Goethes "Faust" im Wahn

Goethes "Faust" im Wahn

Faust und Mephisto beim Schachspiel / Anonym - Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Kennen sie Goethes „Faust“? Den meisten wird er wohl geläufig sein. Denn lange war der „Faust“ Pflichtlektüre in der Schule. Und wer ihn dort nicht lesen musste, wird das Stück irgendwann im Theater gesehen haben – oder auch den Film mit Gustav Gründgens. Es geht da um den Gelehrten Dr. Faust, der einen Pakt mit dem Teufel schließt, der dann mit des Teufels Hilfe das unschuldige Gretchen für sich gewinnt und es ganz furchtbar ins Unglück stürzt. Was ich an der Sache aber nie verstand, ist, was den Dr. Faust antreibt. Denn was um alles in der Welt nötigt ihn, sich mit dem Teufel einzulassen? Ist der Mann etwa arm und leidet Hunger – oder ist er im Gefängnis und will frei werden? Nein! Fehlt’s ihm an Bildung oder an gesellschaftlichem Ansehen? Nein! Ist er so alt, so hässlich oder missgestaltet, dass er ohne okkulte Hilfe keine Frau für sich gewinnen könnte? Nein! Wozu also ein Bund mit dem Teufel? Wenn Gott den Faust schlecht ausgestattet und benachteiligt hätte, könnte man’s vielleicht verstehen. Aber der Mann ist ein allseits geachteter Hochschullehrer, ein gewiss nicht schlecht besoldeter Professor. Er ist weder alt noch hässlich, weder arm noch wird er gemieden, und ist neben tadelloser Gesundheit auch noch mit scharfem Verstand begabt. Man fragt sich, was so einem wohl fehlen mag. Mancher wollte gern mit ihm tauschen! Und dennoch ist Faust kurz davor sich umzubringen. Warum? Anscheinend wegen seines ungestillten Wissensdrangs! Faust will ergründen „was die Welt im Innersten zusammenhält“, aber alle Gelehrsamkeit bleibt ihm eine letzte Antwort schuldig. Die Wissbegier des Forschers stößt an Grenzen – und das ärgert ihn. Ja, der unbefriedigt fragende Geist will aus dieser Welt fliehen, die ihm ihre letzten Geheimnisse nicht preisgibt. Aber macht ihn das wirklich klüger, wenn er sich umbringt? Faust tut es denn auch nicht. Denn ein Wunsch nach Grenzüberschreitungen anderer Art hält ihn auf der Erde fest. Kann er das Leben schon nicht ergründen, will er sich ihm wenigstens „in derber Liebeslust“ an den Hals werfen und rauschhaft auskosten, was die Welt an herrlichen Genüssen zu bieten hat. Doch auch hier genügt dem Faust nicht etwa das begrenzte Glück, das Gott jeden Menschen dann und wann in Maßen genießen lässt. Nein! Mit den alltäglichen Freuden, die ein braver Mann dankbar zu schätzen weiß, gibt Faust sich nicht zufrieden. Sondern erst wenn des Glückes Höhepunkt keine Steigerung mehr zu denken erlaubt, erst wenn Faust zum Augenblick sagt „Verweile doch! Du bist so schön!“  – erst dann will er zufrieden sein. Mit einem Wort: Der Herr Doktor möchte um jeden Preis höhere Einsicht erlangen als sie Menschen gegeben ist, und er will auch höhere Glückseligkeit als gewöhnliche Menschen sie erfahren. Es zieht ihn gewaltig, ins Übermenschliche hinauszuwachsen, ins Genialische, Heroische, Titanische. Er hat es auf eine grandiose Steigerung seiner eigenen Person abgesehen, seiner Lebensintensität und seines Machtgefühls! Faust will wohl eher einem Gott gleichen als einer Kreatur! Und genau dazu braucht er den Teufel. Denn auch der wollte einst „sein wie Gott“ und träumte denselben Traum. Wegen dieser Rebellion gegen den Schöpfer wurde der Teufel aus dem Himmel verstoßen. Und auf Erden hat er sogleich Adam und Eva dieselbe kranke Idee ins Hirn gepflanzt, in der Abkehr von Gott könnten sie „werden wie Gott“ (1. Mose 3,5). Faust trifft also im