Pilatus und die Wahrheit

Pilatus und die Wahrheit

Das Evangelium des Johannes berichtet im 18. Kapitel vom Verhör Jesu durch den römischen Stadthalter Pilatus. Und dieses Gespräch zwischen zwei gänzlich verschiedenen Männern lohnt eine nähere Betrachtung. Denn wie man es vom Verhör eines Angeklagten durch seinen Richter erwartet, ist das Gespräch entlarvend. Interessanter Weise wird hier aber nicht der Angeklagte entlarvt und überführt, sondern der Richter. Wie in jedem Prozess, soll die Wahrheit ans Licht kommen. Aber in diesem Fall ist es die Wahrheit über den Richter. Und als Jesus und Pilatus auseinandergehen, ist nicht nur das Urteil über Jesus gefallen, sondern auch das über Pilatus. Ob der das aber gemerkt hat? Wir wissen es nicht. Denn natürlich meint Pilatus, er sei in dieser Sache der Prüfende, und Jesus der Geprüfte. Pilatus meint nicht, er habe ein Problem, sondern Jesus. Und so beginnt er die Sache wie eine Routineangelegenheit, die im Alltag eines römischen Stadthalters wohl nicht ungewöhnlich war. Der Hohepriester Kaiphas lässt früh am Morgen den Gefangenen Jesus zu Pilatus bringen. Und als Pilatus fragt, warum die jüdischen Behörden ihn nicht selbst bestrafen, antworten die Kläger ganz offen: Jesus ist in ihren Augen des Todes schuldig. Doch ein Todesurteil darf die jüdische Selbstverwaltung nicht verhängen. Die römischen Besatzer haben sich das vorbehalten. Für ein Todesurteil braucht man die Unterschrift des Stadthalters. Und die soll Pilatus nun geben. Der Römer kennt die Rechtslage und so bleibt ihm nichts übrig, als sich mit dem Fall zu befassen. Er lässt Jesus vorführen und fragt ihn, ob er tatsächlich die von den Juden unterstellten politischen Ambitionen habe: „Bist du der König der Juden?“ (Joh 18,33). Eine positive Antwort Jesu hätte Pilatus sein Geschäft erleichtert, denn wer den Machtanspruch eines Königs erhebt, tritt in offene Konkurrenz zur römischen Herrschaft und kann als Staatsfeind und Aufrührer rasch abgeurteilt werden. Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn Jesus antwortet mit einer Gegenfrage, die aus dem prüfenden Pilatus einen Geprüften macht. Das mit dem „König der Juden“, fragt Jesus: „Sagst du das von dir aus oder haben dir's andere über mich gesagt?“ (Joh 18,34). Der Römer ist irritiert. Statt etwas zu gestehen, fordert der Angeklagte vom Richter ein Geständnis seiner eigenen Position. Und Pilatus antwortet entsprechend ausweichend: “Bin ich ein Jude?“ (Joh 18,35). Geht mich das etwas an? Jesus aber entkräftet daraufhin den Vorwurf politischer Ambitionen, indem er seine Sendung ganz klar als geistlich Sendung und seine Autorität als geistliche Autorität beschreibt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagt er. „Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Pilatus versteht das. Er hört aber doch heraus, dass Jesus einen herrschaftlichen Anspruch erhebt. Und im Sinne der gegen ihn erhobenen Anklage fragt der Römer nochmal nach: „So bist du dennoch ein König?“ Jesus antwortet darauf nicht mehr vorsichtig mit einer Richtigstellung, sondern mit dem offenen Bekenntnis seiner königlichen Würde, die er aber ganz unerwartet interpretiert: Jesus sagt „ja“ – „du sagst es, ich bin ein König“. Er erklärt das aber auf seltsame Weise, indem er anfügt: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ (Joh 18,37). Das ist eine überraschende Auskunft – und in den Ohren des Pilatus gewiss auch eine steile These. Denn was Jesus vorbringt, klingt nicht nach Verteidigung, sondern nach Angriff. Und zudem verschiebt es den Schwerpunkt des Gesprächs. Pilatus