Christus erhebt Einspruch

Christus erhebt Einspruch

For Thy Sake; For Your Sake / Hugo Simberg, Public domain, via Wikimedia Commons

Die interessantesten Bilder sind oft die, die man nicht versteht. Und in diesem Sinne interessiert mich das obige Gemälde von Hugo Simberg ganz besonders. Denn ich kann mir nur schwer die Geschichte zusammenreimen, die es erzählt. Und ich bin mir nicht mal im Klaren über den Ort des Geschehens, weil es sich ebenso um das Innere einer Kirche wie einer Schule handeln könnte. Steht da ein Lehrer vor seiner Klasse, oder ein Pfarrer vor seiner Gemeinde? Die Bank auf der rechten Seite sieht eher wie eine Schulbank aus, nicht wie eine Kirchenbank. Und die Menschen dahinter scheinen kleiner und jünger zu sein als der Mann auf der linken. Aber wenn das eine Lehrer vor seiner Klasse ist, warum hängt dann an der Wand ein so übergroßes Kruzifix? Sehen wir eine Schulstunde im Kirchsaal – oder das, was man früher „Sonntagsschule“ nannte? Wie auch immer, mag es nun ein Religionslehrer oder ein Pfarrer sein, er hat jedenfalls zwei Bänke übereinander gestellt, um sein Manuskript darauf zu legen. Die Konstruktion mit dem Stuhl wirkt seltsam improvisiert. Doch kann der Mann gerade nichts vortragen, denn er hat seine Brille abgenommen, um sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen zu wischen. Und auch seine kleine Gemeinde ist mächtig am Weinen. Er hat sie anscheinend mit seiner Traurigkeit angesteckt! Aber während wir dort überwiegend blonde Köpfe sehen, hat der Pfarrer auffallend graues Haar. Man könnte auf die Idee kommen, er habe sich über mancherlei Sorgen, Mühen und Grübeleien „graue Haare wachsen lassen“. Und beinahe scheint es, als hätte etwas vom Leiden Christi auf ihn abgefärbt. Denn – was sollte wohl das Thema sein, über das er gerade gesprochen hat, wenn nicht das Leiden Christi? Der Gekreuzigte steht ja unübersehbar im Raum! Um ihn muss es doch wohl gehen! Und so denke ich, dass der Pfarrer gerade höchst lebendig und anschaulich vom Leidensweg Christi erzählt hat – wie nämlich der gute Mann aus Galiläa auf so viel Unverständnis und Argwohn traf, dass man ihn zuletzt umbrachte, wie er von den Pharisäern angefeindet und von Judas verraten wurde, von Petrus verleugnet, von Pilatus verurteilt und von Soldaten gekreuzigt. Der Mann mit den grauen Haaren hat anscheinend eindrucksvoll und plastisch davon berichtet, wie man dem guten Jesus ein böses Ende bereitete. Und über das schreckliche Geschehen weinen nun alle. Denn der so menschenfreundliche Gottessohn (der Einzige, der wirklich ohne Sünde war) starb auf Golgatha den elenden Tod eines Verbrechers. Und zusammen mit diesem himmelschreienden Unrecht steht nun das Unrecht der ganzen Welt im Raum – nämlich all die Gewalt, die auch heute noch unschuldigen Opfern widerfährt. Und – ist die nicht wirklich „zum Heulen“? Seit zweitausend Jahren geht das Evangelium des Friedens durch die Welt. Doch auch nach zweitausend Jahren gelingt es uns nicht, danach zu leben! So stelle ich mir vor, dass der Pfarrer mit seiner kleinen Gemeinde auch über das eigene Versagen weint. Denn nicht nur damals im Garten Gethsemane haben die Jünger ihren Herrn im Stich gelassen, sondern seither hat sich das tausendfach wiederholt. Und so weinen wir gar nicht bloß über Jesu vergangenes Leiden, sondern zugleich über unsere Unfähigkeit, sein Evangelium in der heutigen Welt treu zu bezeugen und glaubhaft zu leben. Ja, Christus leidet bis heute – und nicht zum wenigsten an seiner Kirche. Er leidet an uns! Und vielleicht hat der Pfarrer genau davon gesprochen. Denn Gottes Liebe kommt immer neu unter die Räder. Immer wieder macht einer den anderen zum „Opfer“. Und wer das erlebt, bekommt nicht nur graue Haare, sondern muss aufpassen, dass er nicht ganz in Trübsinn verfällt. Doch das ist nun das Tolle an diesem Bild, dass eben jenes betrauerte Opfer, dass der