Blinde Blindenführer

Blinde Blindenführer

The Parable of the Blind Leading the Blind / National Museum of Capodimonte, Public domain, via Wikimedia Commons

 

Es ist ein Bild voller Tragik und Komik. Und wer es nicht weiß, kommt nicht leicht auf die Idee, dies sei ein biblisches Motiv. Denn die Landschaft wirkt sehr europäisch. Und die Kleidung der Personen verweist ins Mittelalter. Doch Bruegel illustriert hier das Wort Jesu, die Pharisäer seien „blinde Blindenführer“ – und wenn ein Blinder dem anderen den Weg wiese, würden beide in die Grube fallen (Matth. 15,14; Luk. 6,39). Das leuchtet nicht nur ein. Es ist beinahe trivial. Denn dass einer den anderen führt, macht nur Sinn, wenn der Erste mehr sieht als der Zweite. Wenn alle Beteiligten gleich schlecht orientiert sind, kann der Zusammenschluss keinem zum Vorteil gereichen, da zwölf blinde Augen nicht mehr sehen als eines allein. Wo keine Kompetenzen sind, nützt es nichts, sie zu bündeln. Und was herauskommt, wenn man‘s trotzdem versucht, zeigt Bruegels Bild. Da suchen sechs Männer den Weg aus dem Dorf heraus. Vielleicht wollen sie zu einer Brücke, die über den Fluss führt. Aber jener, der sich berufe fühlte voranzugehen, hat sie an der falschen Stelle zur Uferböschung geführt – und liegt schon rücklings im Wasser. Er trägt eine Art Laute oder Gitarre bei sich. Vielleicht hat er gerade noch im Wirtshaus Musik gemacht. Der Zweite stolpert gerade über ihn. Er hat schon jeden Halt verloren. Und auch der Dritte steht nicht mehr sicher auf den Beinen. Die drei Hinteren werden wohl gleich den Anschluss verlieren und – vom Geschrei der Vorderen gewarnt – dort stehen bleiben. Wenn sie aber den Verunglückten zu Hilfe eilen, wird wohl keiner der sechs trocken bleiben. Schon jetzt haben sie Anlass, das Unternehmen zu bereuen. Aber, woran lag‘s? Eine Kolonne zu bilden, war doch prinzipiell keine schlechte Idee! Diese Männer wissen um ihr Handicap. Und das ist gut. Denn wer sich die eigene Blindheit eingesteht, ist schon viel klüger als der, der sich einredet sehend zu sein. Wer sich einem Führer anvertraut, hat begriffen, dass er allein nicht weiterkommt. Er hat genügend Demut, um die überlegene Sehkraft anderer anzuerkennen. Neben dieser Demut braucht er aber eine gehörige Portion Vertrauen. Denn sobald er sich an eine Kolonne dranhängt, gibt er die Kontrolle ab. Er bildet mit den anderen eine Schicksalsgemeinschaft. Und wenn der Vordermann ihn schlecht führt, merkt er’s erst, wenn es zu spät ist. Natürlich kann sich der Hintere mit dem Gedanken beruhigen, dass auch der Vorausgehende kein Interesse hat, ins Unglück zu laufen. Wenn ich ins Flugzeug steige, kann mich der Gedanke trösten, dass auch der Pilot heil nach Hause kommen will. Schon deshalb wird er sein Bestes geben. Doch so ein Vertrauensvorschuss macht beim Gänsemarsch nur Sinn, wenn der Erste in der Reihe mehr sieht als die Übrigen. Und sollte der nur vorangehen, weil er gern das Kommando hat oder sich über seine Blindheit nicht im Klaren ist, sollte er nur vorangehen, weil die Anderen ihn dazu gedrängt haben oder ihr Zutrauen ihn mit Stolz erfüllt – dann wird’s gefährlich. Denn die Anderen können ja nicht sehen, dass er auch nichts sieht. Sie spüren es erst am Ergebnis. Nun hat Jesus sein Gleichnis auf die religiösen Führer des Volkes gemünzt. Und Bruegel hat das keineswegs vergessen, sondern ruft es uns durch das Kirchlein im Hintergrund in Erinnerung. Kirche hat den Auftrag, den Weg zu weisen, der zu Gott führt. Und so geht es hier um das „Sehvermögen“ in Glaubensfragen. Die als „blinde Blindenführer“ titulierten Pharisäer sind nach Jesu Urteil genauso inkompetent wie das Volk, das sie führen möchten. Doch im Unterschied zum Volk, das gar nicht