verhört den Angeklagten in gewohnter Weise und versucht die Wahrheit ans Licht zu bringen, die ein Beschuldigter doch meist vertuschen will. Jesus aber reagiert ganz untypisch, weil er das Aufdecken der Wahrheit nicht etwa fürchtet, sondern offensiv den Anspruch erhebt, Zeuge und Anwalt einer Wahrheit zu sein, die Pilatus hören sollte. Genau das ist die Sendung Jesu, dass er der Welt die Wahrheit bringt, dass er der Wahrheit Gottes Geltung verschafft – und sogar selbst die Wahrheit ist (Joh 14,6). Denn Jesus bringt nicht nur das Wort Gottes, sondern ist das Wort Gottes in eigener Person. Das Wort Gottes aber ist die Wahrheit über die Welt, die Wahrheit über diesen inszenierten Prozess – und somit auch die Wahrheit über Pilatus! Wenn der Römer aus der Wahrheit leben wollte, wäre jetzt der richtige Moment, sich der Wahrheit zu beugen. Denn Jesus sagt: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“. Statt sich ängstlich zu verteidigen, konfrontiert er den Stadthalter mit einem gottgleichen Anspruch, demgegenüber es nur ein klares „ja“ oder „nein“ geben kann. Pilatus sollte nun Farbe bekennen, denn in Jesu Person steht die Wahrheit leibhaftig vor ihm. Sie macht den Verhörenden zum Verhörten, und den Untersuchenden zum Untersuchten. Jesus hat den Spieß herumgedreht. Doch wie reagiert Pilatus? Bekennt oder leugnet er? Beginnt er einen Streit – oder fragt nach? Nichts von alledem. Jesus hat das Gespräch auf eine Ebene gebracht, auf der sich Pilatus immer weniger wohl fühlt. Und bevor es ihm zu verbindlich wird, verlässt Pilatus den Ring, weicht ins Ungefähre aus und sagt: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38). Man könnte die Frage positiv deuten und ein ernsthaftes Interesse heraushören, im Sinne von „Was ist denn Wahrheit, Jesus? Erkläre es mir!“ Doch wahrscheinlich sind die Worte spöttisch-ironisch zu verstehen, im Sinne von „Was ist denn schon Wahrheit? Wahrheit gibt’s doch gar nicht!“ Pilatus möchte nicht etwa mit der Wahrheitssuche beginnen, sondern signalisiert, dass er mit der Wahrheit längst fertig ist. Er will sich dem Anspruch Jesu entziehen und sich auf keine Debatte einlassen. Denn die Wahrheit Gottes steht zwar leibhaftig vor ihm. Aber Pilatus kann damit nicht umgehen. Er scheut die Verbindlichkeit, die mit der Wahrheit einhergeht. Das Ganze wird ihm auch zu persönlich. Darum winkt er ab und sagt: „Was ist schon Wahrheit? Was soll das überhaupt sein? Die eine, absolute Wahrheit gibt’s doch gar nicht. Also lass mich mit Wahrheit in Ruhe!“ Für einen Richter im Verhör ist das natürlich ein seltsamer Standpunkt. Denn genau das ist doch sein Amt, die Wahrheit festzustellen! Wenn es sie nicht gäbe, wozu diente eine Befragung vor Gericht? Doch Pilatus weicht aus und gibt sich relativistisch. Er flieht vor der Glaubensforderung Jesu in die Indifferenz. Er winkt ab, weil er die Wahrheit, für die Jesus steht, nicht hören will. Und müsste er sie hören, würde sie ihn ziemlich stören. Denn wer Wahrheit anerkennt, muss ihr dann auch folgen. Wo es Wahres gibt, da gibt es auch Falsches. Da kann man nicht mehr alles nach Gutdünken regeln. Und von so einer verbindlichen Wahrheit, die er nicht selbst kontrolliert, will der Stadthalter nichts wissen. Doch eben damit, dass Pilatus der Entscheidung ausweicht, ist die Entscheidung gefallen – über Pilatus. Denn wer aus der Wahrheit ist, der hört Jesu Stimme. Und wer sie trotz guter Akustik nicht hören will, sondern so tut, als könne er gerade gar nichts verstehen oder als gäb‘s keine Wahrheit, der ist offenbar nicht „aus der Wahrheit“, sondern bevorzugt die Lüge. Ja, dass