Krippe und Kreuz

Krippe und Kreuz

Dieses Bild ist vertraut und irritierend zugleich. Denn was der Maler zeigt, ist zwar alles geläufig und leicht zu entschlüsseln. Aber die Elemente, die er zusammenstellt, gehören normalerweise nicht zusammen, sondern liegen räumlich, zeitlich und auch stimmungsmäßig weit auseinander. Zwei Drittel des Bildes füllt die weihnachtliche Idylle. Und dort finden wir alles, was wir am Heiligabend erwarten: Einen Stall mit Ochs und Esel. Maria mit dem Kind. Und links am Boden einen Joseph, der allerdings nur halb so groß erscheint wie seine Frau. Daneben sehen wir die drei Könige, deren erster zur Anbetung des Kindes die Krone abgesetzt hat und niedergekniet ist. Das Jesuskind hat sein Geschenk bereits entgegengenommen und scheint den Knienden mit leichtem Lächeln zu segnen. Vielleicht vermissen wir einen dunkelhäutigen König und wundern uns, dass sich da zu Bethlehem lauter blonde Menschen treffen. Aber sonst hätte schon alles seine Richtigkeit und nichts würde uns überraschen – wenn nicht hart neben dem Stall das Kreuz Christi stünde, das da ziemlich unvermittelt aus einem Baumstumpf zu erwachsen scheint. Und ist es auch ganz im selben Stil gemalt wie das übrige Bild, irritiert es uns doch, weil sich die Idylle von Bethlehem und die Brutalität von Golgatha so ganz und gar nicht vertragen wollen. Ja, sobald wir uns emotional auf die heimelig-anrührende Szene links einlassen wollen, ragt das Kreuz von rechts hinein und stört die Stimmung. Die Krippenszene links hat etwas von „heiler Welt“, denn die Repräsentanten der Macht beugen sich anbetend vor Gottes Sohn. Sie nehmen ihm gegenüber innerlich wie äußerlich die angemessene Haltung ein – sie tun ganz recht daran. Und dies beschauend käme unser Auge zur Ruhe, denn so wäre die Welt ja wirklich „in Ordnung“! Doch die sich hineindrängende rechte Bildhälfte stört unsere Beschaulichkeit. Denn da liegt die Welt ihrem Herrn keineswegs zu Füßen, sondern hat ihm zum Spott eine Dornenkrone aufs Haupt gedrückt, hat ihm jede Art von Unrecht angetan und ihn mit tödlicher Gewalt aus der Welt geschafft. Der Gegensatz könnte gar nicht größer sein. Links scheint die Welt Christus zu huldigen. Rechts schmäht und schlägt sie ihn. Links wird er dankbar aufgenommen. Rechts mit Härte weggestoßen. Was will der Maler aber damit sagen, dass er die Gegensätze so hart nebeneinanderstellt, ohne sie im Geringsten zu vermitteln oder zu versöhnen? Platzmangel kann’s doch wohl nicht gewesen sein, der ihn zwang, beide Themen in einer kleinen Bildtafel zusammenzudrängen! Und dass Lebensanfang und Lebensende immer irgendwie zusammengehören, ist auch noch kein überzeugender Grund. Denn der Maler war sich ja darüber im Klaren, dass jener Stall in Bethlehem stand, und das Kreuz etliche Kilometer entfernt in Jerusalem. Der Maler wusste auch, dass zwischen den Ereignissen mindestens 30 Jahre liegen. Wenn er sie hier aber dennoch optisch zusammenpresst, dann wahrscheinlich, weil er begriffen hat, dass jener Anfang Jesu nur von seinem Ende her richtig zu verstehen ist – und jenes Ende nur von Anfang her. Die Ehre, die man Christus früh entgegenbringt, und die Schande, die man ihm später bereitet, drängt der Maler in einem Bild zusammen – so als wollte er sagen, das Idyllische links sei nur die halbe Wahrheit und bedürfe der schrecklichen Ergänzung rechts. Denn zwischen der sündigen Menschheit und ihrem Heiland besteht so etwas wie Hassliebe. Und folglich muss man Anziehung und Abstoßung zusammen sehen, damit das Bild Christi vollständig wird. Nur so versteht man dann, dass jenes niedliche Jesuskind nicht in Frieden leben durfte, sondern in Schande sterben musste, dass Jesus die Menschen segnen wollte – und doch von ihnen verflucht wurde. Gottes Sohn kam gerade in keine „heile Welt“, sondern kam, um diese kranke Welt zu heilen! Er hing nicht süßen Kinderträumen nach, sondern bekam es mit der harten Realität zu tun. Und wir verstehen seinen Weg überhaupt nur, wenn wir uns klar machen, dass er mit eben diesem Ziel zur Welt kam, dass er für die Sünder sterben wollte. Jesus nahm diesen Anfang, um am Ende genau jenes Werk zu vollbringen. Und das eine ohne das andere hätte keinen Sinn gemacht. Denn Gottes Sohn wollte nicht bloß „etwas“ geben, sondern wollte sich selbst