durch unzählige Kleinigkeiten und Torheiten abhängig, deren Gegenstand sehr gleichgültig und nichtig ist, nichtsdestoweniger aber die Lust derselben sträflich. Ich bin seit kurzem von zwei bösen Gewohnheiten, ohne zu wissen wie, losgekommen, dem Tabakschnauben und dem späten Aufstehen, woran mein langes Nachtsitzen schuld war und das meinen Augen so nachteilig gewesen. Das erste mag so gleichgültig sein, als es will; man erwäge aber, wie unbegreiflich es ist, dass wir töricht genug sein können, uns an diesen Staub so zu gewöhnen, dass der Mangel desselben uns unzufrieden, ungeschickt zu denken und in größere Dürftigkeit versetzt als der Mangel der ersten Notwendigkeiten des Lebens. Wie oft hindern uns dergleichen Lüste an Geschäften, im Gebet selbst und Gottesdienst.

75

Das zweite ist der Trost, den uns der Glaube allein über die kleinsten Zufälle unsers Lebens – ja was noch mehr, über die Krümmen und Lücken desselben geben kann. So hoffe ich, dass selbst die Unordnung und lüsterne Ausbreitung meiner Absichten durch Gottes Willen ihm nützlich und brauchbar werden können – oder wenigstens, dass dieser Schutthaufen durch ihn bald aus dem Wege geräumt werden kann; wenn ich ihn gleich wie Nehemia mit Schrecken und Traurigkeit ansehe, Nehem. 11,13, so kostet es Gott wenig, ein neu und besser Gebäude, in dem er sich verklären will, an die Stelle des eingefallenen und zerstörten zu setzen.

Du Herr alleine 

Räumst hinweg uns alle Klötz’ und Steine.

76

Ja, die ganze Bibel scheint recht zu dieser Absicht geschrieben zu sein, uns die Regierung Gottes in Kleinigkeiten zu lehren. Es ist ein Gott, der auf die Gedanken und Reden der Hebmütter horcht, wenn wir zur Welt kommen; der dasjenige aufgezeichnet hat, was zwischen Lea und Rahel über die Blumen Rubens als ein sehr gleichgültiger Wortwechsel vorfiel. Genes. 38,27-30; 30,14,15. So sehr ist unsre Religion für unsre Bedürfnisse, Schwachheiten und Mängel eingerichtet, dass sie alle diese zu Wohltaten und Schönheiten verwandelt. – Alles wider uns als unbekehrte – alles mit uns, selbst das, was wider uns war und ist, als gläubige Kinder Gottes. Alles, was der irdischen Vernunft unwahrscheinlich und lächerlich vorkommt, ist den Christen unumgänglich und unwiderleglich gewiss und tröstlich. Was die Vernunft unterdrückt und verzweifelnd und verzagt macht, richtet uns auf und macht uns stark in Gott.

77

Ich habe heute den Prediger bei der Savoykirche, Hrn. Pitius, besucht, einen frommen, rechtschaffenen Geistlichen, dessen Worte ich mit viel Rührung gehört, verstanden und empfunden. Er benahm mir alle Hoffnung, hier unterzukommen, ohne mich dadurch niedergeschlagen zu machen, weil ich nicht durch Menschen, sondern Gott glaube geholfen werden zu können. Wenn unsre Seele erst ihren Mittelpunkt an dem findet, so verlässt sie derselbe in ihrer Bewegung nicht mehr.

Sie bleibt ihm wie die Erde der Sonne getreu, und alle übrige Neigungen richten sich wie Monde nach diesem ursprünglichen und eigentümlichen Eindruck des Schwunges und ihres Laufes.

78

Ich habe mich in einer schlaflosen Nacht zu London mit empfindlichen Vorwürfen meiner Undankbarkeit erinnert, wie ich meine selige Muhme vergessen habe, die ihrer Schwester Söhne mit so viel mütterlicher Zärtlichkeit geliebt. Gott vergelte ihr in der Ewigkeit alle ihre Liebe, wie er die Schwachheiten derselben ihr in Gnaden vergeben und mir die Untreue und Leichtsinn, womit ich ihr Andenken entweiht.