er ernsthaft die Wahrheit suchte, eben das ist die Lebenslüge des gebildeten Mannes. Tatsächlich pflegt er seinen Zweifel, um sie nicht zu finden! Und damit hat sich Pilatus selbst das Urteil gesprochen. Der Richter geht aus der Begegnung mit Jesus als Gerichteter hervor. Der Jesu Schuld prüfen sollte, hat in der Prüfung durch Jesus versagt. Der Staatsdiener, der mit der Wahrheitsfindung beauftragt war, ist vor der Wahrheit in die Skepsis geflohen. Und er leugnet den Anspruch Jesu nicht mal. Er behauptet einfach, keine Wahrheit zu kennen. Er will, dass sie immer ungewiss und diskutabel in der Schwebe bleibt – und damit auf Distanz. Doch wenn Gott selbst die Wahrheit ist, muss der Entschluss, Wahrheitsansprüche zu ignorieren, faktisch Atheismus sein. Es ist eine schon im Ansatz misslingende Flucht vor Gott, weil es den neutralen Boden, auf den Pilatus sich zurückziehen möchte, gar nicht gibt. „Aber“, könnte man sagen, „ist Pilatus nicht zu entschuldigen, weil Jesus ihm doch gar keine Beweise und nicht mal Indizien vorlegt, die ihn überzeugen müssten?“ Der Einwand unterstellt, die Wahrheit hätte eine Bringschuld – und müsse für ihre Anerkennung schon selbst sorgen. Aber ist das so? Ist die Wahrheit schuld, wenn Pilatus sie nicht sehen will? Nein. Die Wahrheit schuldet es niemandem, sich ihm zu beweisen. Und sie bleibt genauso wahr, wenn sie keiner anerkennt. Nur wenn ein Mensch den anderen argumentativ zwingen will, eine alte Überzeugung gegen eine neue zu tauschen – dann ist er dem Gesprächspartner hinreichende Gründe schuldig. Aber ist das hier der Fall? Die Wahrheit muss sich niemandem aufdrängen, der sie offenkundig nicht hören will. Sie hat die Freiheit, solche Leute „dumm sterben zu lassen“. Und am allerwenigsten ist Gottes Sohn verpflichtet, sich diesem Römer zu offenbaren. Es ist Gnade, wenn Gott sich mitteilt. Aber auf diese Gnade hat niemand einen Anspruch. Und Jesus, als die Wahrheit in Person, hat umso weniger Grund Pilatus zu erhellen, als der die Wahrheit ja gar nicht sucht, sondern sie sich vom Leib zu halten bemüht ist. Dieser Römer will die Wahrheit nicht mal sehen, wenn sie in Menschengestalt vor ihm steht! Sie kommt ihm auf Armeslänge nahe – und er fragt immernoch, ob‘s denn Wahrheit überhaupt gibt! Jesus sagt ihm ganz freimütig die Wahrheit über die Wahrheit – direkter geht‘s ja gar nicht! Aber Pilatus will lieber im Ungewissen bleiben. Er flüchtet in unverbindlichen Relativismus. Und in der Konsequenz ist das schlimm für ihn. Aber ist es schlimm für die Wahrheit? Der Richter wäre in diesem Fall auf die Gnade seines Gefangenen angewiesen. Aber genau das will Pilatus nicht denken. Diese Rollenumkehr lässt er nicht zu. Und Jesus erzwingt sie auch nicht. Denn der möchte in diesem Verhör gar nicht „davonkommen“. Jesus will sein Werk am Kreuz vollenden und will tun, was zur Erlösung derer nötig ist, die Wahrheit und Gnade wirklich suchen. Doch zu denen gehört Pilatus nicht. Und so muss ihm Jesus ebensowenig etwas beweisen wie seinen modernen Geistesverwandten. Die meinen auch heute, die Wahrheit müsse eifrig um sie werben, um sie für die Wahrheit zu gewinnen – vermutlich soll sie anschließend auch noch für ihre Anerkennung dankbar sein! Doch die Wahrheit braucht niemandes Zustimmung. Sie bleibt auch so, was sie ist. Und nur denjenigen muss sie der Wahrheit überführen, den sie retten möchte. Sie muss aber nicht jeden retten. Und jene, die sich besonders weise dünken, macht das Wort vom Kreuz ohnehin zuschanden (1. Kor 1,18-31). Wenn der Skeptiker die Wahrheit verfehlt, kommt sie gut ohne ihn aus. Er aber