vorgibt viel zu wissen, halten sich die Pharisäer für sehend. Und sie richten genau darum Unheil an, weil sie für ihre eigene Blindheit blind sind. Nun wird niemandem zum Vorwurf gemacht, dass er in Glaubensfragen der Leitung bedarf. Denn „niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11,27). Die menschliche Vernunft, die so viel Irdisches durchschaut, ist in göttlichen Dingen stockblind. Sie kann Gott nicht erkennen, weil er über ihren Horizont geht. Sie kann nur von Gott selbst über Gott belehrt werden, wenn er sich offenbart. Und wer zugibt, dass seine Vernunft bezüglich Gottes eine so begrenzte Reichweite hat, ist dadurch schon viel weiter gekommen als ein anderer, der sich einredet, in Glaubensfragen hellsichtig und klug zu sein. Wer um seine Blindheit weiß, kann sich an jemanden „dranhängen“, der mehr versteht. Am besten an Jesus Christus selbst. Und wenn Gottes Sohn vorangeht, ist das mit der Kolonne auch eine prima Idee. Doch kann in der Kolonne jeder Hintermann nur so gut führen, wie er von seinem Vordermann geführt wird. Und das gilt von modernen Theologen, Religionslehrern und Predigern genauso wie von den Pharisäern damals. Jesus hält sie nicht etwa für entbehrlich. Denn Glaubenswissen muss von Generation zu Generation weitergegeben werden. Aber die Vermittler, die den Nachkommenden Orientierung geben, können immer nur so gut führen, wie sie geführt werden. Keiner von ihnen ist schon „von sich aus“ sehend. Niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Und folglich kennt auch kein Pfarrer, Professor oder Bischof den himmlischen Vater anders als durch seine Offenbarung im Sohn. Keiner kennt diesen Sohn anders als durch das Neue Testament. Und so werden die geistlichen Blindenführer ihrer Aufgabe genau in dem Maße gerecht, wie sie sich selbst von Gottes Wort führen lassen. Nur durch die biblische Offenbarung haben Menschen Anteil an dem, was Gott von sich selbst weiß. Anders wissen sie praktisch nichts von ihm. Und so gebildet sie ansonsten auch sein mögen, dürfen sie diese ihre Unwissenheit doch nicht vergessen. Denn wenn sich die geführten Führer klüger vorkommen als das Wort, das sie führen soll, wenn sie dem Evangelium nur so weit trauen, wie sie es sich selbst „vernünftig“, „zeitgemäß“ und „bekömmlich“ ausgelegt haben – was wird dann geschehen? Wenn Theologen sich ermächtigt fühlen, „Überholtes“, „Sekundäres“ und „Zeitbedingtes“ aus dem Neuen Testament auszuscheiden, um nur den Rest weiterzugeben und zu predigen, der ihrem kritischen Auge noch „gültig“, „zeitgemäß“, „lebensdienlich“ und „zumutbar“ erscheint – wer führt dann eigentlich die Kolonne? Sind die Blindenführer dann noch „in der Spur“ und führen, wie sie von Christus geführt werden – oder haben sie ihm die Führung längst aus der Hand genommen? Wenn sie wirklich meinen, in göttlichen Dingen klüger zu sein als Christus und seine Apostel, warum überholen sie nicht den Vordermann und gehen selbst voran? Sollte ihr Sehvermögen dafür aber doch nicht reichen, warum kritteln und kürzen sie an dem herum, was ihre alleinige Richtschnur sein sollte? Sie meinen es wohl gut. Das tun die blinden Blindenführer ja meist! Doch wer sich vorbehält, nach eigenem Ermessen die Vernunft gegen die Hl. Schrift auszuspielen, folgt in Wahrheit weder dieser noch jener Autorität, sondern führt selbst. Insgeheim ist er überzeugt, mehr zu sehen als beide zusammen. Er ist für die eigene Blindheit blind geworden. Er meint mehr von Gott zu wissen, als Gott ihn durch Christus hat wissen lassen. Er führt nicht mehr im Namen Jesu, sondern auf eigene Faust. Und die Folgen zeigt Bruegels Bild. Denn das sind die schlimmsten Blinden, die sich für sehend ausgeben – und dann führen, ohne geführt zu werden.