79

Den 29. Mai.

Ich machte den Anfang dieser Woche mit einem Besuche, den ich dem Pastor Pitius ablegte. Gott hat mir die Gnade gegeben, seinen öffentlichen Dienst wieder abzuwarten, und ich hatte diesen frommen Mann über das gestrige Evangelium des reichen Mannes und glücklichen Lazarus mit viel Erweckung predigen gehört. Weil er die Kommunion seiner Gemeinde den folgenden Sonntag anmeldete, so rufe ich Gott an, wie ich es schon vorher getan hatte, mich zu seiner Tafel einzuladen. Ich fand viele Schwierigkeiten, weil ich nicht mehr als eine halbe Krone mehr im Beutel hatte, und meine Uhr schon für 4 Pf. bei meinem Wirt steht. Mit wenig fleischlichem Trost besuchte ich also diesen Mann und entdeckte ihm mein Herz und alle meine Umstände. Er drang darauf, ich sollte England verlassen. Gott gab diesem Manne viel Gnade, mir ans Herz zu reden, und half mir ebenfalls, ihn zu hören und zu antworten. Ich hielt mich sehr lange bei ihm auf und wurde es nicht eher gewahr, als bis ich eine sehr verlegene Miene an ihm gewahr wurde, die mich forttrieb, und ich verließ ihn mit vielem Mut, der ihn selbst bisweilen an mir bestürzt zu machen schien.

80

Gott, wie liebreich sind deine Wege! Barmherzigkeit und Wahrheit. Wieviel Wunder hast du mir tun müssen, damit ich dasjenige zu glauben lernen sollte, was ich als ein Kind gewusst habe, was jedes Kind weiß und niemand wahrhaftig glaubt, als dem Gott diesen Glauben wirkt und schenkt. Ich meine die leichte Wahrheit: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Ich meine den einzigen Trost: Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.

81

Ich war durch das verlegene Gesicht des rechtschaffenen Israeliten nicht umsonst verscheucht werden. Kaum dass ich einige Schritte die Savoy, wo er wohnt, verlassen hatte, hörte ich meinen Namen nachrufen und mich unvermutet mit Freundlichkeit und Vergnügen von einem Manne anreden, in dem ich immer nachteilige Begriffe in Ansehung meiner zum voraus gesetzt und ihn daher so viel möglich vermieden hatte. Es ist der Sekretär des russischen Abgesandten, Hr. Lüders, der mich anredete, der Briefe von meinem Freund aus Petersburg erhalten und durch seine Vorstellungen und Neuigkeiten mich ganz von neuem belebte. Er freute sich über den glücklichen Zufall, mich ungefähr gefunden zu haben, weil er meinetwegen besorgt gewesen und gewünscht, mich aufzufinden. Ich wollte nach der Stadt mit ihm rennen, da ein ebenso merkwürdiger Umstand mich wieder zurückrufte, den ich zeitlebens behalten werde. Weil der Fußsteig sehr enge war, wich ich aus, um mit meinem Gefährten mit desto mehr Bequemlichkeit reden zu können. Auf einmal lag ich auf der Erde, ohne es gewahr zu werden, an einem Pfosten, an dem ich mir hätte den Kopf zerschlagen können oder den Arm verstauchen, so plötzlich, dass es ein Wunder, wie ich nicht meinen Hut und Perücke verloren und wenigstens den Zuschauern mich lächerlich gemacht, wenn ich auch ohne Schaden abgekommen wäre. Ich musste also wieder umkehren, weil ich mich besudelt hatte, mit vieler Herzensempfindung, die mir dieser Fall zu predigen schien, und mit vieler Freude und Trost, so außerordentlich bewahrt worden, so glücklich aufgestanden zu sein – alles dies, damit ich nach Hause gehen sollte, wo ich rein wieder zurückkehrte, weil ich unterwegens ansprach, um mich in Ordnung zu bringen.

