Sodom, Lot und Christus
Ich will von den Städten Sodom und Gomorra erzählen, deren Verdorbenheit sprichwörtlich ist. Denn ihre Bewohner lassen nichts aus, was als böse und abscheulich gilt. Sie lügen und betrügen, stehlen und vergewaltigen, sie brechen die Ehe und brechen jeden Eid. Sie spucken auf Gottes Wort und lästern gegen das Heilige. Nach einiger Zeit hat Gott aber keine Lust mehr, sich das anzusehen. Seine Geduld ist zu Ende. Doch vor dem verdienten Strafgericht, das die Städte auslöschen wird, schickt Gott zu einer letzte Prüfung der Lage zwei Engel dorthin. Sie sollen sich nochmal vergewissern, ob die Vernichtung wirklich unumgänglich ist. Und diese Engel kommen auf ihrem Weg nach Sodom bei Abraham vorbei. Sie erzählen von ihrem Auftrag. Abraham aber erschrickt und sucht den drohenden Untergang so vieler Menschen zu verhindern, indem er mit Gott zu feilschen beginnt und sehr geschickt darauf hinweist, es könnten sich vielleicht unter den vielen bösen Menschen auch ein paar gute befinden, die sich nicht gegen Gottes Gebote vergangen haben. Abraham sagt zu Gott: „Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so dass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir!“ (1. Mose 18,23-25). Wahrlich, Abraham traut sich was, Gottes Pläne so offen in Frage zu stellen! Aber er weiß eben genau, dass es gegen Gottes Natur wäre, zusammen mit den Schuldigen auch nur einen einzigen Unschuldigen zu strafen. Es wäre nicht gerecht, alle über einen Kamm zu scheren! Und so beginnt Abraham mit Gott zu feilschen wie ein Teppichhändler auf dem orientalischen Basar. Zunächst geht es um 50 Gerechte, die sich vielleicht in den Städten befinden, und um derentwillen Gott die Städte verschonen soll. Und Gott lässt sich erweichen. Er verspricht, er werde Gnade walten lassen, wenn er 50 Gerechte findet. Doch Abraham geht noch weiter. Vielleicht sind es ja nur 45 oder 40, gibt er Gott zu bedenken, vielleicht nur 30 oder 20 Gerechte? Sollten die denn das Schicksal ihrer bösen Mitbürger teilen? Darf man sie mit den anderen in einen Topf werfen? Könnte man nicht, um der 20 Gerechten willen, die 1000 anderen davonkommen lassen? Als Bibelleser wartet man förmlich darauf, dass Gott die Geduld verliert und Abraham in die Schranken weist. Er redet ja mit Gott, als müsste er den Allwissenden darüber belehren, was angemessen ist! Gott aber lässt sich das gefallen. Und Abrahams Mut wächst um so mehr, je nachgiebiger Gott sich zeigt. Am Ende sagt Gott zu, um 10 Gerechter willen Sodom und Gomorra zu verschonen. Und Abraham kann wirklich stolz sein. Sein Beharren darauf, Gott könne doch die Gerechten nicht in das Schicksal der Gottlosen mit hineinziehen, zeigt erstaunliche Wirkung. Sein Drängen hat Erfolg. Und der weitere Verlauf bestätigt auch wirklich, wie sehr ein einziger Gerechter das Gericht Gottes aufzuhalten vermag. Die Engel verlassen nämlich Abraham, sie gehen nach Sodom und treffen dort nicht etwa die geforderten zehn, sondern nur einen einzigen gerechten Mann. Allein Lot, der Neffe Abrahams, begegnet den Fremden freundlich, heißt sie in der Stadt willkommen und beherbergt sie. Als die Nacht hereinbricht wird Lots Haus dann aber von einer wilden Meute umlagert, und die Bewohner Sodoms beweisen, dass sie wirklich so schlecht sind wie ihr Ruf. Sie verlangen von Lot, seine Gäste herauszugeben und sie auf die Straße zu schicken, weil die Meute sich einen brutalen Spaß machen und sich an den Gästen vergehen will. Der Mob möchte Blut sehen, man will Lots Gäste vergewaltigen, missbrauchen und lynchen! Und nur weil es nicht gewöhnliche Reisende sind, sondern unerkannte Engel, die jene grölende Menge mit Blindheit schlagen, wird die böse Absicht vereitelt. Die Angreifer können die