Lamm Gottes

Lamm Gottes

Agnus Dei / Francisco de Zurbarán, Public domain, via Wikimedia Commons

 

Haben sie ein Lieblingstier? Gibt es ein Tier, das ihnen besonders gefällt, so dass sie sagen: „Wenn ich ein Tier wäre, dann würde ich dieses Tier sein wollen?“ Ein Löwe vielleicht, oder ein Adler, ein Elefant oder Bär? Die Frage ist nicht so kindisch wie sie scheint. Denn die Antwort verrät eine Menge über den Charakter eines Menschen. Und wenn man alte Familienwappen studiert, ist das mit Händen zu greifen. Auf Wappen wimmelt es nur so von Hirschen und Löwen, Adlerköpfen und Bärenpranken. Denn diese Tiere verkörpern Eigenschaften, die das jeweilige Adelsgeschlecht sich gerne zuschreiben möchte. Die Hirsche stehen für „Stolz“, die Löwen für „Macht“, die Adler für „Freiheit“, die Bären und Stiere für „Kraft“. Imposante Tiere sind das! Und wenn ich zu wählen hätte, würde ich wohl auch so ein imposantes Tier wählen. Umso irritierender ist es aber, wenn man auf das Wappentier Jesu Christi schaut. Denn das ist von ganz anderer Art. Das Wappentier Jesu ist ein unschuldiges und wehrloses Lamm. Die Bibel zieht diesen Vergleich mehrfach. Der Befund ist also eindeutig. Und doch liegt darin ein Problem. Denn sich mit einem Lamm zu identifizieren, fällt nicht so leicht. Lämmer findet man „niedlich“. Aber wer wollte deswegen schon ein Lamm sein? Lämmer sind wehrlos. Sie können sich nicht schützen. Sie können nicht einmal laut brüllen. Sie stolpern unbeholfen herum und lassen sich leicht fangen. Man bindet sie und führt sie zur Schlachtbank. Man macht mit ihnen, was man will. Und es scheint, als begriffen sie gar nicht, was mit ihnen geschieht. Die Unschuld, die Dummheit und die Schwäche der Lämmer gehen ineinander über und machen sie zu idealen Opfern. Denn sie haben den Wölfen dieser Welt nichts entgegenzusetzen. Keine scharfen Zähne, keine schnellen Beine, nicht List oder Tücke. Und darum kenne ich auch niemanden, der gern ein Lämmchen wäre. Wer will schon ein „Opfer“ sein? Nur Jesus Christus sträubte sich nicht, sondern wählte genau die Rolle, die wir um jeden Preis vermeiden wollen. Er ist das „Lamm Gottes“, das der Welt Sünde trägt. Und wenn man sich daran erinnert, was am Karfreitag in Jerusalem geschah, kann man kaum leugnen, dass der Vergleich passt. Christus ist nämlich so unschuldig wie ein Lamm, das ist der erste Vergleichspunkt. Er ist ohne Sünde, ohne Bosheit, ohne Laster und Schwächen. Er hat nie etwas getan, womit er verdient hätte ein Opfer zu sein. Sein Herz war rein wie die weiße Wolle eines Lammes. Und zur Unschuld kommt als zweiter Vergleichspunkt hinzu, dass Christus sich widerstandslos wie ein Lämmchen zur Schlachtbank führen ließ. Er widersetzte sich seiner Gefangennahme nicht und versuchte nicht zu fliehen. Er bewaffnete seine Jünger nicht und rief auch keine himmlischen Heere zu Hilfe. Schließlich aber kommt noch eine dritte Parallele hinzu. Denn Christus starb, wie auch sonst Lämmer sterben – nämlich zu Gunsten anderer. Wie die Passah-Lämmer, die beim Auszug Israels aus Ägypten stellvertretend für die Erstgeborenen starben (der Todesengel ging an den Häusern vorüber, die mit ihrem Blut gekennzeichnet waren), genau so starb Christus für uns. Er nahm das Leiden auf sich, damit wir Freude hätten. Er nahm den Fluch auf sich, um uns Segen zu erwerben. Und er zahlte den Preis, den unsere Erlösung kostete. Hält man sich diese drei Parallelen vor Augen, so leuchtet ein, dass Jesus als das „Lamm Gottes“ bezeichnet wird. Und trotzdem kann es sein, dass uns das Bild widerstrebt. Denn in der Regel wollen wir nicht glauben, dass wir so ein blutiges Opfer nötig hatten. Wir meinen, wir könnten für uns selbst geradestehen, und wollen nicht, dass ein anderer den Kopf für uns hinhält. Mancher sträubt sich auch einfach deshalb gegen das Bild des Opferlamms, weil ihm die Logik des Schlachthauses zuwider ist, wo die Starken das Blut der Schwachen vergießen und sich vom Fleisch der Opfer nähren. Doch können diese Widerstände wegfallen, wenn man sich klar macht, an welchen Punkten sich Jesus von einem gewöhnlichen Opferlamm unterscheidet. Erster Unterschied: Jesus geht wissend und willentlich ans Kreuz. Er ist kein argloses Lämmchen, das blind und dumm in sein Unglück tappt. Sondern er geht seinen Weg in vollem Bewusstsein der Konsequenzen. Niemand zwingt oder überrumpelt ihn. Sondern er entscheidet selbst, dass er sein Leben für die Sünder opfern will. Gottes Sohn hätte seine Peiniger sicher mit einem einzigen Blick töten können! Aber er wollte tun, was er tat. Er wollte den Fluch unserer Schuld tragen, damit er von uns genommen sei. Und insofern ist Christus kein Lamm, sondern seinem Wesen nach ein Löwe, der bewusst den Weg des Lammes geht, um den Lämmern dieser Welt beizustehen. Der zweite Unterschied zum gewöhnlichen Opferlamm besteht darin, dass Jesu Opfer nicht bloß eines in einer endlosen Reihe weiterer Opfer ist, sondern durch Jesu Opfer alle weiteren überflüssig werden. Mit ihm endet also das Blutvergießen, durch das Menschen versuchten Sühne zu leisten und Gottes Wohlwollen zu erwerben. Gottes Sohn macht dem durch das Opfer seines Lebens ein Ende. Denn er hat ein für allemal die Schuld getilgt. Christus, der Löwe, ist den Weg des Lammes gegangen, damit nach ihm keiner mehr diesen Weg gehen muss. Und darin liegt dann auch schon der dritte Unterschied zum gewöhnlichen Opferlamm: Christi Opfer lässt die Forderung nach Sühne nicht nur zu ihrem Recht, sondern auch zu ihrem Ende kommen. Denn wenn der Löwe den Weg des Lammes geht, gehorcht er damit nicht der Logik des Schlachthauses, sondern durchbricht diese Logik. Worin schließlich besteht sie? Doch darin, dass sich im Schlachthaus die Starken über die Schwachen hermachen und das Blut derer vergießen, die sich nicht wehren können. Hier aber geht Gott selbst – der Stärkste aller Starken! – freiwillig den Weg des Schwachen und vergießt sein eigenes Blut. Er stellt damit die gewohnte Ordnung auf den Kopf und wählt für sich den Tod, damit wir Zugang zum Leben gewinnen. Gott geht den Weg ans Kreuz, damit kein anderer ihn mehr gehen muss. Durchbrochen ist damit die blutige Ordnung, aufgehoben ist der Fluch, getilgt ist die Schuld, und getragen die Strafe. Das Gewitter, das nicht ausbleiben konnte, ist über Christus niedergegangen. Der Zorn hat sich entladen. Darum ist die Luft nun rein, der Albtraum zu Ende – und das Lamm Gottes trägt den Sieg davon. Jesus Christus sprengt damit das Klischee des „Opfers“. Er passt nicht wirklich in dieses Schema. Denn obwohl er unschuldig ist wie ein Lamm, weiß er doch genau, was er tut. Er wird gefesselt zur Schlachtbank geführt – und geht doch frei und willentlich. Er wird zum Opfer – und unterliegt dabei doch nicht, sondern siegt. Ihm wird das Leben genommen – und doch gibt er es selbst hin. Er trägt den Fluch – und überwindet ihn zugleich. Er gehorcht der Ordnung – und durchbricht sie doch. Ein merkwürdiges Lamm ist er, das auf den ersten Blick unser Mitleid weckt. Und trotzdem trägt das Lamm in der christlichen Kunst die Siegesfahne. Wenn wir an die üblichen Wappentiere denken, scheint diese Verbindung absurd. Die wilden Bären, Adlern und Löwen wirken viel imposanter und stärker! Doch verstehen wir den Weg Jesu, werden wir die Sanftheit des Lammes am Ende zu schätzen wissen. Denn dieses Lamm nährt sich nicht vom Blut der Schwächeren, wie Bären, Adler und Löwen es tun. Es trägt die Siegesfahne zum Zeichen, dass es nicht der Logik des Schlachthauses unterliegt, sondern diese Logik aufhebt. Es ist das Lamm, das sein Blut vergießt, um allem Blutvergießen ein Ende zu machen. Und so gesehen scheint es mir von allen Wappentieren das Imposanteste zu sein. Es wundert mich auch nicht, dass es im letzten Buch der Bibel so sehr im Mittelpunkt steht. 