82

Ich ging gleich nach meinem Mittagessen wieder aus, ich weiß nicht mit welchem Trieb, um den Vater eines jungen Engländers aufzusuchen, den ich in Riga gekannt, und womöglich etwas Neues von Hause zu hören, oder an dem vielleicht einen Bekannten und Freund zu finden, der mich in seine Hütte aufnehmen möchte, wenn es auf das Äußerste käme, oder wenigstens mit gutem Rat beispringen könnte. Nach vielen Fragen fand ich endlich den Herrn Vernizobre, der, kaum als ich meinen Namen genannt hatte, mich mit Freuden empfing, sich Glück wünschte, meinen Vater erfreuen zu können mit der Nachricht, mich endlich gefunden zu haben.

83

Ich las einen englischen Brief meines Bruders und eine kleine Beilage meines alten redlichen Vaters; ich konnte aber nichts verstehen – so war mein Herz von Empfindungen aufgeschwollen, dass ich nicht wusste, was ich las, und also diese Arbeit versparen musste. Gott gibt mir Hoffnung, mich meinen Vater noch sehn zu lassen, wie er mir die Gnade erzeigt, meine Mutter noch vor ihrem Ende umarmen zu lassen. Gott hat ihm ein Kreuz aufgelegt mit dem Verlust seines Gedächtnisses. Mein Vater, habe ich die Strafe nicht verdient, die du trägst! Ich habe ihn Gott empfohlen und glaube, dass er alles wohlmachen und herrlich hinausführen wird. Das Zeugnis des heiligen Geistes in unsern Seelen hängt von keinem Gedächtnis ab; und wenn wir alles vergessen, so vertritt Jesus, der Gekreuzigte, alle Weisheit und alle Kraft, alle Vernunft und alle Sinne. Es ist eher möglich, ohne Herz und Kopf zu leben, als ohne den. Er ist das Haupt unserer Natur und aller unsrer Kräfte und die Quelle der Bewegung, die so wenig in einem Christen stille stehen kann als der Puls in einem lebenden Menschen. Der Christ allein aber ist ein lebender Mensch; weil er in Gott und mit Gott lebt, bewegt und da ist, ja für Gott.

84

Gott hat mir außerordentliche Gnade gegeben, den 4. Junius zum heiligen Abendmahl zu gehen. Ich bin durch dasselbe sehr aufgerichtet und zum geistlichen Leben in Gott gestärkt worden. Der Geist Gottes, dieser treue Erinnerer, wolle das Andenken des Todes nicht nur in meiner Seele erhalten, sondern auch Kraft geben, diesen Tod des Herrn in meinem Leben und Wandel zu zeigen und zu verkündigen, bis dass er kommt. Amen.

85

Meine Entschließung, nach Riga zurückzugehen, ist immer mehr gegründet worden. Ich habe an alle meine Freunde geschrieben und mich ihnen schon angemeldet. Was mich noch mehr auf diesem rechten Wege, den ich wieder gefunden, aufmuntert, sind die Hindernisse und Steine des Anstoßes, die Satan mir in den Weg zu werfen sucht. Hilf mir, liebreicher Gott, selbige aus dem Wege räumen, mich und die Welt überwinden; von dir hängt allein aller guter Erfolg oder aller Trost im Gegenteil ab!

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Den 25. Juni: am fünften Sonntage nach Trinitatis Luk. 5,1 