kommt nicht ohne sie aus. Und auf Wunder und Zeichen wartet er vergebens. Denn Gott weiß, dass er sie ohnehin nicht gelten ließe. Tatsächlich kultiviert der Skeptiker seinen Zweifel, um die Wahrheit nicht zu finden! Wenn überhaupt, soll man ihm eine Wahrheit vorlegen, die ihm gefällt – die wäre er vielleicht bereit zu prüfen! Doch Jesus geht ungerührt an ihm vorüber. Denn Gottes Sohn ist nicht in die Welt gekommen, um Zustimmung zu erheischen oder über Stöckchen zu springen, die man ihm hinhält. Pilatus darf sich ruhig hinter seinen Zweifeln verstecken – und zweifelnd untergehen. Jesus zwingt ihm die Erleuchtung nicht auf. Und Pilatus, der von Jesu Schuld keineswegs überzeugt ist (Joh 19,4.6.12), verurteilt ihn trotzdem zum Tode. Der Richter begeht damit ganz bewusst einen Justizmord. Aber tragischer als für Jesus ist das für Pilatus. Ihm entging Gottes Wahrheit, obwohl sie leibhaftig vor ihm stand. Was aber wäre dadurch der Wahrheit entgangen? Sie bleibt auch so, was sie ist. Was geht‘s uns aber an? Ich fürchte, es geht uns viel an. Denn die skeptische Haltung ist heute sehr populär. Diese Methode, sich allen Glaubens- und Wahrheitsfragen zu entziehen, nennt man derzeit „postmodernen Pluralismus“. Und es gehört zum Standardprogramm philosophischer Halbbildung, nicht nur die Erkennbarkeit, sondern auch die Existenz von Wahrheit zu leugnen. Angeblich ist alles relativ, alles ist „Ansichtssache“, alles kann man auch anders sehen. Und je weiter man das treibt, umso weniger sind der menschlichen Willkür Grenzen gesetzt. Ist alles gleich gültig, ist faktisch nichts gültig. Und wo nichts gilt, kann der Mensch machen, was ihm einfällt. Nichts ist objektiv, alles ist subjektiv. Und über den Anspruch Gottes lächelt man milde, weil man sich so „gebildet“ und „kritisch“ vorkommt. Man hinterfragt jede Autorität – und nimmt dabei nur die eigene aus. Das ist praktischer Atheismus. Denn wo nichts wahr ist, bleibt alles dahingestellt. Und wo alles relativ ist, ist auch Gott nicht absolut. Was wäre also komfortabler, als mit Pilatus zu seufzen: „Was ist schon Wahrheit? Es gibt keine Wahrheit!“ Doch wenn wir sie verleugnen, ändert sie sich deswegen nicht. Die Menschen reden wie eh und je: „Ach, lass mich doch mit Gott in Ruhe!“, „Das kann man so sehen – oder auch anders!“ Doch wenn sie Jesus abwimmeln und denken, er müsse ihnen etwas beweisen, geht‘s übel aus. Denn sie meinen, Gottes Wort zu prüfen. Doch geprüft werden sie. Und sobald sie Jesu Anspruch verwerfen, sind sie von Jesus verworfen. Als Pilatus sich entschloss, die Wahrheit zu ignorieren, war der Richter gerichtet. Und so kann man nur an jeden appellieren, die Frage des Pilatus entschiedener zu stellen, als er es damals tat. Denn – „Was ist Wahrheit?“ – das ist durchaus die richtige Frage! Nur darf es keine rhetorische Frage oder Floskel sein, die uns gegen Wahrheitsansprüche immunisieren soll, sondern wir müssen sie ernsthaft und ausdauernd stellen, bis wir Antwort bekommen. Die Antwort wird nicht von menschlichem Geist ergrübelt, sondern wenn, dann wird sie durch Gottes Geist geschenkt. Nicht wir ergreifen Gottes Wahrheit, sondern sie ergreift uns! Doch das kann uns recht sein und kann uns umso dankbarer machen, wenn sie denn nur nicht an uns vorübergeht. Jesus Christus ist die Wahrheit in Person. Bei ihm klopfen wir nicht vergeblich. Und darum wollen wir das auch mit Beharrlichkeit und Zuversicht tun: Er, der selbst das Licht ist, erleuchte uns!

 

 

 

Bild am Seitenanfang: "What is truth?" Christ and Pilate

Nikolai Nikolajewitsch Ge, Public domain, via Wikimedia Commons