Maria von Magdala

Maria von Magdala
"noli me tangere"

Kennen sie Maria von Magdala? Sie ist eine zentrale Person der Oster-Ereignisse. Und es lohnt sich, ihre Geschichte nachzuzeichnen, obwohl die Anfänge ziemlich im Dunkeln liegen. Wir wissen, dass Maria Magdalena von sieben bösen Geistern besessen war als sie Jesus begegnete, und dass er sie aus diesem schrecklichen Zustand befreite (Lk 8,2; Mk 16,9). Sie schloss sich daraufhin dem Jüngerkreis an, folgte Jesus nach – und weil sie nicht arm war, konnte sie den Jüngern mit ihrer Habe dienen, trug also ganz praktisch zur Versorgung der Gruppe bei (Lk 8,3; Mt 27,55-56). Mit anderen Frauen war sie bei der Kreuzigung anwesend (Joh 19,25) und bei der Grablegung (Mt 27,60-61; Mk 15,47). Sie gehört aber auch zu den Frauen, die sich am Morgen des dritten Tages mit wohlriechenden Ölen auf den Weg machen, um den Leichnam Jesu noch einmal zu salben (Mt 28,1; Mk 16,1). Und so entdeckt sie als eine der ersten Zeuginnen das leere Grab, wo ihr der Auferstandene erscheint (Mk 16,9). Bei Johannes wird diese Begegnung ausführlich geschildert. Er erzählt in seinem Evangelium, wie Maria zum Grab kommt und feststellt, dass der Stein vom Eingang weggerollt, und das Grab leer ist. Maria ist bestürzt und hält sich nicht lange auf, sondern läuft zu Petrus, Johannes und den anderen Jüngern. Sie berichtet ihnen. Doch der Bericht verrät auch gleich, wie sie den Sachverhalt deutet. Denn sie sagt: „Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (Joh 20,2). Maria kann sich die Sache nicht anders erklären, als dass jemand den Leichnam Jesu an eine andere Stelle verbracht hat, ohne den Jüngern Bescheid zu geben. Petrus und Johannes möchten sich davon selbst überzeugen und laufen zum Grab. Sie finden es aber genau so leer, wie Maria gesagt hat, und finden drinnen nur noch die Leintücher, in die der Leichnam Jesu gewickelt war. Es ist seltsam, dass diese Tücher ordentlich beiseite gelegt wurden, und das Schweißtuch für den Kopf daneben zusammengewickelt an einem besonderen Ort liegt. Denn ein Freund Jesu würde den toten Körper bestimmt nicht nackt transportieren. Und ein Feind würde sich nicht die Mühe machen, die Tücher sauber zusammenzulegen. Das spricht schon deutlich gegen einen „Leichenraub“. Doch der Evangelist vermerkt, dass die Jünger sowieso nicht verstehen, was geschehen ist. Wie Maria Magdalena denken sie nur an das unerklärliche Verschwinden einer Leiche. Sie denken nicht im Entferntesten an die Möglichkeit der Auferstehung. Und ebenso verstört wie ratlos gehen sie wieder heim. Maria von Magdala hingegen bleibt am Grab zurück und weint und weint. Wie man sich denken kann, hat sie eine enge emotionale Bindung zu Jesus. Und das einzige, was ihr von ihm gebliebene ist (die sterblichen Überreste des geschundenen Mannes) – selbst die sind ihr nun genommen! Der tote Körper war das einzige, was man in der Trauer noch ein wenig festhalten konnte. Aber auch der ist nun nicht mehr zu finden, weil irgendwer den Leichnam weggenommen, geraubt oder umgebettet hat. So starrt Maria auf das schwarze Loch des Grabes. Es steht gähnend offen – als ein Sinnbild der in ihrem Leben entstandenen Leere. Und sicher grübelt Maria. Vielleicht hat der ursprüngliche Besitzer, Joseph von Arimathäa, sein Grab zurückgefordert? Vielleicht haben die Feinde Jesu ihm nichtmal die Totenruhe gegönnt? Oder vielleicht hat man Jesus irgendwo verscharrt, damit seine Jünger keine Begräbnisstätte haben, um ihres Herrn zu gedenken? Als wäre die Kreuzigung Jesu nicht schlimm genug, macht der sinnlose Leichenraub Marias Schmerz nur noch größer. Wie sie aber so weint und weint, schaut sie doch noch mal ins Grab hinein – und sieht drinnen zwei Engel sitzen. Die sprechen sie an und fragen: „Frau, was weinst du?