J. Gerhard - Sünde

 

1. VON DER WAHREN ERKENNUNG DER SÜNDEN.

 

DAS MITTEL DER GENESUNG IST DAS BEKENNTNIS DER KRANKHEIT.

 

Heiliger Gott, gerechter Richter, meine Sünden stehen vor meinen Augen und vor meinem Geiste. In jeder Stunde denke ich an den Tod; denn der Tod steht mir in jeder Stunde bevor. An jedem Tage denke ich an das Gericht; denn von jedem Tage werde ich Rechenschaft geben müssen im Gericht. Ich durchforsche mein Leben, und siehe, es ist ganz eitel und abscheulich. Eitel und unnütz sind viele meiner Handlungen, eitel sind noch mehrere meiner Reden, eitel sind noch dazu die meisten meiner Gedanken. Nicht bloß eitel ist mein Leben, sondern auch abscheulich und schändlich. Ich finde nichts Gutes in ihm. Wenn etwas Gutes in ihm zu sein scheint, so ist es doch nicht wirklich gut und vollkommen; denn die Erbsünde und das natürliche Verderben, das nichts unberührt lässt, hat es geschändet. Der heilige Hiob sprach (9,28.): Ich fürchte alle meine Schmerzen. Wenn der Heilige so klagt, was soll der Gottlose tun? Alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid Jes. 64,6. Wenn unsere Gerechtigkeit so ist, wie in aller Welt wird da unsere Ungerechtigkeit sein? Wenn ihr alles getan habt, spricht unser Heiland, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte Luk. 17,10. Wenn wir aber unnütze sind, selbst wenn wir gehorchen, so werden wir ja ganz gewiss abscheulich sein, wenn wir übertreten. Wenn ich mich selbst und all mein Vermögen, auch wenn ich nicht sündige, dir, heiliger Gott, schuldig bin, was werde ich da für meine Sünde als Lösung geben können? Selbst unsere Gerechtigkeit, oder was wir so dafür halten, ist im Vergleich zur göttlichen Gerechtigkeit eine volle Ungerechtigkeit. Im Finstern sieht man wohl eine Lampe leuchten; aber stellt man sie in die Strahlen der Sonne, da ist’s aus mit ihrem Leuchten; ein Holz hält man oft für gerade, wenn man das Richtscheit nicht anlegt, tut man das aber, so findet man, wie es hie oder da gekrümmt ist und anläuft; oft wohl wird es den Anschein haben für die Blicke der Betrachter, als sei das Bild irgend welcher Gestalt vollkommen dargestellt, und doch ist’s in den Augen des Künstlers im hohen Grade unvollkommen. So ist oft voller Flecken, wenn es der Richter zur Entscheidung vornimmt, was herrlich leuchtet, wenn es der wägt, der es getan hat. Denn die Gerichte Gottes sind anders als die der Menschen. Vieler Sünden bin ich mir mit Schrecken bewusst; aber die Zahl derer, die ich nicht einmal weiß, ist noch größer: Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir, Herr, die verborgenen Fehle Ps. 19,13! Ich wage es nicht meine Augen zum Himmel zu erheben, denn ich habe an dem gesündiget, der im Himmel wohnet; und auch auf der Erde finde ich keine Stätte der Zuflucht, denn welche Gunst dürfte ich bei den Geschöpfen zu hoffen wagen, da ich an dem Herrn der Geschöpfe gesündiget habe? Mein Widersacher, der Teufel, verklagt mich. Billigster Richter, spricht er zu Gott, richte, dass jener mein ist aus Schuld, der dein nicht hat sein mögen aus Gnade; dein ist er nach der Schöpfung, mein ist er nach der Teilnahme an der Übertretung; dein ist er kraft der Versöhnung, mein kraft der Überredung; dir widerstrebt er, mir gehorcht er; von dir hat er das lange, prächtige Oberkleid der Unsterblichkeit und Unschuld empfangen, von mir dies lumpige Unterkleid des armseligsten Lebens; dein Kleid hat er weggeworfen, mit dem meinigen kommt er zu dir. Richte, dass jener mein und mit mir der Verdammnis zu weihen ist. Es verklagen mich alle Elemente. Der Himmel spricht: Ich habe das Licht dir zum Troste dargereicht. Die Luft spricht: Ich habe dir alle Gattung der Vögel zum Dienste gestellt. Das Wasser spricht: Ich habe dir die mancherlei Gattungen der Fische zum Essen gegeben. Die Erde spricht: Ich habe Brot und Wein dir zur Nahrung gegeben; aber du hast alles deß zur Schändung unsers Schöpfers gemissbraucht; alle unsere Segnungen mögen sich daher für dich in Unsegen verkehren. Das Feuer spricht: Meine Flamme soll ihn verzehren. Das Wasser spricht: Meine Woge soll ihn verschlingen. Die Luft spricht: Mein Sturm soll ihn umtreiben. Die Erde spricht: Meine Tiefe soll ihn verzehren. Es verklagen mich die heiligen Engel, die mir Gott hier zum Dienste und dort zur Gesellschaft gegeben hatte; aber durch meine Sünden habe ich mich für dieses Leben ihres heiligen Dienstes und für das zukünftige der Hoffnung ihrer Gemeinschaft beraubt. Auch die Stimme Gottes, das ist das göttliche Gesetz, verklagt mich. Entweder muss ich das göttliche Gesetz erfüllen, oder sterben; aber es ist mir unmöglich, das Gesetz zu erfüllen, und unerträglich ist’s, in Ewigkeit verloren zu sein. Es verklagt mich Gott, der sehr strenge Richter, der allmächtige Vollzieher seines ewigen Gesetzes. Ihn kann ich nicht täuschen, denn er ist die Wahrheit selbst; ihm kann ich mich nicht entziehen, denn er herrschet allenthalben mit Gewalt. Wohin also soll ich fliehen? Zu dir, o lieber Christus, du unser einiger Erlöser und Seligmacher. Meine Sünden sind groß, aber deine Versöhnung ist größer; meine Ungerechtigkeit ist groß, aber deine Gerechtigkeit ist größer. Ich erkenne das an, du verzeihe; ich gestehe das, du bedecke; ich enthülle das, du verhülle; in mir ist nichts, was mir nicht zur Verdammnis gereichte; in dir ist nichts, was nicht meine Seligkeit wirkte. Ich habe vieles begangen, weshalb ich mit allem Rechte verdammt werden kann, aber du hast nichts unterlassen, wodurch du mich nach deiner Barmherzigkeit selig machen kannst. Ich höre eine Stimme im Liede der Lieder (Hohel. 2,14), die heißt mich meine Zuflucht nehmen in den Felslöchern; du bist der festeste Fels, die Löcher des Felsen sind deine Wunden; in diesen will ich mich verbergen vor den Anklagen aller Geschöpfe. Meine Sünden schreien zum Himmel, aber kräftiger schreiet dein Blut für meine Sünden vergossen. Meine Sünden sind vermögend genug, mich vor Gott zu verklagen, aber dein Leiden ist viel vermögender, mich zu schützen. Mein durch und durch ungerechtes Leben ist vermögend, mich in Verdammnis zu stürzen; aber dein Leben voller Gerechtigkeit ist vermögender, mich selig zu machen. Von dem Throne der Gerechtigkeit bringe ich meine Sache vor den Thron der Barmherzigkeit und begehre nicht anders vor das Gericht zu treten, als wenn dein heiligstes Verdienst in’s Mittel gestellt wird zwischen mich und dein Gericht.