Die Gerasener Schweine

Die Gerasener Schweine

The Miracle of the Gaderene Swine / Briton Rivière, Public domain, via Wikimedia Commons

 

Das Neue Testament kennt viele seltsame Geschichten. Doch diese (Lk 8,26ff.) ist ganz besonders merkwürdig. Jesus fährt mit seinen Jüngern über den See Genezareth zum östlichen Ufer – dorthin, wo keine Juden wohnen, sondern heidnische Völker. Und schon das ist ein wenig rätselhaft, denn Jesus predigt sonst nur dem eigenen Volk. Er weiß sich gesandt zu den Kindern Israels (Mt 15,24). Was will er also bei den Gerasenern? Es wird uns nicht erklärt. Kaum aber, dass Jesus aus dem Boot steigt, kommt es zur Begegnung mit einem gefährlichen Besessenen, einem völlig irren, aggressiven Menschen, der dort schon lange die Gegend unsicher macht und die Menschen in Angst versetzt. Denn der Mann haust in Grabhöhlen bei den Toten, schreit und schlägt sich selbst mit Steinen. Er greift in seinem Wahn offenbar auch Reisende an, die hier die Straße zum See hinunter gehen, und lässt sich in keiner Weise bändigen. Markus berichtet, man habe ihn mit Fesseln und Ketten zu binden versucht, er habe sie aber in seiner Raserei alle zerrissen (Mk 5,3-4). Es sind offenbar unreine, böse Geister, die ihn beherrschen. Dämonische Kräfte haben ihn in der Gewalt. Als aber Jesus sein Gebiet betritt – was tut der Besessene? Greift er Jesus an? Oder versucht er, sich vor ihm zu verstecken? Beides wäre denkbar, denn Jesus ist als Exorzist bekannt (vgl. Lk 11,14ff.). Doch der Besessene kommt herbeigelaufen, um vor Jesus niederzufallen und mit ihm zu verhandeln. Der Dämon hat offenbar erkannt, dass er es mit Gottes Sohn zu tun hat. Es wäre sinnlos, vor Jesus zu fliehen oder ihn anzugreifen. Und darum verlegt sich der Besessene aufs Jammern: „Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!“ (Mk 5,7). Bei Matthäus heißt es noch deutlicher: quäle mich nicht, „ehe es Zeit ist“ (Mt 8,29). Denn der Dämon weiß durchaus, dass Gott ihn am Ende der Zeit von der Erde vertreiben und in die Hölle verbannen wird. Er meint aber wohl, es sei noch nicht so weit. Er findet, es sei zu früh. Jesus hingegen ist wenig beeindruckt von solchem Bitten und Flehen – und fragt den bösen Geist erst einmal nach seinem Namen. Der nennt sich „Legion“, weil in dem besessenen Mann nicht bloß einer, sondern sehr viele Dämonen hausen. Und das erklärt auch gleich seine Kraft und Gefährlichkeit. Denn wie 2000 Soldaten eine Legion bilden, so hausen 2000 böse Geister in diesem armen Mann. Sie wissen, dass Jesus ihnen trotz ihrer Zahl überlegen ist. Sie wissen, dass Jesus das Reich Gottes ausbreitet, indem er Menschen innerlich und äußerlich heilt, reinigt und vom Bösen befreit. Folglich ahnen sie, was ihnen bevorsteht – und machen darum einen „Vorschlag zur Güte“. Sie bitten Jesus, sie nicht aus dieser Gegend zu vertreiben oder sie in die Unterwelt zu verbannen, sondern – weil in der Nähe eine große Herde von Schweinen auf der Weide steht – bitten sie, in diese Schweine fahren zu dürfen. Man mache sich bewusst, welche Unverschämtheit in diesem Vorschlag liegt. Ausgerechnet diese Ausgeburten der Hölle wollen Jesu Mitleid erregen! Sie, die den armen Mann jahrelang unerbittlich gequält haben, beschwören Jesus „bei Gott“ (!) sie zu verschonen. Statt bedingungslos zu kapitulieren, wollen sie „freies Geleit“. Ja sie glauben anscheinend, sie hätten einen Wunsch frei und könnten mit Jesus einen Deal machen. Jesus aber gibt tatsächlich sein „ok“. Und für einen Moment fragt man sich, ob er am Ende wirklich ein Herz hat für 2000 kleine Teufel. Er erlaubt ihnen den geordneten Rückzug