“ (Joh 20,13). Auf den ersten Blick ist das eine seltsame Frage, wenn jemand weinend an einem Grab steht. Natürlich trauert Maria Magdalena um den Verstorbenen, den sie heute noch einmal salben wollte. Und sie könnte anfangen, viel von ihm zu erzählen: Dass sie nämlich eine dunkle Vergangenheit hat, in der sieben Dämonen sie quälten, dass Jesus sie befreit hat, dass dieser Beste aller Menschen hingerichtet wurde – und nun sogar sein Leichnam fehlt! Doch so weit holt Maria gar nicht aus, sondern antwortet den Engeln bloß: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (Joh 20,13). Während sie das sagt, dreht sie sich aber um und sieht einen Mann stehen, den sie für den Gärtner oder den Friedhofswärter hält. Im Erscheinen Jesu liegt eigentlich schon die Antwort auf das Klagen der Maria. Ihre Tränen haben Jesus bewegt, ihr zum Trost zu erscheinen. Und doch, obwohl sie nichts lieber sehen will als Jesus, erkennt sie ihn nicht. Waren ihre Augen „gehalten“ wie bei den Emmaus-Jüngern? Oder sah der Auferstandene anders aus als früher? Ist Maria Magdalena blind vor Trauer? Haben ihr die vielen Tränen den Blick getrübt? Oder war an Jesu Kleidung wirklich etwas, das auf einen Gärtner schließen ließ? Es erscheint uns seltsam, dass Maria mit sehenden Augen doch nichts sieht. Aber vielleicht lag‘s einfach daran, dass sie darauf fixiert war, Jesu Leichnam zu suchen – und mit nichts weniger rechnete, als ihn unter den Lebenden anzutreffen. Was zu schön ist, um wahr zu sein, das lässt unser Verstand nicht gleich gelten – das „kann ja gar nicht sein“! Doch so wie die beiden Engel hinterfragt nun auch Jesus, ob Maria eigentlich zurecht trauert. Er sagt: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ (Joh 20,15). Sie ist aber noch völlig gefangen in ihrer Deutung des Geschehens und fordert von dem vermeintlichen Friedhofsgärtner, den Leichnam herauszugeben: „Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen“ (Joh 20,15). Daraufhin spricht Jesus sie aber mit ihrem Namen an. Mit der vertrauten Anrede gibt er zu erkennen, dass er sie kennt. Und so persönlich angesprochen erkennt sie nun auch ihn und ruft: „Rabbuni!“ – „mein Meister!“ Überwältigt davon, ihn wiederzuhaben, will sie ihm zu Füße fallen, will ihn umarmen, festhalten und an sich drücken. Aus einem spontanen Impuls will sie seiner habhaft werden, ihn greifen und nicht mehr loslassen. Sie möchte mit den Händen fassen, was ihr Verstand nicht fassen kann. Aber diese körperliche und allzu irdische Nähe, die Vertraulichkeit einer Umarmung, erlaubt ihr Jesus nicht. Sondern mit abwehrender Geste und beinahe verletzender Strenge sagt er „noli me tangere“, „berühre mich nicht“ oder genauer übersetzt: „halte mich nicht fest“. Nun liegt darin kein Vorwurf, denn Jesus versteht die Wiedersehensfreude der Maria. Und da sie ihn verloren glaubte, kann ihr niemand verdenken, dass sie ihm um den Hals fallen will! Aber in der wiedergefundenen Nähe wahrt Christus doch ein wenig Distanz. Denn Maria ist noch zu sehr auf der falschen Spur, wenn sie meint, der Auferstandene sei einfach zurückgekehrt, um sein irdisches Leben wieder aufzunehmen und die leibliche Gemeinschaft fortzusetzen, die er zuvor mit seinen Jüngern und Jüngerinnen hatte. Nein! Seine Auferstehung ist keine „Wiederbelebung“. Sie ist nicht einfach die Rückkehr in den vergangenen Zustand, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Erhöhung. Jesus wird nicht mehr wie früher mit Maria und den anderen über die staubigen Straßen Galiläas ziehen. Sondern er wird an Himmelfahrt zum Vater gehen, um sein erlösendes Werk dort auf effektive, aber ganz andere Weise fortzuführen. Nichts darf ihn hindern, dieses Ziel zu erreichen. Und so muss Jesus die ausgestreckten Arme der Maria Magdalena, die ihn umschlingen und festhalten wollen, doch abwehren. Er sagt: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater“ (Joh 20,17). Das heißt natürlich nicht: „Warte, bis ich aufgefahren bin, dann kannst du mich berühren!“ – denn nach der Himmelfahrt geht es ja erst recht nicht. Sondern es heißt: „Maria, ich bin für dich da und werde es auch weiterhin sein, ich werde aber künftig anders für dich da sein als bisher.