Der Sturz des Ikarus

Der Sturz des Ikarus

Landschap met de val van Icarus / Pieter Bruegel der Ältere, Public domain, via Wikimedia Commons

Wenn sie diesem Bild einen Titel geben müssten – wie würden sie es nennen? Vielleicht „der pflügende Bauer“ oder „Küstenidylle am Abend“? Vielleicht „Heimkehr eines Handelsschiffes“ oder „Meerenge mit Klippen“? Das alles scheint treffender als der wirkliche Titel. Denn Pieter Breughel nannte sein Bild „Landschaft mit Sturz des Ikarus“. Und diese Beschreibung lässt den Betrachter ratlos, bis er drauf kommt, dass er Ikarus nicht am Himmel zu suchen hat, sondern unten im Meer, wo (unterhalb des Schiffes und über dem Angler) gerade noch zwei Beine aus dem Wasser ragen. Dieses winzige Detail – das ist der unglückliche Ikarus, der dem Bild seinen Namen gibt! Und der Betrachter wundert sich, warum Breughel nicht mehr daraus macht und die „Hauptsache“ nicht entsprechend groß als „Hauptsache“ darstellt. Denn der fliegende Ikarus hätte doch ein schönes Motiv sein können! Man kennt seine Geschichte aus der Schule: Dädalus und sein Sohn Ikarus werden auf Kreta gefangen gehalten und fliehen von dort mithilfe selbstgebauter Flügel. Doch an denen sind die Vogelfedern nur mit Wachs befestigt. Und so warnt Dädalus seinen Sohn, nicht zu hoch zu fliegen, weil sonst die Sonne das Wachs schmelzen könnte. Ikarus aber (vor lauter Begeisterung, dass er fliegt) vergisst die Warnung, wird übermütig, steigt hoch hinauf – und kommt der Sonne zu nahe. Seine Flügel lösen sich auf, der junge Mann stürzt ins Meer und ertrinkt. Das ist eine schlimme Sache. Und für alle, die sich ehrgeizig hoch erheben, liegt darin eine Warnung, die man nicht erklären muss. Doch von dem dramatischen Vorgang zeigt uns Breughel fast nichts. Und nicht mal den Vater Dädalus lässt er uns sehen – obwohl er in dem Moment, da Ikarus auf der Wasserfläche aufschlägt, noch vogelgleich am Himmel fliegen müsste. Der Schafhirte legt den Kopf in den Nacken und schaut zu den Wolken, als könnte er Dädalus erspähen. Irgendwo da oben, außerhalb unseres Blickfelds, dürfte der Vater schweben, der hilflos das Unglück seines Sohnes mit ansieht. Doch obwohl andere Bilder Dädalus am Himmel zeigen, gönnt uns Breughel nicht einmal das. Und man wundert sich. Denn ausgerechnet den Gegenstand, der sein Thema sein soll, nimmt der Maler nicht wichtig. Bei einem Meister wie Breughel kann das aber keine Nachlässigkeit sein, sondern muss etwas bedeuten. Und an diesem Punkt beginnt man zu verstehen. Denn es ist nicht nur der Maler, der den Absturz des Ikarus „nicht wichtig nimmt“ und ihn regelrecht „übersieht“, sondern die Figuren auf seinem Bild machen es genauso! So gleichgültig wie der Maler verhalten sich auch die von ihm dargestellten Personen. Und wenn sie die Tragödie überhaupt bemerkt haben, scheint ihnen doch egal zu sein, dass da einer ertrinkt. Dem Bauer fällt es jedenfalls nicht ein, seinen Pflug anzuhalten und Ikarus zu Hilfe zu eilen. Der Schafhirte starrt nach oben und rühr keinen Finger. Der Angler, rechts unten, muss den Fall des Ikarus gesehen haben. Aber er ist mit seiner Angelrute und der Schnur beschäftigt. Und den Leute auf dem Schiff wird es auch nicht verborgen geblieben sein – einige klettern ja in der Takelage herum. Aber niemand springt in ein Rettungsboot, niemand macht Anstalten herbeizueilen, ja niemand nimmt auch nur Notiz von dem jungen Mann, der da ums Leben kommt. Man behandelt ihn gerade so als „Nebensache“, wie der Maler ihn nur als „Nebensache“ auf seinem Bild unterbringt. Es ist nur ein Unglück mehr – es ist nicht weiter wichtig. Und keiner dieser Männer hat Lust, sich drum zu kümmern oder sich auch nur stören zu lassen. Denn schließlich hat jeder sein eigenes Geschäft, dem er nachgehen muss. Bevor wir uns aber darüber empören – ist es nicht auch bei uns so, dass sich unsere Anteilnahme an fremden Schicksalen in Grenzen hält? Wir hören jeden Tag neue Nachrichten von Unglücksfällen und Verbrechen, von Kriegen, Terroranschlägen und Naturkatastrophen rund um die Welt. Aber es wiederholt sich eben. Und wenn wieder mal 100 oder 200 Menschen gestorben sind – wer könnte da jedesmal mitfühlen, betroffen