in die Schweineherde. Das überraschende Ergebnis ist aber, dass sich nun 2000 Schweine so wahnsinnig gebärden wie vorher der eine Mann. Denn die Säue stürmen den Abhang hinunter, stürzen sich in den See und ertrinken. Dem Besessenen verschafft das natürlich Erleichterung. Denn er ist nun befreit, redet vernünftig, bekleidet sich und benimmt sich zivilisiert. Die Leute aus dem Ort staunen und freuen sich für ihn. Doch weniger begeistert sind die Schweinehirten, die einen gewaltigen Verlust erlitten haben. Und man kann verstehen, dass ihnen dieser Jesus nicht geheuer ist. Wer weiß, was der noch so alles kann! Und so bitten die Bürger jener Gegend, Jesus möge doch aus ihrem Gebiet fortgehen. Jesus tut ihnen den Gefallen, steigt mit seinen Jüngern ins Boot und fährt zurück. Doch – warum tut er das? War er sowieso nur wegen dem einen Mann hergekommen? Oder spürte er, dass er sich unbeliebt gemacht hat? Dass wir die ganze Geschichte nicht mit den Augen des Tierschutzvereins betrachten dürfen, ist klar. Für die jüdischen Zeitgenossen Jesu waren Schweine ohnehin unreine Tiere, die sie nicht mal berührt hätten. Nur, wir heute – was sollen wir mit dieser Erzählung anfangen? Es ist nicht mal klar, wer hier zuletzt lacht. Denn man kann die Geschichte so lesen, als habe die Raffinesse der Dämonen gesiegt: Sie haben den Untergang der Schweine vielleicht bewusst herbeigeführt, weil sie voraussahen, dass dies den Protest der Hirten zur Folge haben würde. Sie haben geahnt und gehofft, dass die Bevölkerung Jesus dann auffordert, das Gebiet zu verlassen. Ihm wird dadurch die Möglichkeit genommen, im heidnischen Gebiet Mission zu betreiben. Er muss unverrichteter Dinge nach Israel zurückkehren. Und ihm damit eins auszuwischen, war den Dämonen vielleicht so wichtig, dass sie es in Kauf nahmen, mit den Schweinen umzukommen. Das Ganze wäre dann ein kluger Schachzug gewesen. Doch ist auch die umgekehrte Lesart möglich. Denn die Dämonen haben vielleicht wirklich gemeint, sie könnten ihrer Vernichtung entgehen, wenn sie in die Schweine ausweichen. In diesen hätten sie ein Zwischenquartier gefunden, bis Jesus wieder weg ist – und hätten sich danach in Ruhe neue Opfer gesucht! Die Dämonen kommen sich schlau vor, indem sie auf Jesu Mitleid setzen. Sie wollen testen, ob sich Jesu Feindesliebe vielleicht auch auf satanische Mächte erstreckt und ausgenutzt werden kann. Jesus hat sich dann aber einen Spaß mit ihnen erlaubt, indem er zum Schein auf ihren Wunsch eingeht und den Umzug in die Schweine genehmigt – nur um das neue Domizil umgehend zu versenken und die Dämonen gemeinsam mit den Schweinen auf den Grund des Sees zu schicken. Wie ist der Text aber nun wirklich zu verstehen? Es läuft auf die Frage hinaus, wem der Untergang der Schweine schadet, und wer durch ihn triumphiert. Triumphieren die Dämonen, weil Jesus sich unbeliebt macht und im Gebiet von Gerasa nicht mehr willkommen ist? Oder triumphiert Jesus, weil mit den Schweinen auch die Dämonen zugrunde gehen? Die erste Lesart ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil Jesus gar keine Absicht erkennen ließ, im heidnischen Gebiet zu missionieren. Es wäre ganz gegen seine Gewohnheit gewesen – und muss darum auch nicht vereitelt werden. Die Wahrheit finden wir folglich in der zweiten Lesart, durch die unsere merkwürdige Geschichte auch sofort eine klare Botschaft bekommt. Denn Jesus Handeln zeigt, dass das Böse kein Mitleid verdient und auch keines bekommt. Er demonstriert, dass er sich mit dem Bösen weder auf Diskussionen noch auf Kompromisse einlässt. Und er macht vor allem klar, dass er dem Bösen