Josef von Arimathäa

Josef von Arimathäa

Christ with Joseph of Arimathea

Giovanni Girolamo Savoldo, Public domain, via Wikimedia Commons

Wir begegnen im Neuen Testament nicht nur Hauptakteuren. Sondern wir stolpern auch über Menschen, die nur am Rande vorkommen. Und so eine Randfigur ist Josef von Arimathäa. Ein reicher Mann soll er gewesen sein und ein angesehener Ratsherr, ein Jünger Jesu – oder doch zumindest ein Sympathisant. Die Evangelien berichten, dass er am Abend des Karfreitags zu Pilatus geht und um den Leichnam Jesu bittet, um ihn bestatten zu können (Mt 27,57-60). Er bekommt die Erlaubnis, wickelt den Leichnam in ein sauberes Leinentuch und legt ihn in ein neues Grab, das er vorsorglich schon für sich selbst in den Fels hat hauen lassen. Er wälzt einen großen Stein vor die Tür des Grabes – und geht davon. Das ist eigentlich schon alles, was wir von Josef hören. Aber es genügt, um ins Grübeln zu kommen. Denn – warum hat sich dieser Josef schon zu Lebzeiten ein Grab hergerichtet? War er vielleicht krank, und sein Sterben absehbar? Oder wollte er durch ein aufwendiges Felsengrab seinen Reichtum demonstrieren? Gehörte er zu denen, die sich sowieso ständig mit ihrem Tod beschäftigen? Oder wollte er seinen Nachkommen die Mühe ersparen, bei seinem Ableben eine geeignete Grabstätte zu suchen? Hatte Josef vielleicht keine Nachkommen, die sich kümmern konnten – und musste darum Vorsorge treffen? Oder gehörte er zu denen, die demonstrativ ihr Ende vorbereiten, um aller Welt zu zeigen, wie wenig sie den Tod fürchten? „Seht her“, hieße das, „ich bin so unerschrocken, dass ich mich schon zu Lebzeiten probehalber in mein Grab lege!“ Oder trieb ihn der Wunsch, über den unberechenbaren Tod zumindest so viel Kontrolle zu erlangen, dass er seine Ruhestätte selbst bestimmt? Was immer die Gründe waren – ich könnte mir vorstellen, dass Josef nach Abschluss der Bauarbeiten nicht nur zufrieden, sondern auch mit einem mulmigen Gefühl um sein Felsengrab herumgeschlichen ist. Denn auch wenn das Grab solide gemacht war, tadellos gearbeitet und vorzeigbar, war‘s innendrin doch genauso dunkel wie in jedem anderen Grab. Kalt und hart war die steinerne Nische, die einmal den Leichnam aufnehmen sollte. Und der große Stein, der bereitlag, um den Ausgang zu verschließen, war vermutlich dick und schwer wie eine Gefängniswand. Ob der Erbauer da nicht doch etwas beklommen auf sein Grab geblickt hat? Ob ihm die gähnende Leere darin nicht bedrohlich vorkam – und der Eingang wie ein weit aufgerissener Schlund, der nur darauf wartet, ihn zu verschlingen? Sollte dies wirklich das letzte Ziel seiner Reise sein – das „Endlager“ seiner Gebeine, der Punkt, an dem all sein Hoffen und Streben zum Stillstand kommt? Noch konnte Josef in beliebiger Richtung hinein- und hinausgehen, konnte sein Grab begutachten und danach aus der engen Höhle wieder in die Sonne hinaustreten, an die frische Luft. Aber später dann? Wenn Josef ab und zu so unfrohe Gedanken hatte, würde das jedenfalls erklären, warum er sein etwas voreilig errichtetes Grab so bereitwillig weggab und es spontan für den gekreuzigten Jesus zur Verfügung stellte. Natürlich hat dabei die Verehrung für den Mann aus Nazareth die größte Rolle gespielt. Ein anständiges Begräbnis war ja am Karfreitag der letzte