Dies wird vermutlich der letzte Sonntag sein, den ich in England feiern soll. Gott hat mir seinen Segen auch in der heutigen Predigt durch den Mund seines frommen Dieners mitgeteilt, den ich mit viel Zueignung, Trost und Freude habe hören können. Das Evangelium schickt sich nun desto mehr zu meiner Abreise, weil ich zu Schiff gehen will. Sein Eingang war aus den Worten Salomons, Ekles. 9,7: Dem Herrn gefällt dein Werk. Er legte fünf Haus- und Lebensregeln aus der Geschichte des Evangelii vor, wodurch unser Beruf gesegnet und alle unsre Werke dem Herrn gefällig gemacht werden würden. 1) die Übung in Gottes Wort. Ist kein Hindernis unsers zeitlichen Berufs, sondern vermehrt den göttlichen Segen über selbigen und räumt alle Hindernisse der Trägheit, Unordnung, Unmäßigkeit usw. aus dem Wege. 2) Treue und Fleiß in unsern Geschäften; die Fischer waren in ihrem Berufe, die Jesus zu seinen Jüngern erwählte. 3) der Mut in allen Versuchungen: a) eine ganze Nacht verlorne Arbeit; b) Unwahrscheinlichkeit in Gottes Wegen; Furcht, sich auf die Höhe des Meeres zu wagen; c) das reißende Netz; d) das sinkende Schifflein; dies waren alles Versuchungen, welche die Jünger hatten gefallen lassen unterzugehen, und die sie durch einen einfältigen Glauben überwunden hatten. 4) die Demut, mit der wir alle göttlichen Wohltaten erkennen und annehmen müssen. Gehe aus von mir, ich bin ein sündiger Mensch, sagte Petrus. Nicht ihr Gehorsam, ihre Unverdrossenheit, eignete dieses Wunder als eine Belohnung zu. 5) die Verleugnung aller zeitlichen Vorteile und Entsagung derselben zum Heil unsrer Seelen und aus Gehorsam und Erkenntlichkeit gegen Gottes Liebe, wie die Jünger hier alles verließen. – Der Gottesdienst nachmittags wurde mit dem Liede beschlossen, an dem ich seit acht Tagen mit viel Erquickung wiedergekäuet: Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ usw. In den zwei letzten Versen sind die Sehnen und Muskeln des Glaubens recht nach dem Leben ausgedrückt. Gott wolle mein Gebet in Gnaden erhören und Weisheit und Glauben mit seinem guten Geist schenken, darin anzuhalten und nicht abzulassen, bis er mich erhört und gesegnet habe. Amen! In Jesu Namen, Amen! 

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Den 27. Juni musste ich unvermutet von London abgehen, weil ich durch die Nachricht erschreckt worden war, dass mein Schiffer abgegangen, kam die Nacht in Gravesand an, wo ich in Gefahr mit einem Matrosen war, der die Absicht hatte, wie ich nicht anders schließen kann, mir das Meinige zu nehmen. Ein Engländer kam eben aus einem nahebei liegenden Wirtshause und nahm sich meiner an, um mich daselbst anzuweisen. Wir mussten mit einem Kriegsschiff gehen und die Zusammenkunft der übrigen Schiffe abwarten, dass wir also erst den 8. Juli in die See gingen. Sonntag, den 16., wurde ich durch einen ziemlich starken konträren Wind und Sturm und die Gefahr des Kattegats sehr beunruhigt, aber durch Lesung des 42. Psalms von Gott getröstet und aufgerichtet. Den 27. Juli bin ich unter göttlicher Gnade in Riga glücklich angekommen und bei Herrn Karl Berens abgetreten, wo ich mit aller möglichen Freundschaft und Zärtlichkeit bewillkommnet worden. Ungeachtet meiner Zerstreuung schenkte mir Gott Wollen und Vollbringen, denselben Sonntag darauf, den fünften Sonntag nach Trinitatis, zum heiligen Abendmahl zu gehen, wobei ich nicht ohne Rührung bewundern musste, dass mich Gott mit eben demselben Evangelio vom reichen Fischzug Petri empfing, mit dem ich aus England Abschied genommen hatte.

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Ich lief gleich den Tag meiner Ankunft zu meinem alten Freunde Lindner, der mich mit der Nachricht erschreckte und erfreute, dass mein Bruder als Kollaborator bei der hiesigen Domschule berufen wäre, der den 27. Oktober glücklich und lang erwartet anlangte. Gott sei gelobet und gepriesen für alle Barmherzigkeit, die er an uns beiden so reichlich erwiesen. Er erhöre gnädig um seines lieben Sohnes Jesu Christi willen das tägliche Gebet auch für meinen einzigen Bruder, das er mir in den Mund gelegt. Er schenke ihm die nötigen Kräfte zu seinem Beruf und den Willen und Eifer, selbige treu anzuwenden. Er gebe ihm Gnade, seine Kinder im Namen Jesu aufzunehmen und zu weiden. Gott wolle ihn selbst zu einem treuen Hirten der Schafe und Lämmer schaffen und bereiten, die er ihm anvertrauet hat. Er wolle ihn den Segen des vierten Gebots zu allen seinen Geschäften und auf allen seinen Wegen begleiten lassen – und uns beide selbigen genießen lassen um des vollkommenen Gehorsams seines lieben Sohnes Jesu Christi willen. Durch eben denselben mögen unsre Herzen in wahrer brüderlicher Liebe vereinigt sein, dass wir nicht wie Steine des Anstoßes uns einander im Wege liegen, sondern uns wechselweise aufmuntern mögen, der treuen Hirtenstimme unsers Heilandes zu folgen, uns immer mehr und mehr selbst zu verleugnen, sein Kreuz auf uns zu nehmen und in die Fußstapfen zu treten, die er mit seinem teuren Blut bezeichnet hat. Amen! 