“ Jesus ist nicht auferstanden, um das alte Wanderleben fortzusetzen und predigend von Ort zu Ort zu ziehen. Sondern er geht zum himmlischen Vater, um dort der Fürsprecher der Gläubigen zu sein, um ihnen im Himmel ihre Stätte zu bereiten und sie nach sich zu ziehen. Jesus geht, um an Gottes Weltregiment teilzuhaben und erst zum Endgericht auf die Erde zurückzukehren. Und so muss er Maria zumuten, seine Gegenwart neu zu denken. Denn von nun an ist er nicht mehr in menschlicher Gestalt zu greifen, wie ihn Maria Magdalena so gern greifen möchte, sondern wird in Wort und Sakrament gegenwärtig sein. Auch so ist er „da“ – ist aber nach Ostern auf andere Weise „da“. Wo sich zwei oder drei in seinem Namen versammeln, ist er mitten unter ihnen, so dass die Gemeinde seine Nähe durchaus nicht entbehren muss (Mt 18,20; Mt 28,20). Aber sie kennt ihn eben nicht mehr „nach dem Fleische“ (2. Kor 5,16). Und die einzige Weise ihn „anzufassen“, wird nun sein, dass wir im Brot des Abendmahls seinen Leib anfassen. Jesus lebt künftig in dem Evangelium, das seine Gemeinde bewahrt und in die Welt trägt – man kann ihn von dieser Gemeinde so wenig trennen wie das Haupt vom Leib! Doch ist das Reich Gottes mit dem Ostertag in eine neue Phase seiner Entwicklung eingetreten. Und auch Maria Magdalena, die zunächst noch „rückwärts“ denkt und nostalgisch die Wiederherstellung der alten Gemeinschaft ersehnt, muss begreifen, dass etwas qualitativ Neues begonnen hat. Das Alte kehrt nicht wieder, aber das Neue ist in Wahrheit besser. Und so schickt Jesus Maria von Magdala mit einem Verkündigungsauftrag zu seinen Jüngern, damit auch die begreifen, was Maria so schwer fiel: Dass Jesus nämlich auffährt zu seinem und zu ihrem Vater, zu seinem und zu ihrem Gott. Und dass er ihnen trotz der vermeintlichen Distanz doch immer nahe bleibt. Jesus wird für Maria und die anderen „da“ sein, aber eben auf andere Weise. Er ist bei ihnen höchst präsent, lebendig und wirksam. Er ist es aber nicht mehr auf die irdisch-vergängliche, sondern auf eine himmlisch-ewige Weise. Und Maria von Magdala hat das zuletzt auch verstanden. Denn am Ende weint sie nicht mehr, sondern hat in der Begegnung mit Jesus Trost gefunden, hat ihre Freude wiedergewonnen und führt Jesu Auftrag aus. Sie geht und verkündet den Jüngern: „Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt“ (Joh 20,18). Was machen wir aber damit? Was geht‘s uns an? Mir fällt auf, dass Maria von Magdala bei all ihrer Liebe zu Jesus doch fast immer auf der falschen Spur ist – und dass sie mit ihren starken und spontanen Gefühlen ständig korrigiert werden muss. Sie weint am Ostermorgen, obwohl sie sich freuen sollte. Denn am leeren Grab könnte ihr ja einfallen, dass Jesus seine Auferstehung angekündigt hat (Mt 16,21; 17,23; 20,19). Und doch ist Maria auf den Wunsch fixiert, seinen Leichnam zu finden und ihm bloß wieder ein würdiges Begräbnis zu verschaffen. In dieser guten Absicht erwartet sie viel zu wenig. Sie will lediglich die gestörte Totenruhe wieder herstellen. Und selbst als Jesus dicht vor ihr steht, erkennt sie ihn nicht. Als sie ihn dann aber erkennt, sucht sie eine Vertraulichkeit und Nähe, die in diesem Moment nicht dran ist. Und während sie sich mit Liebe an Jesus klammert und ihn festhalten möchte, hindert sie ihn fast, seinen Weg zum Vater zu gehen. Maria Magdalena will bloß, dass es wieder ist wie früher! Sie missversteht so ziemlich alles, was seit dem Karfreitag geschah! Sie ist überfordert! Doch andererseits – wer kann‘s ihr verdenken? Wir haben selbst genug Schwierigkeiten, uns auf Ostern einen Reim zu machen. Und die anderen Zeugen im Neuen Testament brauchen auch einige Zeit, bis der Groschen fällt. Die Emmaus-Jünger sind genau so „stockblind“ wie Maria von Magdala, weil sie stundenlang mit Jesus wandern und ihm seine eigene Geschichte erzählen, ohne ihn zu erkennen (Lk 