Tür nicht mehr finden, der Anschlag auf Lots Haus scheitert, und die Meute verzieht sich. Doch das Urteil über Sodom ist damit definitiv gefallen. Der verdiente Untergang ist nicht mehr abzuwenden, weil sich gezeigt hat, dass es keine zehn Gerechte in Sodom gibt, sondern nur den einen Lot. Aber darin ist die Erzählung ganz konsequent: Gottes Strafgericht kann nicht stattfinden, solange sich Lot mit seiner Familie in der Stadt befindet. So zornig entschlossen Gott auch ist – er will auf keinen Fall, dass ein Gerechter das Schicksal der Schuldigen teilt, und so wird Lot aufgefordert, schleunigst die Stadt zu verlassen, bevor das Feuer vom Himmel fällt. Man könnte annehmen, dass Lot jetzt von Sodom die Nase voll hat, die Beine in die Hand nimmt und sich aus dem Staub macht! Aber Lot ist ein wirklich guter Mann. Er ahnt, welches Unheil über die Stadt kommt, sobald er weg ist. Er ahnt, dass es nur seine Anwesenheit ist, die den vernichtenden Schlag noch aufhält – und zögert darum fortzugehen. Er will nicht weg! Er wehrt sich! Die Engel müssen ihn tatsächlich packen und aus der Stadt hinauszerren! Er sträubt sich, denn ohne ihn ist Sodom dem Untergang geweiht. Und selbst an der Stadtgrenze, wo die Engel ihn loslassen, will Lot nicht weiter ins Gebirge fliehen, wo er sicher wäre. Sondern er sucht sich gleich das nächstliegende Örtchen aus, um dort zu bleiben, weil er weiß, dass diesem Ort dann um seinetwillen nichts geschieht. Damit ist allerdings der letzte Gerechte aus Sodom evakuiert – und die Hölle bricht los, um auszulöschen, was verdorben war. Was nicht sein soll, wird von Gott ins Nicht-Sein befördert. Es regnet Feuer und Schwefel. Und Sodom und Gomorra werden mit ihren Bewohnern von der Landkarte getilgt. Denn wenn man unseren guten Gott lange genug reizt, tut er bösen Menschen böse Dinge an. Wer deswegen aber meint, in der Geschichte läge nur eine düstere Drohung, irrt sich sehr. Denn außer, dass mit Gott nicht zu spaßen ist, offenbart sie eben auch, dass er selbst im zornigsten Strafgericht außer Stande ist, einem Unschuldigen Unrecht zu tun. Sind die Gottlosen auch noch so in der Überzahl, wird doch nicht ein einziger guter Mensch in ihren Untergang mit hineingezogen. Sondern – wenn sie sich nicht voneinander trennen lassen – wird Gott es jederzeit vorziehen, um des einen Gerechten willen tausend Ungerechten zu vergeben. Doch was geht uns das heute an? Ich meine sehr viel. Und bitte sie, an dieser Stelle einen großen gedanklichen Sprung mitzumachen. Denn was geschah eigentlich, als Jesus Christus geboren wurde – als Mensch unter Menschen? Entstand da nicht eine ähnliche Lage wie einst in Sodom? In der Menschwerdung Christi mischte sich ein Gerechter unter viele Ungerechte und ein Heiliger unter viele Unheilige. In der Person Jesu gesellte sich ein Unschuldiger zu den Schuldigen und ein Ewiger zu den Sterblichen. Der Schöpfer selbst trat in der Gestalt eines Geschöpfes unter seine Geschöpfe – der einzig wahrhaft Reine stellte sich den Schmutzigen gleich. Ja, der so ganz anders ist als wir, wurde unser Bruder, um nicht länger von uns geschieden zu sein. Christus wollte die Grenze zwischen ihm und uns bewusst verwischen, lief darum in unseren Schuhen, aß von unsren Tellern und wurde überhaupt ganz „einer von uns“. Dieser wahrhaft besondere Mensch verschwand in der anonyme Masse der gewöhnlichen kleinen Leute. Und das ist darum ein Grund zur Freude, weil der „Seitenwechsel“ Jesu, weil sein Untertauchen in unseren Reihen das Gesamtbild ändert. Denn wie könnte Gott die Menschheit in Bausch und Bogen verwerfen, wenn sein eigener Sohn dazugehört? Machen wir uns bewusst, dass Gott nach wie vor derselben Logik folgt wie in Sodom und Gomorra – derselben Logik, die Abraham