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Mein Bruder erfreute mich bei seiner Ankunft mit einem Geschenk unsers Vaters, das er uns untereinander zu teilen befohlen. Die Mildtätigkeit dieses redlichen Alten hat mich desto mehr gerührt, weil ich dadurch instand gesetzt wurde, mit meinem treuen Freunde Bassa richtig zu werden. Gott vergelte meinem liebreichen Vater – und bescheidenen Gläubiger – und lasse mich durch die Erfahrung meiner Unordnung von der Gewohnheit derselben immer mehr und mehr abgebracht und in einer klugen Haushaltung des zeitlichen Segens allmählich gelehrt und geübt werden.

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Meine Geschäfte in dem Hause meines Wohltäters haben bloß in einem Briefwechsel mit seinem Bruder, in dem Unterricht der ältesten Tochter des Hauptes unserer Familie und einer kleinen Handreichung eines jüngern Bruders, der auf dem Kontor ist und George heißt, bisher bestanden. Gott hat diese Arbeiten bisher mit einer sichtbaren Hand gesegnet und sei dafür vom Grund des Herzens gelobt und gepriesen im Namen seines lieben Sohnes, Jesu Christi. Er wolle mich ferner aus seiner Fülle Gnade um Gnade schöpfen lassen und mir den Beistand seines guten und heiligen Geistes zu allen meinen Werken verleihen und alles zu seiner Ehre und zum Heil meiner Seele und anderer gedeihen lassen, mich zum treuen Haushalter des mir geliehenen Pfundes schaffen, und meinen Glauben in unverfälschter Liebe meines Nächsten immer wirksamer und fruchtbarer werden lassen an Werken, die er mir zubereitet und die ihm angenehm sind in dem Sohn seiner Liebe, meinem Hohenpriester und Fürsprecher. Amen.

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Gott hat sich insbesondre des Briefwechsels meines Freundes bedient, mich gegen den Sauerteig des Aberglaubens und der Heuchelei wachsam zu erhalten. Er wolle an seiner eignen Seele diese mir so heilsame Prüfung mit allem geistlichen Segen belohnen.

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Den 6. Dezember, als am zweiten Adventssonntage, hat mir Gott Gnade gegeben, zum heiligen Nachtmahl zu gehen, da ich den Tag vorher mit sehr vieler Rührung bei Pastor Essen, der die Stelle meines kranken Beichtvaters Pastor Gericke vertrat, zur Beichte gewesen. Ich wiederhole Gott meinen kindlichen Dank für alle die Barmherzigkeit, mit der er mich zu diesem heiligen Werk erweckt, dasselbe vollbringen, und den Frieden und die Früchte davon mich hat genießen lassen.

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Den 11. Dezember hatten wir Bußtag, und ich brachte den Abend mit einem Briefe zu, dessen Inhalt mir immer sehr denkwürdig sein soll. Gott sei mir armen Sünder gnädig und wolle mich nicht selbst verwerflich sein lassen, indem ich anderen predige.