Teufel einen Geistesverwandten. Und er hofft, sich durch einen Pakt mit ihm hier und jetzt überlegener Kräfte zu bedienen, während der Teufel erst auf lange Sicht von der Sache profitiert. Der Teufel verpflichtet sich, dem Faust im Diesseits unbeschränkt dienstbar zu sein und ihm zu ungeahnten Freuden und zu beglückendem Rausch zu verhelfen. Im Jenseits hingegen (so wird es vereinbart) kehren sich die Dinge um. Denn dort muss dann Faust zum Diener des Teufels werden, dem er hier auf Erden seine Seele verschrieben und verkauft hat. Was für ein Wahnsinn – und was für ein schlechtes Geschäft! Die Leistung des Teufels ist zeitlich eng begrenzt wie das Menschenleben selbst. Wozu Faust sich aber im Gegenzug verpflichtet, das ist zeitlich so unbegrenzt wie die Ewigkeit überhaupt! Auf kurzes Vergnügen folgt endlose Reue – wie blöd muss man also sein, diesem Deal zuzustimmen? Was hat den Faust da geritten? Ist seine Gier denn so viel größer als sein Verstand? Die Erklärung ist wohl einfach, dass der Mensch generell Schwierigkeiten hat, sich mit seiner Rolle als Geschöpf zu bescheiden – und dass er, wenn er einmal verstanden hat, wer Gott ist, nur schwer akzeptieren kann, selbst nicht Gott zu sein. Der Mensch kann‘s nun mal nicht lassen, sich zu vergleichen. Und wenn er erkennt, dass er in seiner Macht, in seinem Wissen und in seinen Freuden Beschränkungen unterliegt, denen Gott nicht unterliegt, kann er‘s kaum ertragen, nicht Gott zu sein. Ja, grün vor Neid und erbittert im Gefühl der Benachteiligung will er mit seinem Schöpfer gleichziehen, will auch alles wissen, alles verstehen, alles können, alles dürfen – und das für immer und ewig! Kann er‘s aber nicht haben, so ist er gekränkt und trotzig wie ein Dreijähriger und ruft: „Pah, wenn ich nicht Gott sein darf, darf Gott das auch nicht. Und wenn ich nicht an mich selbst glauben darf, befreunde ich mich jetzt mit dem Teufel – dann wird Gott sehen, was er davon hat!“ Ist das nicht kindisch? Ja, der angeblich so tiefsinnige Faust erscheint mir überaus kindisch. Er will von allem zu viel, will, was ihm nicht zukommt, und macht in diesem Wahn nicht nur sich selbst unglücklich, sondern auch die Familie der Grete, die er angeblich so sehr liebt. Ein höchst fragwürdiger „Held“ ist das, über den man den Kopf schüttelt. Ein Himmelsstürmer der bedenklichen Art. Gretchen wäre ihm besser nie begegnet. Aber – sind wir dem Faust nicht verwandter als uns lieb ist? Und ist es nicht das Kennzeichen unsrer Zeit, dass der Mensch darauf versessen ist, seine natürlichen Grenzen zu überschreiten, seine Lebensintensität zu steigern und in freiester Selbstbestimmung – durch Technik beflügelt – Gott immer ähnlicher zu werden? Früher war nur Gott „allgegenwärtig“! Inzwischen imitieren wir das aber durch digitale Präsenz, empfangen Nachrichten und Livebilder aus aller Welt, fliegen nach Afrika, skypen gleichzeitig mit Südamerika – und sind virtuell überall. Früher war nur Gott „allwissend“! Aber der moderne Mensch ist ihm scheinbar knapp auf den Fersen, entlockt der Natur ihre letzten Geheimnisse, hat überall Kameraaugen, digitale Ohren, Satelliten und Sensoren – und fühlt sich „allwissend“ in Echtzeit, weil er jede Information „googlen“ kann. Früher war nur Gott „ewig“! Doch heute will auch der Mensch ewig leben, bastelt an seinem Erbgut herum, um den eigenen Bauplan zu „optimieren“, will den Tod gentechnisch austricksen – und das eigene Dasein unbegrenzt verlängern. Was aber Gottes Allmacht betrifft: Sind wir da nicht längst auf derselben Spur, dass wir durch Wissenschaft