gekreuzigte Christus sehr lebendig in den Raum hineingreift, um die zu trösten, die da weinen. Und wenn nicht alles täuscht, erhebt er Einspruch gegen das allgemeine Klagen. Denn Christus hängt zwar am Kreuz – und ist insofern ein Bild des Leidens. Er sieht aber gar nicht traurig aus. Und sein Kreuz hält ihn auch nicht fest. Sondern mit überraschender Freiheit und mit freundlicher Geste löst sich Christus vom Kreuz und streckt seinen Arm zum Pfarrer hin. Die Gemeinschaft der Weinenden hat es noch gar nicht bemerkt. Die vielen Tränen haben sie blind gemacht! Aber gleich werden sie hören, wie Christus mit ihnen redet, um sie zu beruhigen und zu trösten. Sein Haupt ist erhoben und die Augen sind offen. Das Kreuz verdammt ihn nicht zur Passivität. Denn der Gekreuzigte ist auferstanden. Und als Sieger über den Tod wird er hier auch aktiv. Denn offenbar ist er mit dem Geheule seiner Gemeinde nicht einverstanden. Es ist nicht in seinem Sinne, wenn Christen in Trübsinn verfallen. Denn schließlich ging er nicht ans Kreuz, um der menschlichen Bosheit zu erliegen, sondern um sie zu überwinden. Und wenn sein Kreuz auch wie eine Niederlage aussah, ist es in Wahrheit doch der größte Sieg gewesen! Im Leiden Jesu ist durchaus nichts „schiefgegangen“, sondern Gottes Plan ist „aufgegangen“. Jesu Leid war segensreich, notwendig und sozusagen „kriegsentscheidend“. Denn im Kreuz liegt der Schlüssel zur Erlösung der Menschheit. Und darum heißt dieses Bild auch „Um deinetwegen, um euretwillen“. Denn das ist es offenbar, worauf der Maler uns stoßen will: „Um deinetwegen, um euretwillen“ gab Christus sein Leben – und tat es vollkommen frei, tat es aus Liebe uns zugute. „Um deinetwegen, um euretwillen“ – das ist es, was Christus jenem Pfarrer und seinen jugendlichen Hörern sagen will. „Um deinetwegen, um euretwillen“ war dieses Opfer nötig – und war natürlich bitter! Aber weil damit nun die große Schuld getilgt und der bittere Fluch gebrochen ist, soll es die Gemeinde nicht mehr traurig, sondern eher froh stimmen! Denn es war ja nicht so, als wäre Jesus zufällig in eine böse Falle gelaufen, von der er nichts ahnte. Nein! Frei und bewusst hat er die Entscheidung getroffen, sich dem großen Strafgericht auszusetzen, das nicht er, sondern wir verdienten. Christus erduldet das, damit wir es nicht erdulden müssen. Und so ist das Allerletzte, was er will, eine untröstliche Gemeinde, die in Kummer und Tränen zerfließt. Denn jammern und klagen – das hätten wir ja auch ohne ihn gekonnt! Dazu musste er nicht Mensch werden! Und dazu ging er auch nicht ans Kreuz, dass wir ihn nun endlos bemitleiden, sondern um uns Zuversicht zu schenken und einen unüberwindlichen Mut! Christus will unseren Trübsinn nicht vermehren, sondern überwinden. Er ging seinen Weg nicht um Tränen zu verursachen, sondern um Tränen zu trocknen. Und so hat unser Maler festgehalten, wie Christus seiner Gemeinde Mut zuspricht. Denn seit er sein Werk vollbrachte, müssen sich Christen nicht mehr sorgen, sondern nur der Teufel muss sich sorgen, weil Christus ihn seiner Macht beraubt! Seit dem Ostermorgen sind alle Weichen so gestellt, dass Gottes Reich zu uns kommen kann – und kommen muss. Christus bleibt Sieger. Was soll also das Geheule? Christus erhebt Einspruch gegen die Traurigkeit seiner Gemeinde. Denn die passt sehr schlecht zu den erfreulichen Fakten, die er geschaffen hat. Kleinmut und Sorge entstehen aus dem Wissen, dass menschliche Pläne oft scheitern. Aber Gottes Pläne können nicht scheitern! Angst entsteht aus dem Wissen um die Möglichkeit eines Verlustes. Aber alles, was wir lieben, liegt schon heute in Gottes Hand! Furcht ist die Vorwegname des Schmerzes, der eintritt, wenn wir versagen. Aber wenn Christus unser Heil zur „Chefsache“ erklärt – was soll da noch „schiefgehen“? Der Erlöser ist mitten unter uns und erhebt Einspruch gegen alle Resignation. Denn sein Evangelium ist Gottes Wort. Und dahinter steht der Allmächtige, dem kein Gegner zu stark ist! Gottes Zusagen stehen so fest wie er selbst. Und von seiner Liebe, die in Christus erschien, kann uns niemand trennen. Was soll also das Weinen, was sollen noch Scham, Depression und Schuldgefühl? „Steckt eure Taschentücher wieder ein!