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Den 13., als am dritten Adventsonntage, fühlte ich bei Tische eigene, dunkle Empfindungen, zu denen das Schicksal meines Freundes Anlass zu geben schien – es deuchte mir, etwas Ähnliches an seiner Schwester gewahr zu werden, ohne dass ich sagen konnte, worin es eigentlich bestünde. Ich ersuchte sie, so gelind als möglich an ihren Bruder zu schreiben, und bot mich selbst an, ihr hierin behilflich zu sein, welches sie sehr geneigt anzunehmen schien. Den 14. speiste ich oben für mich allein und arbeitete am versprochenen Briefe, der mir ganz verkehrt zu geraten schien, indem es mir vorkam, als wenn die Hand immer ganz andre Worte und Gedanken schrieb, als mein Kopf dachte. Ich schickte das, was ich aufgesetzt, hinunter und war unruhig über die Aufnahme meiner Einfälle; deswegen ich selbst beim Ausgehen bei ihr ansprach, um mich teils zu entschuldigen, teils etwas näher erklären zu können. Sie kam mir sehr betrübt vor, welches ich ihrer Empfindlichkeit über unsers Bruders Schicksal zuschrieb. Ich kam des Abends zum Essen zu Hause und wurde früher als gewöhnlich durch lauter dunkle Empfindungen auf meine Stube getrieben, wo ich nach Lesung einiger Kapitel im Buch Hiob und einiger Psalmen, wenn ich nicht irre 12-20, mit vieler Ruhe und Trost zu Bette ging. Ich war mir desselben im Einsteigen bewusst und dankte Gott dafür und wünschte mir, in der Gemütsstille einschlafen zu können. Ich bin nicht imstande, dasjenige recht aufzusetzen, was ich kurz darauf empfunden. So viel und so treu als ich kann, will ich es mit Gottes Hilfe tun, um mir das Andenken davon zu erhalten, und weil diese Begebenheit der Grund zum Teil eines Entschlusses gewesen, dessen ich mich für unfähig gehalten habe. Ich dachte an meines Freundes Schicksal und dankte Gott, von dergleichen Anfechtungen des Fleisches überhoben zu sein, und bat ihn aufs künftige. So viel bin ich mir bewusst, dass ich nicht geschlafen – ob ich wie ein recht Wachender gewesen oder wie, davon weiß ich nichts. Ich hörte eine Stimme in mir, die mich über den Entschluss, ein Weib zu nehmen, frug – und aus Gehorsam gegen ihn – ich redete nicht ein Wort, es kam mir aber vor, als wenn ich mit einem Geschrei aufspränge und schrie: Wenn ich soll, so gib mir keine andere als die Schwester meines Freundes. – Es schien mir, als wenn ich die fröhliche Versicherung mit einer feierlichen Stimme hörte, dass es eben die wäre, die für mich bestimmt, so lange und so wunderbar aufgehoben. – Ich habe mich der Ehe aus vernünftigen Torheiten anfänglich begeben, ich habe den ehelosen Stand als eine Züchtigung meiner Jugendsünden gern auf mich nehmen wollen und Gott darum gebeten, auch meinen Leib zu einem Opfer zu machen, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Ja, weil Gott mit einer besondern Vorsicht durch seine Engel über mich gewacht, dass ich zu keiner fleischlichen Vermischung habe sündigen können. – Abraham glaubte und wankte nicht; gesetzt, mein Leib sollte erstorben sein: gibt er nicht dem Einsamen Kinder und kann aus Steinen welche erwecken? – Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich’s meine, und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege. Psalm 139,23.24. Der Herr erlöset die Seele seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden keine Schuld haben. Psalm 34,23. Ich stand den 15., am Tage Johanna, mit dem Gedanken auf, zu heiraten, nachdem ich mich und meine Freundin der Barmherzigkeit Gottes empfohlen hatte, der alles Menschenwerk zugrund gehen lässt und diejenigen, die auf ihn harren und auf seine Güte trauen, nicht will zuschanden werden lassen. Mit diesem Sinn erhielt sie den ersten guten Morgen von mir, da sie vielleicht eben beschäftigt war, den Brief an ihren Bruder zu schreiben. Den 16. Dezember schrieb ich an meinen Vater, dessen Antwort ich den 27. erhielt, der mich aus Gott wies. Den 28. meldete ich meinem Freund von meinem Entschluss, und Gott gab Gnade zu meinem Brief. Den Morgen darauf schickte ich denselben an seine Schwester herunter, nachmittags erhielt ich einen Brief an sie, der unter der Aufschrift meines Namens ankam. Ich gab denselben ab, und sie meldete mir, dass sie Hoffnung hätte.