24,13-35). Der ungläubige Thomas muss Jesu Wunden betasten, bevor er an seine leibliche Auferstehung glaubt (Joh 20,24-31). Und auch die Jünger am See Tiberias erkennen ihn erst, nachdem er mit ihnen Fische und Brot gegessen hat (Joh 21,1-14). Das Erscheinen des Auferstandenen löst bei vielen zunächst nicht Freude, sondern Bestürzung aus. Und das ist verständlich, weil der auferstandene Herr in keine der uns vertrauten Schubladen passt. Wir kennen dieses irdische Leben, das eine Form der „Anwesenheit“ ist, auch wenn es auf den Tod hinausläuft. Und wir kennen das irdische Sterben, das den Leib derart zerstört, dass die Person danach „abwesend“ ist. Doch die Auferstehung, die sowohl das irdische Leben als auch das irdische Sterben hinter sich lässt, diese grandiose Lebensform, die nicht mehr sterben muss, die mehr himmlisch als irdisch ist, mehr ewig als zeitlich – und die Jesus dennoch in Zeit und Raum greifbar begegnen lässt: die verwirrt uns. Denn da wird der Tod vom Leben rechts überholt, und die gewohnten Regeln gelten nicht mehr. Sollte unsre Verblüffung aber nicht doch (nach einer Denkpause) in Jubel übergehen? Schon der Maria von Magdala erweist sich Jesus nicht als „abwesend“, sondern als auf neue Weise „anwesend“. In der Kraft seiner Auferstehung will er bei seinen Jüngern präsent sein. Und er ist es bis heute, so dass auch wir unseren Herrn nicht bei den Toten suchen müssen oder in der fernen Vergangenheit, sondern ihm hier und jetzt unter den Lebenden begegnen. Christus ist kein Leichnam, den wir auf dem Friedhof verorten müssten oder in der historischen Distanz. Weder müssen wir aus der antiken Literatur ungewisse Spuren seines Lebens rekonstruieren, noch müssen wir seine Überreste aus der Erde kratzen, um für den Gekreuzigten ein Kerzlein anzuzünden. Er bedarf auch nicht der Mühe des Erinnerns und Gedenkens, damit er bei uns präsent sein kann. Sondern der Herr ist mitten unter uns und steht uns in seiner himmlischer Herrlichkeit lachend zur Seite. Er ist vitaler als wir alle zusammen. Seine Lebendigkeit sprengt jeden Begriff! Und vielleicht steht er auch schon unmittelbar vor der Tür, um als Menschensohn mit dem Heer der Engel wiederzukehren und sein Werk auf Erden triumphal zu vollenden. Mag unsre Vergangenheit also ähnlich düster sein wie die der Maria von Magdala, so haben wir doch in und durch Christus eine herrlich helle Zukunft und sind – obwohl das leibliche Sterben noch vor uns liegt – im Glauben schon über das Sterben hinausgelangt. Ja, darin liegt die Bedeutung dieser Geschichte, dass wir im Glauben schon des ewigen Lebens teilhaftig sind und uns wie Maria Magdalena viel Heulerei sparen könnten, wenn wir nur mit offenen Augen sähen, dass Christus lebendig bei uns ist. Wir starren in kein schwarzes Loch, von dem der Friedhofsgärtner einen Leichnam weggetragen hat – nein! Sondern wir warten auf das baldige Erscheinen unseres überaus lebendigen Herrn. Und wenn der uns gerade nicht so greifbar ist, wie der Sitznachbar in der Kirchenbank, ist er uns trotzdem genauso nah – und sogar noch näher. Denn während sich in dieser Welt ständig einer vom anderen trennen muss, wird sich doch Christus niemals von seinen Christen trennen, sondern wird bei uns bleiben, bis wir (gleich ihm) himmlisch, ewig, fröhlich und im Frieden sind. Leugnen wir deswegen die aktuellen Schmerzen und Nöte? Nein! Aber das lehrt uns die Geschichte der Maria Magdalena, dass uns auch berechtigte Trauer nicht blind machen darf für den lebendigen Herrn. Denn der ist nicht auferstanden, um uns jammern zu sehen, sondern um Kraft und Mut zu schenken. Und da er uns zur Zuversicht so reichen Anlass gibt, wären wir sehr trübe Tassen, wenn wir‘s nun an der entsprechenden Freude fehlen ließen. Alles wird gut – denn Christus lebt und herrscht!

 

 

Bild am Seitenanfang: 

Scenes from the Life of Mary Magdalene: Noli me tangere (Ausschnitt)

Giotto di Bondone, Public domain, via Wikimedia Commons