kein Aufschub gewährt. Denn die „Legion“ der Dämonen erlag einem Irrtum, als sie baten, nicht „vor der Zeit“ gequält zu werden. Sie meinten, ihre Zeit sei noch nicht abgelaufen. Sie meinten, das Gericht Gottes sei fern – es hätte noch Zeit mit ihrer Verdammnis. Doch in der Menschwerdung Gottes hat ihre Stunde geschlagen. Mit dem Erscheinen Jesu ist ihre Zeit zu Ende gegangen. Und Gottes Sohn gewährt ihnen keinen Aufschub. Er gibt seinen Feinden nicht die Chance, nach einem kurzen Rückzug in die Schweine wieder auf Menschen überzugreifen. Jesus verhandelt nicht und toleriert sie nicht, er lässt sich auf keine Zwischenlösung ein, sondern schickt die Dämonen auf kürzestem Wege in den Orkus. Unter Jesu Augen müssen sie den Geist aufgeben. Und eben das ist die Botschaft, die wir der Erzählung entnehmen dürfen: Wo Jesus auftaucht, ist das Gericht nicht mehr Zukunft, sondern Gegenwart. Wo er auftaucht, fällt eine sofortige Entscheidung über Heil und Unheil. Ihm gegenüber muss keiner mehr auf den Jüngsten Tag warten. Sondern in Jesu Gegenwart geht augenblicklich unter, was untergehen soll, und es wird frei, was befreit werden soll. Jesus räumt weder Fristen ein noch macht er Kompromisse. Wenn aber jemand findet, das passe doch nicht zur Milde Jesu, dass er die Feindesliebe, die er predigt, diesen Dämonen gegenüber nicht praktiziert – dann hat der ein falsches Bild von Jesus und muss es nun revidieren. Denn Gottes Sohn unterscheidet strikt zwischen dem Bösen selbst und dem Geschöpf, das dem Bösen unterliegt. Theoretisch wie praktisch will er das eine vom anderen trennen. Den Besessenen will er nämlich retten – seine Besessenheit aber beenden. Den Sünder nimmt er an – aber seine Sünde verwirft er. Der Person gilt seine Liebe – aber nicht ihrer krankhaften Verkehrtheit. Jesus unterscheidet das konsequent! Und darum darf die Person mit seiner Milde und Barmherzigkeit rechnen. Das Krankhafte und Falsche hingegen, das sich der Person bemächtigt hat, muss weichen und wird keineswegs geduldet. Denn da ist Jesus so „gnadenlos“, wie wir es in seiner Nachfolge auch sein sollten. Das Böse verdient keine Reservate, Schonfristen, Rückzugsräume oder Nischen. Es hat keinen Anspruch auf Geduld oder Verständnis. Und sentimentales Zaudern nutzt es nur, um seine Wiederkehr vorzubereiten (Lk 11,24-26). Darum verdient das Böse keinerlei Nachsicht. Barmherzigkeit gegen Wölfe ist Grausamkeit gegen Schafe! Gottes Liebe aber steht klar auf der Seite seiner verirrten Schafe. Und sie kennt darum keine laue Nachgiebigkeit, sondern ist Gottes entschlossener Zugriff auf diese kranke Welt. Wer in ihr den Sünder liebt, muss durchaus nicht seine Sünde lieben. Sondern, ganz im Gegenteil, wird er um des Sünders willen die Sünde rigoros ablehnen. Wer einen Kranken liebt, wird eben darum (und genau in demselben Maße) seine Krankheit hassen. Und so hat auch Jesus, weil er den Besessenen dieser Welt gnädig sein will, keine Gnade mit 2000 Dämonen, sondern schickt sie umgehend zum Teufel, von dem sie gekommen sind. Auch in dieser Hinsicht bringt Jesus nicht den Frieden, sondern das Schwert (Mt 10,34). Er führt einen kompromisslosen Streit, um die Werke des Teufels zu zerstören (1. Joh 3,8). Und genauso entschlossen, wie er die Sünder liebt, hasst er alles, was ihnen an Leib und Seele schadet. Jesus streitet für uns und streitet darum gegen alles Problematische, das uns anhaftet. Seine Liebe ist stark in dem, was sie bejaht – und darum unerhört scharf in dem, was sie verneint. Was aber kann uns Besseres passieren, als Gegenstand einer so entschiedenen und tatkräftigen Fürsorge zu sein?