“ sagt Christus. „Mein himmlischer Vater kann alles, was er will. Und wenn er etwas nicht will, dann liegt darin Weisheit. Er tut nichts ohne Grund. Wie er aber zu allem einen Grund und auch das Recht hat, so hat er auch die Macht dazu und jede Gelegenheit!“ Ja, in der Tat: Die in Christus erschienene Liebe kann alles Mögliche – nur scheitern kann sie nicht! Und darum nimmt auch nicht Christus ein tragisches Ende, sondern die Macht der Finsternis. Alles, was Christus retten will, ist schon so gut wie gerettet. Was er aber nicht retten will, soll und wird untergehen. Wo bleibt da noch Spielraum fürs Zittern und Zagen, Bibbern und Beben, Jammern und Klagen? Warum sich graue Haare wachsen lassen? Christus bleibt Sieger, und Gott macht keine Fehler. Nichts steht mehr „auf Messers Schneide“, nichts ist „brenzlig“ oder „ungewiss“, sondern um alles Wesentliche hat Christus sich längst gekümmert. Und seiner Gemeinde muss nicht bange sein. Denn Wahrheit bleibt Wahrheit, und Gnade bleibt Gnade, Gott lacht am längsten – und keiner kann’s ändern. Warum sollte die christliche Gemeinde also weinen, sich sorgen und kleinmütig an den Nägeln kauen, während der Erlöser doch bei ihr ist? „Wo ist euer Glaube?“ fragt Jesus, als seine Jünger sich im Sturm fürchten – „Wo ist euer Glaube?“ Auf dieselbe Frage scheint mir aber auch Simbergs Bild hinauszulaufen. Und ich meine, man sieht‘s am besten an der Haltung der Köpfe. Auf vielen Passionsbildern ist das Haupt des Gekreuzigten tief auf die Brust gesunken. Es hängt herab, weil er gestorben ist. Und die ihm lebend gegenüberstehen und ihn betrachten, haben ihre Köpfe hoch erhoben, weil sie ihn anschauen. Doch Hugo Simberg dreht das herum. Bei ihm hat Christus sein Haupt erhoben, während die Gemeinde die Köpfe hängen lässt und zur Zuversicht ermahnt werden muss! Auf vielen Passionsbildern sind Christi Augen im Tode geschlossen – und die der Zuschauer sind weit geöffnet. Er als Opfer scheint umnachtet, die anderen sehen das Tageslicht. Bei Simberg hingegen schaut Christus mit offenen Augen in seine Gemeinde, die ihn ihrerseits aber vor lauter Tränen nicht bemerkt und für seine Gegenwart so blind ist, wie einst die Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Der Pfarrer schnieft, und die Gemeinde schnieft. Christus dagegen ist viel vitaler und präsenter, als sie denken! Und so zweifle ich auch nicht am Fortgang der Handlung: Christus wird gleich vollends vom Kreuz herbsteigen und mit liebevollem Lächeln den ergrauten Religionslehrer umarmen. Er wird sagen: „Um deinetwegen, um euretwillen war mein Leiden nötig. Anders ging es nun mal nicht. Aber, hey, ich ging diesen Weg doch nicht, damit ihr nun in Schuld und Not stecken bleibt, sondern damit wir sie miteinander überwinden! Ich tat nichts umsonst und nichts vergeblich, alles lief nach Plan! Und darum lasse ich eurem Schmerz auch nicht das letzte Wort. Ich habe eure Not geteilt, um sie zu überwinden, nicht um sie zu verewigen. Also hört auf zu jammern! Denn ich bin doch da, bin mitten unter euch, bin quicklebendig wie ihr seht – und bleibe auch bei euch, bis an der Welt Ende.“ Nun, der studierte Mann im schwarzen Gehrock hätte das eigentlich wissen müssen. Er und seine kleine Gemeinde rechneten nicht wirklich mit Christi vitaler Präsenz. Weil mir das aber sehr bekannt vorkommt und in vielen Gemeinden immer wieder passiert, dass wir Trübsal blasen – darum wünsche ich allen Christen die tröstliche Erfahrung, die unser Maler hier eingefangen hat: Dass wir nämlich hören, sehen und begreifen, wie Christus Einspruch erhebt.