Luther - Sünde

 

Sünde als Verkrümmtheit und Eigenliebe

 

(Martin Luther, Auslegung zu Röm. 8,3, WA 56,355-357, Rechtschreibung ange-passt)

 

Es ist wohl wahr, dass das Gesetz der Natur allen bekannt ist und die Vernunft zum Besten rät. Aber zu was für einem Besten? Zu dem, was nicht im Sinne Gottes, sondern nach unserem Geschmack das Beste ist, d.h. sie rät uns zu dem, was im schlimmen Sinne gut ist. Denn sie sucht sich und das Ihre in allem, nicht aber Gott. Das tut allein der Glaube in der Liebe. Darum sind auch die Kenntnisse und Tugenden und alle Güter, die man in natürlicher Weise begehrt, sucht und findet, Güter im schlimmen Sinne, weil sie nicht auf Gott bezogen werden, sondern auf die Kreatur, d.h. aber auf sich selbst. Denn wie sollte sie einer auf Gott beziehen, den er nicht über alle Dinge liebt? Wie sollte er ihn aber lieben, den er nicht kennt? Wie sollte er ihn aber kennen, wenn er durch die Schuld der ersten Sünde in Finsternis und Banden liegt, was Erkenntnis und Willensvermögen anbelangt? Wenn also der Glaube nicht den Menschen er-leuchtet und die Liebe ihn nicht freimacht, dann kann er nicht irgend etwas Gutes wollen oder besitzen oder wirken, sondern er kann nur Böses tun, auch dann, wenn er das Gute tut. (…)

Wenn man sagt, die menschliche Natur kenne und wolle das Gute im allge-meinen und aufs Ganze gesehen, aber im Einzelfalle irre sie und wolle das Gute nicht, so müsste man besser so sagen, dass sie im Einzelfalle das Gute kennt und will, aber im allgemeinen kennt und will sie’s nicht. Der Grund dafür ist der: sie kennt nur ihr eigenes Gute, d.h. was ihr als gut, ehrenhaft und nützlich gilt, nicht aber, was für Gott und die anderen gut ist. Und so kennt und will sie das Gute im besonderen, ja nur für sich allein. Das stimmt mit der Schrift überein (vgl. Jes. 2,9-22), die den Menschen als einen beschreibt, der so sehr in sich ver-krümmt ist, dass er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter auf sich verdreht und sich in allem sucht.

Diese Verkrümmtheit ist jetzt etwas, was unserer Natur anhaftet, ein natürliches Gebrechen und ein natürliches Übel. Darum findet der Mensch in den Kräften der Natur keine Hilfe, sondern er bedarf von außen her irgendeines mächtigeren Beistandes. Das ist die Liebe, ohne die er sich immer gegen das Gesetz ver-sündigt: „Du sollst dich nicht lassen gelüsten“, d.h. du sollst nichts auf dich hin zurückwenden und nichts für dich selber suchen, sondern sollst für Gott allein in allen Stücken leben, handeln, denken. Erst dann wird er das Gute insgemein erkennen zusammen mit allem, was im besonderen Fall gut ist, und wird alles richten (vgl. 1. Kor. 6,2). Also ist uns etwas Unmögliches geboten.

Darum sagt der sel. Augustin in seinem Buche: „Von der Gnade und dem freien Willen“, im sechzehnten Kapitel: „Er gebietet um deswillen manches, was über unser Vermögen geht, damit wir innewerden, was wir von ihm erbitten müssen. Der Glaube nämlich ist’s, der durch sein Flehen und Bitten erlangt, was das Ge-setz befiehlt.“ (…)

Vergeblich wird von einigen das Licht der Natur hoch erhoben und dem Lichte der Gnade gleichgestellt, während es doch vielmehr Finsternis ist und das Wider-spiel der Gnade. Darum wird es auch von Hiob und Jeremia verflucht (vgl. Hiob 3,1ff. und Jer. 20,14), dass es ein böser Tag sei und das allerschlimmste Schau-en. Denn dies Licht ist sogleich nach der Sünde angebrochen, wie geschrieben steht: „Da wurden ihr beider Augen aufgetan“ (1. Mose 3,7). Die Gnade nämlich stellt außer Gott keinen Gegenstand vor sich hin, zu dem sie getrieben würde und hinstrebte. Ihn allein sieht sie, ihn allein sucht und erstrebt sie in allem und alles andere, was sie in der Mitte zwischen sich und Gott sieht, überspringt sie, als ob sie’s nicht sähe, und richtet sich rein auf Gott. Das ist „das rechte Herz“ und „der rechte Geist“ (Ps. 7,11; 78,37; 51,12).