so erfolgreich zur Geltung brachte: Gott verdammt niemals eine Gruppe von Übeltätern, wenn sich unter ihnen ein Gerechter befindet, den dieses Schicksal zu Unrecht mit beträfe. Gott würde kein Volk strafen, wenn auch nur ein Unschuldiger in das Gericht mit hineingezogen würde. Eher würde er wegen einem Unschuldigen das ganze missratene Volk verschonen! Lots Geschichte zeigt, dass allein seinetwegen über der gesamten Stadt ein Schutzschild lag! Jesus Christus aber hat dieselbe Wirkung für uns. Denn wir sind zwar nicht besser als die Leute von Sodom. Seit Adam und Eva sind wir ein einziges Volk von Schuldigen. Und lange machte keiner eine Ausnahme. Die Geburt Jesu aber veränderte das Bild und erzwang eine neue Bewertung der Gattung Mensch. Als dieser eine Gerechte in unseren Reihen erschien, änderte sich alles. Denn wenn unter Millionen auch nur einer nicht verdient, verdammt zu werden, bringt Gott es nicht über sich, diesem einen Unrecht zu tun und ihn zusammen mit der Masse seiner Geschwister zu verwerfen. Es ist Gott unmöglich, derart gegen seine Natur zu handeln. Gottes Sohn wusste das aber – und wurde genau darum einer von uns. Ihm war klar, welch drohendes Gericht über unseren Köpfen schwebte. Und er stellte sich uns zur Seite, um eben dieses Unheil abzuwenden. Er wurde unser „Lot“, der für uns den Untergang aufhält. Das aber natürlich mit dem Unterschied, dass er sich nicht wie Lot zwingen lässt, die Stadt zu verlassen. Einmal Mensch geworden bleibt Christus Mensch in Ewigkeit. Und mit ihm an unserer Seite kann uns tatsächlich nichts geschehen. Denn nur wenn Christus sich von uns trennte (oder wir so töricht wären, uns von ihm zu trennen), nur wenn dieser „Lot“ unsre Stadt verließe, wären wir verloren. Eben darin ist Jesus aber viel besser als Lot, dass er seine Evakuierung nicht bloß hinauszögert, sondern gänzlich ablehnt. Jesus macht seine Menschwerdung niemals rückgängig. Er hat den Seinen versprochen, immer bei ihnen zu sein. Er ist gekommen, um zu bleiben. Und das erlaubt uns, dauerhaft hinter ihm in Deckung zu gehen. Wo Jesus steht, kann Gottes Schwert nicht niedersausen. Und darum ist Jesu Menschwerdung nicht etwa nur eine äußere Voraussetzung für das dann folgende Heilswerk seines Sterbens und Auferstehens, sondern ist selbst schon rettende Tat. Ein Mensch werdend schloss sich Gottes Sohn mit der Menschheit zusammen. Und wie Lot an der Stadtgrenze Sodoms in den kleinen Ort „Zoar“ ziehen wollte, damit er um seinetwillen nicht vernichtet werde, so kam Jesus zu uns. Der Gerechte mischte sich bewusst unter die Ungerechten und der Heilige unter die Frevler. Der Schöpfer mischte sich unter die Geschöpfe und der Reine unter die Schmutzigen. Gottes Sohn wollte von uns Menschen nicht mehr unterschieden werden und hat die Grenze zwischen ihm und uns absichtlich verwischt. Er verschwand in der Menge der Schuldigen, deren Bruder und Retter er nun ist. Denn wo Jesus steht, da kann kein Gericht ergehen. Wo er wohnt, fällt kein Feuer vom Himmel. Und in seiner Nähe kann auch der Böseste nicht böse bleiben. Denn nur, wer ein Herz aus Stein hätte, würde von soviel Freundlichkeit nicht angesteckt. Mit Jesus ist unser Lot erschienen. Aber im Unterschied zu Lot hemmt er das Gericht nicht bloß für gewisse Zeit, sondern ein für allemal. Und für alle, die an ihm dran bleiben, hebt er es gänzlich auf. Er scheute nicht den Stall, nicht das Kreuz und nicht das Grab, weil er wusste, dass uns anders nicht mehr zu helfen war. Wir aber haben Anlass zu großer Freude, weil wir nun wissen, dass Gott um des einen Gerechten willen bereit ist, vielen Ungerechten zu vergeben.
Bild am Seitenanfang: The Destruction Of Sodom And Gomorrah
John Martin, Public domain, via Wikimedia Commons