Jeftahs Tochter

Jeftahs Tochter

Rückkehr Jephthas /  Giovanni Antonio Pellegrini, Public domain, via Wikimedia Commons

 

„Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ – das hat sich zwischen Menschen schon oft bewährt. Sollte man da nicht versuchen, die Freundschaft Gottes ebenso zu gewinnen? Das ist so naheliegend, dass es seit tausenden von Jahren von fast allen Religionen praktiziert wird – in der Gestalt des Opfers. Um die verehrte Gottheit freundlich zu stimmen, bringt ein jeder seine Gaben zum Altar. Der Bauer bringt von seinem Korn, der Hirte bringt ein Lämmchen, und der Fischer einen Fisch. Jeder opfert von seinem Hab und Gut. Und das Motiv ist nicht viel anders, als wenn wir Menschen beschenken. Denn wer seinen Göttern Opfer bringt, will sie versöhnen, falls er ihre Satzungen übertreten hat, und will durch sein Geschenk ihr Wohlwollen erringen. Man unterstellt, dass vielleicht auch die Götter bestechlich sind, und schenkt mit Berechnung. Denn bringe ich Gott wertvolle Geschenke, wird er mich kaum abweisen, sondern im Gegenzug segnen. Bin ich großzügig zu ihm, wird er hoffentlich großzügig sein zu mir – und meine freundliche Geste entsprechend freundlich beantworten. Doch ist das natürlich allzu menschlich gedacht. Und ich möchte von einem Mann erzählen, der sich dabei schwer verkalkuliert hat. Die Bibel berichtet nämlich von einem, der der Versuchung erlag, Gott durch Opfer und Versprechen auf seine Seite zu ziehen – und dafür einen hohen Preis zahlte. Es ist Jeftah, von dem das Buch der Richter erzählt. Jeftah war ein Mann, den die Israeliten in einer Notlage zu ihrem Anführer gemacht hatten. Denn das Volk der Ammoniter war ausgezogen, um mit Israel Krieg zu führen. Man brauchte einen kampferprobten militärischen Führer – und Jeftah war genau der Richtige dafür. Er versucht zunächst, mit dem König der Ammoniter zu verhandeln. Doch als die Verhandlungen scheitern, ist der Krieg nicht mehr zu vermeiden – und wir hören wie Jeftah durch ein Versprechen Gott auf seine Seite zu ziehen versucht: 

„Jeftah gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will's als Brandopfer darbringen. So zog Jeftah auf die Ammoniter los, um gegen sie zu kämpfen. Und der Herr gab sie in seine Hände. Und er schlug sie mit gewaltigen Schlägen von Aroër an bis hin nach Minnit, zwanzig Städte, und bis nach Abel-Keramim. So wurden die Ammoniter gedemütigt vor den Israeliten. Als nun Jeftah nach Mizpa zu seinem Hause kam, siehe, da geht seine Tochter heraus ihm entgegen mit Pauken und Reigen; und sie war sein einziges Kind, und er hatte sonst keinen Sohn und keine Tochter. Und als er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach: Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst mich! Denn ich habe meinen Mund aufgetan vor dem Herrn und kann's nicht widerrufen. Sie aber sprach: Mein Vater, hast du deinen Mund aufgetan vor dem Herrn, so tu mit mir, wie dein Mund geredet hat, nachdem der Herr dich gerächt hat an deinen Feinden, den Ammonitern. Und sie sprach zu ihrem Vater: Du wollest mir das gewähren: Lass mir zwei Monate, dass ich hingehe auf die Berge und meine Jungfrauschaft beweine mit meinen Gespielen. Er sprach: Geh hin!, und ließ sie zwei Monate gehen. Da ging sie hin mit ihren Gespielen und beweinte ihre Jungfrauschaft auf den Bergen. Und nach zwei Monaten kam sie zurück zu ihrem Vater. Und er tat ihr, wie er gelobt hatte, und sie hatte nie einen Mann erkannt.“ (Ri 11,30-39) 

Es ist eine schreckliche Geschichte. Und je länger man darüber nachdenkt, um so schrecklicher erscheint sie – bis man mit einem Berg von Fragen dasteht. 