und Fortschritt immer mehr können und alles, was wir können, früher oder später auch tun – die Zerstörung des Planeten inbegriffen? Der Mensch will heute selbst Schöpfer sein und es besser machen als der Herr des Himmels. Er empfängt nicht mehr Gebote Gottes, sondern gibt sich lieber selbst welche. Er erhebt sich zum Richter in eigener Sache. Und mit großer Erlöser-Geste macht er sich daran, die Welt vor dem zu retten, was er ihr selbst angetan hat. Hat das etwa keine Ähnlichkeit mit Fausts Größenwahn, mit seinem Pathos der Grenzüberschreitung und dem Traum, Gott gleich zu werden? Der moderne Mensch möchte ohne Gott auskommen und bedenkt nicht, dass, wer Gott verdrängen will, ihn ersetzen muss! Um die Lücke zu füllen, die Gott hinterlässt, muss der Mensch an seine Stelle treten und sich selbst vergöttern. Er muss selbst Schicksal spielen und selbst festsetzen, was „gut“ und „böse“ ist. Er muss selbst seinem Leben Sinn verleihen. Und im Himmel gibt’s dann auch niemand mehr, dem er anlasten könnte, was schiefläuft! Da das Jüngste Gericht ausfällt, muss der Mensch selbst für Gerechtigkeit sorgen. Er muss sich als Retter an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen – und, da er kein Jenseits erwartet, auch schon im Diesseits selig werden! Ja, wer Gott verdrängen will, muss die verwaiste Rolle selbst übernehmen. Und die Menschheit merkt gerade erst, dass ihr diese Schuhe viel zu groß sind. Sie hat sich weit übernommen, als sie Gott den Abschied gab. Sie ist nun peinlich überfordert. Und Mephisto lacht dazu, weil den Menschen insgesamt charakterisiert, was er über Dr. Faust sagt: „Ihn treibt die Gärung in die Ferne, er ist sich seiner Tollheit halb bewusst; vom Himmel fordert er die schönsten Sterne, und von der Erde jede höchste Lust, und alle Näh und alle Ferne befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.“ Freilich: welche Alternative haben wir, wenn wir nicht in diese Falle laufen wollen? Nun, wir können Gott einfach wieder Gott sein lassen – und dabei Mensch bleiben in dem Sinne, dass wir den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht nur notgedrungen anerkennen, sondern ihn ehrlich bejahen und neidlos bestehen lassen. So eine fröhliche Bescheidung hilft gegen faustischen Größenwahn! Und eigentlich könnte jeder auf diese Lösung kommen. Denn wir erleben oft genug, wie Unglück daraus entsteht, wenn einer fremde Größe nicht erträgt. Ein unreifer Mensch sieht etwas Grandioses und will’s vor Begeisterung gleich verschlingen, will’s anfassen und besitzen. Wenn er das aber nicht kann oder darf, beginnt er die fremde Größe zu hassen und herabzusetzen. Er möchte Macht und Glanz selbst haben – oder niemand soll sie haben! Dabei könnte man einfach freudig genießen, was einem anderen gegeben ist. Ich z.B. vermag es einem großen Musikvirtuosen nicht nachzutun. Aber kann ich ihm deshalb nicht dankbar zuhören? Ich kann auch gewiss nicht Ballett tanzen. Aber soll ich darum nicht mit Freude zusehen? Ich habe dabei einen passiven Genuss, ohne mit Mühe die schwere Kunst selbst erlernen zu müssen. Wär’s da nicht sehr dumm, die Talentierten für das zu hassen, was sie mir voraushaben? Doch den faustischen Menschen wurmt es allzu sehr, wenn er nicht selber glänzt. Was ihm begehrenswert und „groß“ vorkommt, das will er selbst besitzen – oder er muss es verdammen. Fremde Vollkommenheit ist ihm ein Ärgernis! Dabei gibt es zwischen dem gierigen An-sich-reißen und dem ärgerlichen Davonlaufen ja auch noch die Möglichkeit der frohen Bescheidung, die ein wenig Demut aufbringt – und darum nicht neiden muss. Sie lässt die Großen groß – und lässt vor allem Gott Gott sein. Sie ist sogar erleichtert, nicht an seiner Stelle zu stehen. Und angesichts seiner Vollkommenheiten wahrt sie den Unterschied zwischen „Teilhaben“ und „Besitzen“, zwischen „Entsprechen“ und „Gleichen“, zwischen „leihweisem Gebrauch“ und „freier Verfügung“. Um an der Kunst eines Geigers teilzuhaben, darf ich ihm die Geige gerade nicht entreißen. Sondern viel besser entspreche ich seiner Kunst, indem ich still bin und lausche. So haben wir beide mehr davon! Denn – ohne dass ich über sein Spiel verfügen oder es nachmachen könnte – profitiere ich von dem, was der Virtuose mir voraus hat. Und eben so sollten wir es mit Gott halten. Denn auch dem müssen und können wir nicht gleichen, dürfen ihm aber entsprechen. Wir besitzen weder sein Wissen noch seine Macht, empfangen aber doch alles, was er uns in seiner Weisheit und Güte zukommen lässt! Er lässt uns teilhaben – ohne deswegen das Ruder aus der Hand zu geben. Und sind wir auch himmelweit entfernt von seiner Genialität, dürfen wir trotzdem seine Gedanken staunend nachvollziehen. Unsereiner kann ohne vorgegebenes Material nicht das Geringste „erschaffen“. Aber wir dürfen gestaltend auf all das Schöne zugreifen, das Gott gemacht hat. Unser Schöpfer gönnt uns großen Spielraum! Ist der Mensch also gut beraten, Gott seine Vollkommenheiten zu neiden? Was hat ein Grashalm davon, wenn er sich ärgert, keine Eiche zu sein? Er macht sich nur lächerlich. So ein Dr. Faust kommt aber nicht klar mit seiner begrenzten Rolle in der Welt. Er möchte weit überlegen – oder er möchte gar nichts sein. In titanischem Drang strebt er über alle Grenzen hinaus. Seine Geltungsdrang wächst wie ein Krebsgeschwür. Und zu stolz, um sich vor Gott zu beugen, gibt er sich lieber dem Teufel in die Hand. Der Himmelsstürmer fällt dabei nicht nur selbst auf die Nase, sondern reißt auch noch Unschuldige mit. Und diesen Faust haben so viele Generationen für ein Beispiel „heroischer Größe“ gehalten? Einen Mann, der aus maßlosem Ehrgeiz etwas maßlos Dummes tut? Sloterdijk sagt völlig zu Recht: „Der moderne Mensch will die höhere Gewalt nicht erleiden, sondern sein“. Ist dieser Wahn aber ein Kennzeichen unserer Zeit, so besteht Glaube darin, bewusst unzeitgemäß zu denken, sich selbst von Gottes „höherer Gewalt“ klar zu unterscheiden – und diesen Unterschied kein bisschen zu beklagen. Denn der Glaube akzeptiert die menschlichen Grenzen. Er gibt allein Gott die Ehre. Und er bleibt gerade dadurch mit Gott eins, dass er sich unablässig von ihm unterscheidet. Er bejaht die Distanz, die Gott zwischen sich und seine Geschöpfe gelegt hat. Und er gewinnt gerade dadurch die größtmögliche Nähe zu Gott. Er besitzt Gottes Vollkommenheit nicht, hat aber rezipierend und staunend daran teil. Er gleicht dem Höchsten nicht, entspricht ihm aber durch freudigen Lobpreis und ungeheucheltes Vertrauen – auch wenn der Geist der Moderne das nicht verstehen will. Nietzsche ruft: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein!“ Doch Nietzsche ist tot. Gott lebt. Und der Glaube lehrt, ganz unbefangen Mensch zu bleiben. Machen wir uns also nicht größer und nicht kleiner als Gott uns schuf. Füllen wir den Ort aus, an den uns Gott gestellt hat. Greifen wir aber nicht nach Sternen, die uns nicht bestimmt sind. Und neiden wir auch niemandem, was er uns voraus hat. Denn so bleiben wir im Konsens mit unserem Schöpfer. Und wer mit ihm Frieden hat, kann auf krumme Geschäfte mit der Unterwelt sehr gut verzichten.