Dienst, den man Jesus noch erweisen konnte. Auch heute nutzt mancher eine Beisetzung als letzte Gelegenheit, um mit großem Aufwand zu kompensieren, was er dem Lebenden schuldig blieb! Und immerhin war Josef Ratsherr in Jerusalem. Die Behörden seiner Stadt hatten diesen Justizmord zu verantworten. Und wir hören nicht, dass Josef viel unternommen hätte, um ihn zu verhindern. Hat er etwa seinen Einfluss in der Lokalpolitik nicht geltend gemacht? Oder kam sein Protest zu spät? Vielleicht machte sich Josef Vorwürfe, nicht mehr für Jesus getan zu haben. Und die Bestattung Jesu in seinem eigenen Grab wäre dann ein etwas hilfloser Versuch der „Wiedergutmachung“ gewesen. Aber ganz nebenbei war‘s dann auch eine gute Gelegenheit, dies lästige Grab loszuwerden. Denn das dunkel-kalte Loch, das drohend aufgesperrte Maul, wurde ja mit Jesu Leichnam gefüllt und bis auf Weiteres gesättigt. Die Gruft war damit besetzt – und Josefs Platz nicht länger leer. Ein anderer war für ihn in sein Grab gegangen. Ein Ersatzmann sozusagen, für den es ihm sicher leidtat. Doch die für Josef bestimmte Lücke war erst mal gefüllt. Und ein gutes Werk hatte er auch noch getan! So stelle ich mir vor, dass Josef von Arimathäa danach irgendwie erleichtert im Sonnenschein spazieren ging. Gewiss hat ihn die Sache mit Jesus traurig gemacht. Aber irgendwie wäre es doch uns allen recht, wenn ein anderer an unserer Stelle unter die Erde käme. Mein Ort im Totenreich wäre dann „besetzt“. Ich dürfte also weiterleben. Und ich könnte darauf verweisen, dass da schon einer mein Grab ausfüllt, so dass für mich leider kein Platz mehr bleibt! So ein Stellvertreter, der für mich das Sterben übernimmt – das wär‘ schon was! Das hätte seinen Charme! Mein Grab wäre belegt, „wegen Überfüllung geschlossen“. Und so würde der Tod vielleicht gar nicht merken, dass ich ihm fehle! Ja, das wäre doch nicht schlecht, wenn man das Sterben delegieren könnte, indem man das eigene Grab einem anderen zur Verfügung stellt. Vielleicht war das für Josef von Arimathäa ein richtig gutes Gefühl! Nur stelle man sich vor, mit welcher Bestürzung er anschließend die Osterbotschaft gehört haben muss. Sein verschenktes Grab hatte quasi eine Fehlfunktion – es hatte Christus wieder herausgegeben. So wie der Walfisch den Jona, so hatte das Grab Jesus wieder ausgespien – fast als hätte der Tod den Schwindel bemerkt. Fast als wäre aufgefallen, dass die Gruft mit dem Falschen belegt war. Hatte sich das Grab etwa wieder aufgetan, weil es den Tausch bemerkte – und einen anderen als Josefs Leichnam nicht beherbergen wollte? Was mag da wohl in Josefs Kopf vorgegangen sein? Gewiss hat der Ratsherr mit Freude und ungläubigem Staunen gehört, dass Jesus lebt. Die Jünger sind ihm begegnet! Aber mit dieser Wendung war dann auch Josefs Grab wieder leer. Sein Platz in der Gruft war wieder frei – und der kalte Stein wartete auf den ursprünglichen Besitzer. Die Zwischenlösung hatte nur drei Tage gehalten. Die Lücke war nicht auf Dauer gefüllt, der Gottessohn dem Tod entkommen. War also wieder alles wie zuvor? Oder war jetzt alles ganz anders? Josef muss furchtbar verwirrt gewesen sein, als er die Grabstätte in Augenschein nahm, die er so erfolglos verschenkt hatte. Denn wie würde das nun sein, wenn man ihn selbst eines Tages in dieses Grab bettet, aus