hingeben – zum stellvertretenden Opfer für unsere Schuld. Und er wusste vorher, worauf er sich da einließ. Indem Gottes Sohn den sicheren Himmel verließ und Mensch wurde, gab er sich in die Gewalt der Menschen. Er lieferte sich unserer Willkür aus und ging diesen Weg der Liebe in dem Wissen, dass wir es ihm schlecht lohnen und seine Liebe nicht erwidern würden. Dass er aber – dieses Ende kennend – dennoch jenen Anfang nicht scheute, eben das ist verblüffend! Johannes sagt: Der die Welt gemacht hat, der kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn doch nicht auf (Joh 1,10-11). Er aber, der das schon vorher wusste, ließ sich trotzdem nicht davon abhalten, sondern kam zu eben denen, von denen er wusste, dass sie ihn töten würden. Ohne sich die geringsten Illusionen zu machen, ging er wie ein Lamm unter die Wölfe. Ja, er erduldete den Hass vieler, um einige zu retten. Er litt zugleich unter uns und für uns. Er hielt es nicht nur bei uns aus, er hielt uns aus. Er ertrug unser Fluchen, damit er uns segnen könne. Er nahm unser Problem auf sich, um es einer Lösung zuzuführen, trug unsere Schuld, starb unseren Tod. Und weil er dazu in unsere Haut schlüpfen musste, darum gehören Krippe und Kreuz so eng zusammen wie auf diesem Bild. Historisch liegen 30 Jahre dazwischen – und räumlich etliche Kilometer. Aber in der Sache ist es eins. Denn zu keinem anderen Zweck entäußerte sich Gottes Sohn seiner Macht und Herrlichkeit, zu keinem anderen Zweck nahm er hier menschliche Gestalt an, als um dort am Kreuz den Fluch zu brechen, der auf der Menschheit lastete. Gottes Sohn kam nicht zur Welt, weil er geehrt werden, sondern weil er dienen wollte. Und so kam er auch nicht mit Pomp und Macht, sondern wohlbedacht in der Gestalt eines hilflosen Kindes. Gott hätte den Hass der Gottlosen einfach niederschlagen können! Doch wollte er ihren Hass mit Liebe beantworten, wollte ihre Bosheit mit Güte überwinden und am Ende für die sterben, die anders nicht zu retten waren. Und so gesehen beschränkt sich die Leidensgeschichte Jesu nicht auf ein paar Tage am Ende seines Lebens, sondern beginnt schon in Bethlehem. Weil Gott sich da der Menschheit annimmt, der Gesunde sich unserer Krankheit aussetzt, der Starke unsre Schwäche übernimmt, der Reine sich an uns schmutzig macht und der Quell des Lebens sich zumutet, unter unseren Händen zu sterben. Das Gewicht seiner Liebe zieht Gott aus dem Himmel herab und ins Leiden hinein. Aus Liebe sucht er unsre Nähe, wohl wissend, dass wir seine Liebe kreuzigen werden. Ob man sich aber die schöne Weihnachtsstimmung verdirbt, wenn man das bildlich darstellt und zum Fest der Geburt gleich den grausamen Tod des „Christuskindes“ mit bedenkt? Muss das denn sein? Ich verstehe den Einwand, erlaube mir aber umgekehrt zu fragen: Was stimmt nicht mit unserem Glauben, wenn wir das Bedürfnis haben, um der Gemütlichkeit willen das Wichtigste auszublenden? Wüssten wir überhaupt, was es an Weihnachten zu feiern gibt, wenn wir nicht vor Augen hätten, welches Opfer das Kind von Bethlehem am Ende bringt? Wäre ohne dieses Ende nicht jener Anfang längst vergessen? So gehören Krippe und Kreuz doch zusammen – auch wenn sie in diesem Bild geradezu schmerzhaft aufeinanderprallen. Und wenn jemand meint, von den zwei Themen sei vielleicht doch eins zu viel, möchte ich ganz im Gegenteil fordern, noch ein drittes hinzuzufügen. Denn ich wünschte mir nicht, das Kreuz hier herauszunehmen, sondern wünschte eher, der Maler hätte das Bild noch um ein österliches Motiv ergänzt. Denn eigentlich ist Christus erst verstanden, wenn Weihnachten, Karfreitag und Ostern auf einen Tag fallen. Gottes Sohn ging schließlich nur ans Kreuz, um mit uns gemeinsam über das Kreuz hinauszugelangen. Und ein Weihnachtsfest, das nur auf den Karfreitag zuliefe, wäre schwer auszuhalten! Erst der Ostermorgen lässt uns aufatmen und macht aus Jesu scheinbar tragischem Ende eine so gute Nachricht. Darum fände ich es schön, wenn möglichst viele Krippenbilder dazu anregten, beim Geburtsfest Jesu den Rest seiner Geschichte gleich mitzudenken. Denn erst so bekommen wir die ganze Wahrheit in den Blick.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Adoration of the Kings, and Christ on the Cross

Benedetto Bonfigli, Public domain, via Wikimedia Commons