innehalten und weinen? Da kämen wir zu nichts anderem mehr – es ist zu viel des Leids! Und was nützte es auch, wenn wir jedesmal unsere Arbeit unterbrächen, um an den Ort des Geschehens zu eilen? Wir kämen doch zu spät. Wir können nicht alle retten. Und einige sind auch selbst schuld an ihrem Unglück, wie dieser Ikarus. Wer hat ihm denn gesagt, er sollte fliegen wie ein Vogel und dabei sein Leben riskieren? War er nicht gewarnt, dass die Sonne das Wachs seiner Flügel schmelzen könnte? Natürlich ist es schlimm für den Vater, dass der Junge nicht auf ihn gehört hat. Aber da es nun mal passiert ist – was nützte es, betroffen dabeizustehen oder aus der Fassung zu geraten? Wollten wir über jeden Verkehrstoten weinen, hätten wir viel zu tun. Und geholfen wäre damit niemandem. Denn unsere Arbeit ist auch wichtig. Und sie gelingt nicht, wenn wir uns vom Leid dieser Welt zu sehr irritieren lassen. Ist ihnen aufgefallen, wie sorgfältig der Bauer seinen Pflug führt? Die Furchen, die er zieht, liegen akkurat nebeneinander – und weil das Gelände uneben ist (und vorn am Wendepunkt auch sehr schmal), darum verlaufen die Furchen kunstvoll in langen Schleifen. Das ist gekonnt! Das ist durchdacht! Das kann man nicht mal eben unterbrechen, um hinunter ans Meer zu laufen, während das Pferd macht, was es will! Dasselbe gilt aber vom Hirten. Denn was würde wohl aus seinen Schafen, wenn er zum Ufer eilte, um Ikarus zu helfen? Während der Hirte in die Fluten springt, könnte sich seine Herde weit zerstreuen. Die Tiere würden sich verlaufen, würden gestohlen oder von Wölfen gerissen. Das käme den Hirten teuer zu stehen! Und jene Seeleute auf dem großen Handelsschiff? Könnten die etwa in der Meerenge spontan wenden? Würden sie bei dem kräftigen Wind nicht riskieren, in Untiefen oder auf Felsen zu geraten? Und wär‘s nicht unverantwortlich, mit dem plötzlichen Manöver viele Menschenleben zu gefährden, nur um eins zu retten? Allein von dem Angler ist sicher zu sagen, dass er den Unfall gesehen haben muss und auch reagieren könnte. Aber wenn der Mann ein Boot besäße, würde er dann wohl vom Ufer aus angeln? Und falls er Nichtschwimmer ist – was kann er schon tun? Warum meint Ikarus denn auch, er sollte fliegen? Warum bringt er sich mutwillig in Gefahr? War doch ‘ne blöde Idee, wie sie typisch ist, für eine gewisse Sorte junger Männer, die sich immer überschätzen! Die gehen voll auf Risiko – und andere sollen dann hinterherspringen, um sie zu retten? Ikarus wusste, was er tat. Und an seinem Übermut sind diese Männer nicht schuld. Sie sehen ihn bloß fallen. Aber geht er sie etwas an? Natürlich kann man von „unterlassener Hilfeleistung“ sprechen. Aber mit Verlaub – so wie die auf dem Bild, machen wir es doch auch! Die Fülle der Not auf dieser Welt gibt uns ein Gefühl der Ohnmacht. Und soweit nicht der eigene Familien- und Bekanntenkreis betroffen ist, regen wir uns nicht mehr auf. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es jedes Jahr zahllose Drogentote gibt, Verkehrstote und Mordopfer. Wir könnten auch noch die Suizide dazunehmen, die Abtreibungen und alle, die an Krebs sterben. Da geht für die Betroffenen jeweils eine ganze Welt unter – nämlich ihre gesamte persönliche Welt! Doch für den Rest dreht die Welt sich weiter und fordert ihre Aufmerksamkeit. Daher schützt sich ein Mensch vor dem Leid des anderen durch Abstumpfung und Routine. Denn wenn man‘s zu sehr an sich heranließe, geriete man selbst aus der Bahn. So platscht es zwar gewaltig – und wo Ikarus versinkt, kräuseln sich die Wellen. Aber im Handumdrehen hat ihn das Meer verschluckt. Und außer dem Vater gehen alle zur Tagesordnung über. Weil das aber auch unsere Wirklichkeit beschreibt, hält uns der Maler einen Spiegel vor und sagt „Schaut! Schaut nur, wie gleichgültig einer den Untergang des anderen erträgt!“ Wie sollen wir aber damit umgehen? Schämen wir uns? Oder rechtfertigen wir den inneren Abstand, weil es ohne doch nicht geht? „Ihr ignoriert die täglichen Tragödien,“ sagt Breughel, „ihr seht Menschen untergehen und seid im Grunde nur froh, dass es nicht euch oder eure Familie getroffen hat!