dem Jesus auferstanden war? Wie sollte er sich vorkommen als „Nachrücker“ für diesen Nicht-mehr-Toten, der in dem geschenkten Grab nicht hatte bleiben wollen? Würde sich das Grab eines solchen Vorgängers überhaupt noch als Grab eignen? „Ruhe in Frieden“ sagt man schließlich. Jesus hatte aber in diesem Grab wenig „Frieden“ gefunden – und definitiv keine „ewige Ruhe“! Wenn aber selbst auf den Tod nicht mehr Verlass ist, kann man ihn dann nach Jesu Auferstehung noch ernst nehmen? Und wenn das Grab für Jesus keine Endstation war: welche Bedeutung hat es dann noch für seine Jünger? Ist es am Ende gar keine Sackgasse mehr, sondern nur ein Durchgang zum Leben – wie an Jesus zu sehen? Und wenn’s so wäre: muss man das Grab dann noch fürchten? Josef von Arimathäa (betroffen vor seinem Grab stehend) wird wohl eine Weile gebraucht haben, um das zu Ende zu denken. Wenn er aber später mit Petrus und den anderen sprach, werden die ihm bestätigt haben, dass Christi Auferstehung nicht allein an Josefs Grab etwas verändert hat, sondern an allen Gräbern dieser Welt. Tatsächlich sind sie nach Ostern nicht mehr Endlager für verbrauchte Menschen, sondern nur noch Durchgangsstationen auf dem Weg zur Auferstehung. Denn Jesus ist nicht speziell und nicht nur für Josef von Arimathäa in sein Grab gegangen, sondern stellvertretend für alle Menschen. Der Gekreuzigte starb unser aller Tod und ging für uns alle durch die Hölle. Dem Ende unseres Lebens vorgreifend legte er sich gewissermaßen in all unsere Gräber, Särge, Urnen, Grüfte. Jesus fand da nicht nur hinein, er fand auch wieder heraus. Er öffnete all diese Sackgassen für den Durchgangsverkehr. Und so wurde Jesu Auferstehung zum Vorlauf für unsere Auferstehung – und zugleich zum Grund ihrer Möglichkeit. Denn nicht nur Josefs Grab hat dünne Wände bekommen. Alle Gräber sind nun nicht mehr Endbahnhof, sondern Zwischenstopp. Denn Christus ist nicht bloß auf den Tod zugegangen und in den Tod hinein, sondern auch durch den Tod hindurch und über ihn hinaus. Und so ist jeder noch so bittere Tod, der einem Christen begegnen mag, zuvor schon Christus begegnet – und hat an ihm seinen Meister gefunden. Statt zu herrschen, wird unser Tod uns dienen müssen! Und wenn wir demnächst mal wieder über einen Friedhof gehen, dürfen wir an Josef von Arimathäa denken. Wir können uns fragen, in welcher Grabreihe wir mal liegen werden. Wir können über den Boden schreiten, der uns einmal bedecken wird. Wir dürfen uns auch ruhig vorstellen, wie‘s da unten in zwei Metern Tiefe aussieht. Aber unsere Gedanken müssen dabei keineswegs beklommen sein. Denn ganz egal, wohin man uns bettet: Christus ist längst dagewesen. Er kennt sich aus mit unserem Tod. Und sind wir auch Anfänger im Sterben, so ist er das doch nicht. Keine Grube ist ihm zu tief und keine Höhle zu dunkel, dass er die Seinen nicht fände. Warum sollte uns also der Gedanke an unser Grab bedrücken? Es wird uns auf unserem Weg zu Gott nicht aufhalten, sondern voranbringen. Nichts kann uns hindern, am Leben des Auferstandenen teilzuhaben – nicht die zwei Meter Erde über uns und nicht die Last der vergangenen Jahre. Denn über den Gräbern weht heute schon die Siegesfahne Christi. Und vielleicht ist Josef von Arimathäa der erste gewesen, der das in aller Konsequenz verstanden hat.