Luther - Gerechtigkeit Gottes

 

Rückblick auf die reformatorische Entdeckung

 

(Martin Luther: Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgabe seiner lateini-schen Schriften, 1545, zitiert nach Walch, 2. Ausgabe, Bd. 14, Sp. 446-448, Rechtschreibung angepasst)

 

Unterdessen war ich in diesem Jahre von neuem daran gegangen, den Psalter auszulegen, indem ich darauf vertraute, dass ich geübter wäre, nachdem ich die Briefe St. Pauli an die Römer, an die Galater, und den, der an die Hebräer ge-richtet ist, in der Schule behandelt hatte. Ich hatte freilich mit einer außerordent-lichen Begierde darnach getrachtet, den Paulus im Briefe an die Römer zu verstehen, aber es hatte mir dabei, nicht etwa das kalte Blut, welches das Herz umfließt, im Wege gestanden, sondern das einige Wort, welches Cap. 1,17. (Vulg.) steht: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in demselben offenbart.“ Ich hasste nämlich dieses Wort: „Die Gerechtigkeit Gottes“, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer so unterwiesen war, dass ich es in philosophischer Weise verstehen müsste, von der formalen oder tätigen Gerechtigkeit (wie sie es nennen), nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten bestraft. Ich aber, der ich mich, so untadelhaft ich auch als Mönch lebte, vor Gott als einen Sünder befand und ein sehr unruhiges Gewissen hatte, auch die Zuversicht nicht fassen konnte, dass er durch meine Genugtuung versöhnt werde, liebte nicht den gerechten Gott, der die Sünder straft, ja, ich hasste ihn. Und wenn auch nicht mit geheimem Lästern, so zürnte ich doch sicherlich mit gewaltigem Murren auf Gott und sagte: Als ob es in der Tat nicht genug wäre, dass die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder durch das Gesetz der heiligen zehn Gebote mit jeder Art von Unglück beladen sind, – musste denn Gott auch noch durch das Evangelium Jammer auf Jammer häufen, und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn an-drohen? So wütete ich in meinem bösen und beunruhigten Gewissen, doch klopfte ich ungestüm bei Paulus an dieser Stelle an, indem ich aufs heftigste darnach dürstete, zu wissen, was St. Paulus meine.

Endlich, da ich Tag und Nacht darüber nachdachte, gab ich durch Gottes Gnade auf den Zusammenhang Acht, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird darinnen offenbaret, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebet seines Glaubens. Da fing ich an zu verstehen, dass die Gerechtigkeit Gottes die sei, durch welche der Gerechte durch die Gabe Gottes lebt, nämlich durch den Glauben, und dass dies die Meinung sei: durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die leidende (passivam), durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben gerecht macht, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebet seines Glaubens. Da habe ich empfunden, dass ich ganz wiedergeboren sei und durch die offenen Türen in das Paradies selbst eingegangen. Da erschien mir sofort die ganze Schrift ein ganz anderes Ansehen zu haben. Sodann ging ich durch die Schrift, so weit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch in anderen Wörtern dieselbe Redeweise (analogiam) als, das Werk Gottes, das heißt, welches Gott an uns wirkt; die Kraft Gottes, durch welche er uns kräftig macht; die Weisheit Gottes, durch welche er uns weise macht; die Stärke Gottes, das Heil Gottes, die Ehre Gottes.

Mit wie großem Hasse ich nun zuvor das Wort „die Gerechtigkeit Gottes“ gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich dies Wort hoch als das, welches mir das aller-lieblichste war. So ist mir diese Stelle des Paulus in der Tat die Pforte des Para-dieses gewesen. Später las ich des Augustinus Schrift „vom Geist und vom Buchstaben“, wo ich wider mein Erwarten darauf stieß, dass er auch die Ge-rechtigkeit Gottes in gleicher Weise auslegt von der Gerechtigkeit, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns gerecht macht. Und wiewohl dies noch unvoll-kommen geredet ist, und nicht alles deutlich ausdrückt, was die Zurechnung betrifft, so gefiel es mir doch, dass die Gerechtigkeit Gottes gelehrt werde, durch welche wir gerecht gemacht werden.