Die Natur aber stellt außer sich selber keinen Gegenstand vor sich hin, zu dem sie getrieben würde und hinstrebte. Sich allein sieht sie und sucht sie und er-strebt sie in allen Dingen; und alles andre, auch Gott selbst, der in der Mitte steht, überspringt sie, als ob sie’s nicht sähe, und richtet sich rein auf sich selbst. Das ist „das verkehrte Herz“ und „das gottlose Herz“ (Ps. 101,4). So wie die Gnade Gott an die Stelle von allem andern setzt, was sie sieht, auch an die Stelle von sich selbst, und ihn sich selber vorzieht und allein das sucht, was Gottes ist, und nicht das, was das Ihre ist: so setzt umgekehrt die Natur sich selbst an die Stelle von allem andern, ja sogar auch an Gottes Stelle, und sucht allein, was das Ihre ist, und nicht, was Gottes ist. Darum ist sie sich selber der erste und größte Ab-gott. Alsdann wandelt sie sich auch Gott in einen Götzen um und die Wahrheit Gottes in Lüge, endlich auch alles Geschaffene und alle Gottesgaben. Die Gnade gibt sich bei allen Dingen, die sie sieht, nicht zufrieden, es sei denn, dass sie Gott in ihnen und über ihnen sieht und will, wünscht und darüber sich freut, dass alles zur Ehre Gottes gereicht, in Erscheinung tritt und wirksam ist. Die Natur hingegen hält alles, was sie sieht, für gänzlich wertlos, wenn es nicht ihrem Vorteil dienen will und für sie da ist und tätig ist. Sie schätzt dies alles erst dann, wenn sie’s dahin gebracht hat, dass sie’s zu ihrem Genuss und Gebrauch und zu ihrem eigenen Besten verwenden kann.

Das ist geistliche Hurerei und gottwidriges Wesen und Verkrümmtheit, die über alles Maß geht. Man kann also diese Klugheit nicht Licht nennen, man muss sie richtiger Finsternis heißen. Es müsste denn sein, dass sie einer darum Licht nennt, weil sie durch Vernunft und Sinne sehen und erkennen kann. Sonst, was den Trieb anbelangt, mit dem sie das, was sie erkannt hat, auf sich zurückbeugt, ist sie Finsternis im wahrsten Sinn des Wortes. Sie kann auch bei ihrer Natur nicht anders handeln, als dass sie alle Dinge auf sich selber hinlenkt. Denn sie kann Gott und sein Gesetz nicht lieben, wie hier der Apostel sagt.

Ein Zeichen für dies alles ist dies, dass sie, wenn jene Güter in reicher Fülle zu-strömen, wohl vergnügt und ruhig ist; entschwinden sie aber, dann ist sie bestürzt und unruhig. Nicht also die Gnade. Sie bleibt von beiden Seiten her unange-fochten, sie liebt und beobachtet allein den Willen Gottes in allen Dingen und ist darum zufrieden, wie’s auch immer und was auch immer kommen mag. Sie ist zufrieden, sowohl bei sich selber als bei allen andern. Alles, was Gott tut und will, das will sie auch und das gefällt ihr wohl, mag’s noch so bitter sein; ja allezeit lobt und benedeit sie Gott, auch dann, wenn ihr höchst Widerwärtiges und Betrüb-liches widerfährt. Sie weiß in traurigen Stunden fröhlich zu sein und in fröhlichen Stunden zu trauern. Das ist dem Fleische aus seinen eigenen Kräften unmöglich.