In der Johannesoffenbarung wimmelt es nur so von gefährlichen Tieren. Da kommen Löwen, Adler und Stiere vor, wilde Pferde, Heuschrecken und Skorpione, Schlangen und Drachen, Panther und Bären, schreckliche Kreaturen aus dem Meer und Monster aus dem höllischen Abgrund, unreine Geister tauchen auf, die Hure Babylon und der Antichrist, jede Menge Menschen, Engel und apokalyptische Reiter – das ist ein wildes Spektakel, in dem kein Stein auf dem andern bleibt! Wer aber steht mittendrin, ungerührt und unantastbar? Wer hat im wüsten Handgemenge die Kontrolle und ist würdig, die Siegel zu lösen? Es ist das Lamm, das scheinbar schwächste Wesen überhaupt, dem im Endgeschehen niemand mehr etwas entgegenzusetzen hat. Das Lamm, das siegte, indem es sich besiegen ließ, steht im Mittelpunkt. Es ist der ruhende Pol im wirren Drama. Und dieses Lamm allein ist würdig, das große Buch aufzutun. Jene Menschen aber, die am Ende durch alle Not hindurch gerettet werden und mit weißen Kleidern angetan sind, das sind jene, die ihre Kleider gewaschen haben im Blut des Lammes. Das scheinen seltsame Bilder zu sein, die nicht jeder versteht. Doch – lassen wir uns nicht darüber täuschen, dass hier nur beschrieben ist, was eines Tages wirklich kommt. Noch sieht es so aus, als ob in unserer Welt die Adler und die Löwen regierten. Doch mitten im Untergang steht schon unberührt und souverän das siegreiche Lamm, das unseren Fluch durchbrach, das unsere Strafe trug und unseren Tod starb. Dieses Lamm allein wird über uns richten und unser Leben bilanzieren. Dies Lamm allein wird bleiben. Vor ihm werden sich alle Knie beugen. Und was das Lamm für sich erwarb, das wird ihm niemand mehr nehmen. Wie frei und selig sind wir, wenn wir auf seiner Seite stehen!