Wachsamkeit

Wachsamkeit

Crane in its vigilance - illustration in the Harley Bestiary

Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

 Was sind das für komische Vögel? Und was hält der Rechte so seltsam mit seinem Fuß, während die anderen die Augen schließen und schlafen? Es ist der „Kranich mit dem Stein“. Wenn sie das Motiv nicht kennen, ist es aber nicht verwunderlich. Denn es geht auf den römischen Gelehrten Plinius zurück, der vor 2000 Jahren in einem Buch zur Naturkunde behauptete, bei Kranichen sei ein erstaunliches Verhalten zu beobachten: 

 

„Zur Nachtzeit stellen die Kraniche Wachen auf, die mit einem Fuß einen kleinen Stein hochhalten. Lassen sie ihn schlafmüde fallen, so wird ihre Unachtsamkeit offenbar. Die anderen Kraniche schlafen, von einem Fuß auf den anderen wechselnd, den Kopf unter einem Flügel geborgen.“ 

 

Die Sache ist nicht darum bemerkenswert, weil die Vögel Wache halten – das kennt man von vielen Tierarten. Sondern erstaunlich ist, dass die postierten Wächter sich offenbar selbst misstrauen. Sie rechnen damit, vom Schlaf übermannt zu werden. Und sie treffen für diesen Fall die kluge Vorkehrung, dass sie mit der Kralle einen Stein aufheben. Denn sobald sie einschlafen, wird ihnen dieser Stein entgleiten – er fällt klappernd zu Boden – und schon sind sie wieder wach. Das Verfahren beweist hohe Intelligenz! Es zeigt, dass die Tiere mit ihrer eigenen Schwäche rechnen. Wenn man bei ihnen von „Bewusstsein“ sprechen könnte, müsste man folgern, sie seien sich der eigenen Fehlbarkeit „bewusst“. Und gerade ihr eingeschränktes Selbstvertrauen macht sie zu hervorragenden Wächtern. Denn mit Hilfe des Steins haben sie einen Weg gefunden, sich im kritischen Moment selbst zu wecken. Nun kann es sein, dass Kraniche gar nicht tun, was Plinius da behauptet. Vielleicht ist es eine Legende. Doch so oder so hat die Geschichte den „Kranich mit dem Stein“ zu einem beliebten Wappentier gemacht, zu einem verbreiteten Symbol kluger Wachsamkeit. Und selbst wenn Plinius die Intelligenz der Tiere überschätzt haben sollte, steckt in der Sache noch viel Wahrheit. Denn oft ist ungebrochenes Vertrauen in die eigene Willenskraft ein Zeichen gefährlicher Naivität – während der, der seine Schwächen kennt, Vorkehrungen treffen kann, um sich (und andere!) vor ihren Folgen zu schützen. Der Kranich mit dem Stein ist gerade darum ein zuverlässiger Wächter, weil er sich nicht für unfehlbar hält. Er rechnet damit, dass ihn seine Aufgabe überfordern könnte – und schämt sich dessen nicht. Weil sich die schlafenden Kraniche aber auf den Wächter verlassen, sorgt er vor. Das beweist Nüchternheit und Demut, wenn einer seiner Schwäche so offen ins Auge schaut! Und diese Tugenden spielen auch im christlichen Glauben eine Rolle. Denn der empfiehlt den Starken, lieber nicht „groß“ von sich zu denken, sondern auf den zu vertrauen, der größer ist als alles. Gewiss freut man sich als Christ über die Kräfte und Gaben, die man hat. Man verlässt sich aber nicht auf seine Gaben, sondern auf Gott. Und das scheint mir der Weisheit des Kranichs sehr verwandt. Auch der bietet seine ganze Willenskraft auf. Aber er sieht voraus, dass er allzu bald müde werden wird. Er hat die Weisheit dessen, der sich nicht für weise hält. Er ist nicht so naiv, sich selbst zu vertrauen. Er will aber auch nicht versagen, wo sich andere auf ihn verlassen. Und man erkennt es daran, dass er nach dem Stein greift. Wie ist das also? Haben wir auch so einen Stein, der im Moment der Schwäche zu unserer Stärke wird? Für mich ist das der Glaube.