“ Doch – wenn das auch stimmt –, was sollen wir mit der Erkenntnis anfangen? Einerseits wirkt es vernünftig, dass sich die Männer auf dem Bild innerlich „abkoppeln“ von dem Pechvogel, der in den Fluten versinkt. Und andererseits erscheint uns genau dieses „Abkoppeln“ als ein schrecklicher Mangel an Liebe, Solidarität, Empathie und Engagement. Menschen nehmen hin, was sie nicht ändern können. Aber ist es darum „in Ordnung“? Oder ist es tiefe Unordnung, dass hier jeder nur auf das Seine schaut? Bauer, Hirte, Angler – sie lassen sich nicht aus der Fassung bringen. Unbeirrt sorgen sie dafür, dass ihre Familien das Brot bekommen, das sie brauchen. Sie bewältigen den Schrecken mit Routine. Und doch scheint hier etwas grundverkehrt. Liegt also ein Gefühl von Harmonie in dieser einladenden Landschaft – und nur Ikarus stört die Idylle mit dem Zappeln seiner Beine? Oder ist die Lethargie all der biederen Leute ein Skandal? Breughel selbst gibt keine Antwort und offeriert keine Lösung. Deutlich ist aber, dass er uns die Illusion der „heilen Welt“ nehmen will. Auf den ersten Blick vermittelt sein Bild friedvolle Abendstimmung. Doch tatsächlich zeigt es eine erlösungsbedürftige, kranke und verdrehte Welt, in der Menschen hinnehmen, was nicht hinnehmbar ist, nur um weiter zu funktionieren. Wir haben nicht die Kraft, an allen Opfern Anteil zu nehmen. Wir können nicht mit jedem mit-leiden – und lassen darum viele alleine leiden. Wir arrangieren uns mit der Not, solange sie die anderen trifft. Und die fühlen sich im Stich gelassen. Denn – von wegen „alle Menschen werden Brüder“! Die erträumte Solidarität erweist sich als Hohn und Spott, weil Ikarus absäuft, und keiner hinterherspringen will. Ein junge Mann fällt vom Himmel, und ein Vater verliert seinen Sohn. Aber weiter bringt das niemand aus dem Konzept. Denn Ähnliches geschieht zu oft. Die Welt schreit nach Erlösung, ohne sich selbst erlösen zu können. Und das Neue Testament bestätigt, dass sie so auch keineswegs dem Willen ihres Schöpfers entspricht. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter fällt ein Mensch unter die Räuber, und sie lassen ihn halb tot am Wegesrand liegen. Jesus aber ist nicht damit einverstanden, dass ein Priester und ein Levit vorübergehen, ohne zu helfen (Lk 10,25-37). Wir hören von dem armen Lazarus, der immerzu hungrig, krank und bettelnd vor der Tür des reichen Mannes lag. Der Reiche lebte jeden Tag in Saus und Braus und ging an Lazarus vorüber, ohne ihm zu helfen. Jesus aber ist nicht einverstanden (Lk 16,19-31). Er trifft am Teich Betesda einen Gelähmten, der dort seit 38 Jahren versucht, im rechten Moment in das wundertätige Wasser zu gelangen. Doch hat er keine Verwandten, die ihm helfen könnten. Und in all den Jahren erbarmte sich kein Fremder, den Kranken zum Teich hinzutragen. Jesus aber ist nicht einverstanden (Joh 5,1-18). Er lässt das nicht gelten, wenn sich einer für den anderen „nicht zuständig“ fühlt, sondern will, dass wir fremde Not mit dem gleichen Ernst bekämpfen wie unsere eigene (Mt 22,39; Mt 7,12). Und wenn wir uns von den Leidenden distanzieren, nimmt Jesus das persönlich. Haben wir die Hungrigen nicht gespeist und den Durstigen nichts zu trinken gegeben, haben wir die Fremden nicht aufgenommen, die Nackten nicht gekleidet und die Gefangenen nicht besucht, so haben wir das alles Jesus nicht getan – und sind ihm unsre Hilfe schuldig geblieben (Mt 25,31-46). Man kann sich also leicht denken, was er zu Breughels Bild sagen würde. Wo wir einem Leidenden aus seiner Not nicht helfen, obwohl wir‘s könnten, ist es genauso, als hätten wir ihn selbst in die Not hineingestoßen. Ikarus stirbt, und wir angeln weiter? Ja geht’s denn noch? Wir gucken in die Luft und bestellen unseren Acker? Das darf nicht sein! Darum lässt uns dieses Bild nicht in Ruhe und lässt uns unversöhnt mit der Wirklichkeit, in der wir leben. Das Bild bleibt ein Stachel im Fleisch. Es enthüllt die große Lebenslüge, dass wir mitfühlend wären und uns solidarisch verhielten. Das Bild schont uns nicht. Es deckt auf, was wir nicht sehen wollen. Und es erlaubt uns keinen resignierten Rückzug ins Private. Denn die Welt ist zwar, wie sie ist. Sie ist es aber nicht zu Recht – und darf nicht so bleiben.