Erstens: Warum musste dieser Jeftah seinen Mund so schrecklich weit aufreißen und ein so furchtbares Versprechen geben? Schließlich hat das niemand von ihm verlangt. Am allerwenigsten Gott! Warum also legt Jeftah dieses dumme Gelübde ab? Hatte er kein Vertrauen, dass Gott seinem Volk auch ohne das beistehen würde? War er sich etwa nicht sicher, für eine gerechte Sache zu kämpfen? Warum also schwört er solche Schwüre, wo ihn doch keiner dazu aufgefordert hat? Zweitens: Was hat Jeftah eigentlich gedacht, wer ihm bei der Heimkehr aus dem Haus entgegenkommen würde? Hat er gedacht, der Hund würde ihm entgegenlaufen, die Katze – oder sonst ein entbehrliches Mitglied seines Haushalts? Jeder andere Vater hätte ihm sagen können, dass es gewöhnlich die Kinder sind, die den Vätern entgegenlaufen, wenn sie von der Arbeit kommen. Hat Jeftah denn überhaupt nicht nachgedacht? Drittens: Wenn Jeftah schon einen so furchtbaren Schwur ablegt, warum bricht er ihn nicht, um seiner Tochter willen – und nimmt die Konsequenzen auf sich? Mag ja sein, dass Gott ihn wegen des gebrochenen Eids schwer geschlagen und bestraft hätte. Aber wäre das nicht besser gewesen, als die unschuldige Tochter für Jeftahs Dummheit büßen zu lassen? Warum entschließt er sich nicht, selbst auszulöffeln, was er sich eingebrockt hat? Viertens: Ich frage mich, warum Gott dem Unheil seinen Lauf ließ. Hätte er nicht sagen können: „Hör zu, Jeftah, du hast mir etwas ganz Schreckliches geschworen, wir wollen das beide vergessen. Ich will gar nicht, dass du mir deine Tochter als Opfer darbringst, das ist eine ganz blöde Idee, lass es sein“? Oft genug schützt uns Gott vor den Folgen dummer Einfälle. Warum nicht hier? Doch eben das ist das Furchtbare an der Geschichte. Gott schweigt – und alles geht mit unerbittlicher Konsequenz seinen Gang. Wie gesagt: Ein Berg von Fragen türmt sich auf. Und die meisten bleiben ohne Antwort. Wie die Tochter in den zwei Monaten der Trauer über ihren Vater dachte, will ich mir gar nicht ausmalen. Was aber will uns Gott durch die Geschichte sagen? Ist es allein die Warnung, dass man besser den Mund halten soll, wenn man erregt ist, und besser nachdenken soll, bevor man irgendwelche Schwüre ablegt? Ist es allein eine Demonstration, wie bitter das ausgehen kann, wenn Gott uns nicht vor den Folgen unserer Fehler bewahrt? Ich denke, es steckt noch mehr darin. Denn die Tragödie von Jeftah und seiner Tochter führt uns vor Augen, wie abwegig und gefährlich es ist, wenn wir Gott durch irgendwelche Versprechungen auf unsere Seite zu ziehen versuchen. Gewiss käme keiner von uns auf die Idee, so mit dem Leben seiner Tochter zu spielen, wie Jeftah es tat. Aber die Logik, nach der er handelt, ist uns nicht völlig fremd. Denn auch wir versuchen manchmal, mit Gott einen „Deal“ zu machen: Wenn ich fleißig in die Kirche gehe – muss mir Gott dann nicht wohlgesonnen sein? Wenn ich einen kranken Angehörigen pflege – muss mir Gott das nicht lohnen? Wenn ich das Evangelium fleißig weitersage – muss Gott es mir nicht hoch anrechnen? Die Logik, mit der Jeftah sein Kriegsglück erzwingen wollte, steckt auch uns im Blut – weil wir leider immer noch von uns auf Gott schließen. Doch Gott ist keine Krämerseele, die durch Geschenke zu Gegengaben verpflichtet werden könnte. Und Opfer, die wir bringen, verschaffen uns keinen Einfluss, weil wir gar nichts besitzen, das Gott uns nicht selbst gegeben hätte. Was wir sind und haben gehört ihm sowieso! Wir haben also nichts in der Hand, um bei Gott „gut Wetter“ zu machen. Wir können seine Gunst weder durch Wohlverhalten noch durch Frömmigkeit erwerben. Aber, Gott sei Dank, ist das auch gar nicht nötig. Denn als Christen haben wir zwar noch Altäre in unseren Kirchen. Und die sind denen ganz ähnlich, auf denen man einst Brandopfer und Sühnopfer darbrachte. Aber wir opfern dort nicht. Denn über unseren Altären hängt das Kreuz als Symbol für das eine, allgenugsame Opfer, das Gott mit den Menschen versöhnte. Das Kreuz steht für jenes letzte, allen Opferdienst überflüssig machende Opfer Jesu Christi, das auf Golgatha dargebracht wurde. Und dargebracht wurde es von Jesus Christus, unserem Hohepriester, der sein Leben gab für uns. Den müssen wir nicht erst auf unsere Seite ziehen, der steht schon auf unserer Seite. Und während wir ihm nichts geben, gibt er uns alles. Er will weder Opfer noch Blutvergießen, sondern will nur, dass wir ihm Glauben schenken. Dass aber Jeftah davon nichts wusste – und nicht einfach der Gnade und Weisheit Gottes vertraute –, das ist und bleibt todtraurig.