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Der letzte Tag des 1758. Jahres war voller außerordentlicher Auftritte zwischen Herrn Arend und mir, den ich wie Saul unter den Propheten mit mir reden hörte. Hiskia sagte von einem Tage: „Das ist ein Tag der Not und Scheltens und Lästerns Die Kinder sind kommen an die Geburt, und ist keine Kraft da, zu gebären.“ 2. König. 19,3. Ich wurde durch die Sinnesänderung und die Eindrücke der Gnade, die ich in ihm wahrzunehmen schien, ungemein gerührt, hatte keine Ruhe unten, wo ich Abendbrot gegessen, und ging den letzten Abend dieses Jahres mit einer Freudigkeit, die Nacht zu sterben, ins Bett, wenn Gott so gnädig sein wollte, die Seele dieses Bruders zu retten.

1759

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Versöhnter Vater, durch das Blut deines lieben Sohnes, lass dieses Jahr an unser aller Seelen gesegnet sein. Schenke uns fleischerne Herzen in demselben, einen neuen Sinn und einen neuen gewissen Geist. Verwirf uns nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von uns. Lass durch seinen Finger den ganzen 51. Psalm in mein Herz eingeschrieben sein und erbarme dich meiner. Du willst unsre Sünden mit der Rute heimsuchen und unsre Missetat mit Plagen. Aber deine Gnade willst du nicht von uns wenden und deine Wahrheit nicht lassen fehlen. Du willst deinen Bund nicht entheiligen und nicht ändern, was aus deinem Munde gegangen. Du hast einst geschworen bei deiner Heiligkeit: Ich will David nicht lügen. Sein Same soll ewig sein und sein Stuhl vor mir wie die Sonne. Wie der Mond soll er ewiglich halten und gleich wie der Zeug in den Wolken gewiss sein. Sela. Psalm 89. Wende dich zu mir, sei mir gnädig, stärke deinen Knecht mit deiner Macht und hilf dem Sohn deiner Magd. Tue ein Zeichen an mir, dass mir‘s wohlgehe, dass es sehen, die mich hassen, und sich schämen müssen, dass du mir beistehest, Herr, und tröstest mich. Psalm 86.

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Lass meinen Vater, Bruder, Wohltäter und Freunde, denjenigen und diejenige besonders, mit denen ich lebe, deiner Liebe und reichen Segens sich zu erfreuen haben. Erhalte sie nach deinem gnädigen Wohlgefallen, schenke ihnen deinen Frieden, Leben und Wohltat. Lass das gute Werk, dass du in den Seelen einiger angefangen hast, durch deinen Geist vollendet werden und stärke dasjenige, was in mir und andern schwach werden sollte. Lass uns nicht die erste Liebe verlassen. Gib uns Ohren, zu hören, hilf uns streiten und überwinden, gib uns zu essen von dem verborgenen Manna, lass uns ein gut Zeugnis empfahen, und mit dem Zeugnis einen neuen Namen geschrieben, welchen niemand kennt, denn der ihn empfähet.

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Wache du selbst, Gott der Liebe, über mein Herz und das Herz unserer Schwester. Heilige und reinige es von allem fleischlichen Sinn durch deinen heiligen Geist. Wenn es dein gnädiger Wille ist, so lass auch an uns die Verheißung des 128. Psalms erfüllet werden. Lass alle, die vorübergehen, uns zurufen: Der Segen des Herrn sei über euch, wir segnen euch, wir segnen euch im Namen des Herrn! Rühmen und freuen müssen sich, die mir gönnen, dass ich recht behalte, und immer sagen: Der Herr müsse hochgelobt sein, der seinem Knecht wohlwill! Lass uns bald diesen Glückwunsch aus dem Munde unsers abwesenden Bruders hören, und lass ihn die Wahrheit und Kraft desselben in seinem Herzen fühlen! Amen!