Simson und Delila
Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das biblische Texte, die ich auch nach den vierten und fünften Lesen nicht verstehe. Und die Geschichte von Simson und Delila gehört leider dazu. Ich befrage in solchen Fällen viele kluge Bücher und schlage nach bei guten Theologen, die mir gewöhnlich auf die Sprünge helfen. Irgendwie gibt es ja immer eine „Moral von der Geschicht‘“, irgendeine Lehre, die man ziehen kann. Aber bei Simson und Delila will mir das nicht gelingen, obwohl man die Handlung leicht versteht. Simson lebt zu der Zeit, als Israel sich mit dem Volk der Philister herumschlägt. Und Simson ist in diesem Streit so etwas wie ein Held, weil er übernatürliche Kraft hat und im Kampf von niemand überwunden werden kann. Er hat mit bloßen Händen einen Löwen getötet (Ri 14,5-6). Er hat den Philistern ihre Felder angezündet (Ri 15,1-5). Er hat ganz allein mit einem Eselskinnbacken als Waffe 1.000 Philister erschlagen (Ri 15,15-17). Und als sie ihn in der Stadt Gaza einsperren wollten, hob er einfach das gesamte Stadttor samt Pfosten und Riegel auf seine Schultern und trug es weg (Ri 16,1-3). Ja, Simson mit seiner Superkraft ist der Alptraum seiner Feinde. Sie kommen ihm nicht bei. Und nur die eine Schwäche hat er – dass ihm nämlich die Töchter der Philister besonders gut gefallen (Ri 14,1-3; 16,4). So liebt er wieder mal eine von ihnen, ein Mädchen namens Delila. Er lebt auch mit ihr zusammen. Und die Philister sind nicht dumm. Was sie mit Gewalt nicht schaffen, versuchen sie mit List. Und so versprechen sie Delila sehr viel Geld als Belohnung, wenn sie herausfindet, worauf Simsons große Kraft beruht, und wie man ihn eventuell bezwingen kann. Die Summe, die sie in Aussicht stellen, ist astronomisch hoch. Und so versucht Delila Simson sein Geheimnis zu entlocken. Sie umgarnt ihren Freund, sie nutzt die Waffen einer Frau und fragt: „Sage mir doch, worin deine große Kraft liegt und womit man dich binden muss, um dich zu bezwingen?“ (Ri 16,6). Sie hat diese Frage sicher mit schmeichelnden Worten umrahmt und hat ihn daran erinnert, dass er doch vor seiner Geliebten keine Geheimnisse haben muss. Aber so blöd ist Simson dann doch nicht, dass er sein Geheimnis spontan ausplaudert. Offenbar misstraut er Delila – und gibt ihr darum eine falsche Antwort. Er sagt: „Wenn man mich bände mit sieben Seilen von frischem Bast, die noch nicht getrocknet sind, so würde ich schwach und wäre wie ein anderer Mensch“ (Ri 16,7). Delila nimmt das für bare Münze und gibt die Information eilig an die Philister weiter. Die bringen sieben frische Seile, lauern Simson im Schlafzimmer auf und versuchen ihn zu fesseln. Doch er zerreißt die Seile, als wären es Bindfäden, und entkommt. Nun ist offenkundig, dass Delila ihren Geliebten verraten hat. Und man würde erwarten, dass er sie in die Wüste schickt. Denn was soll er mit einer Frau, die ihn für Geld an seine Feinde verkauft? Doch hier wird es schon seltsam. Denn wir hören nicht, dass Simson von Delila auch nur eine Erklärung fordert oder eine Entschuldigung, sondern im Gegenteil: Die traute Zweisamkeit geht weiter. Und weil Frechheit siegt, macht Delila dem Simson auch noch Vorwürfe. Sie schmollt und sagt: „Siehe, du hast mich getäuscht und mich belogen. So sage mir nun doch, womit kann man dich binden?“ (Ri 16,10). Wahrscheinlich hat sie das mit einem treuen Augenaufschlag verbunden oder mit einem entwaffnenden, ganz unwiderstehlichen Lächeln. Sie versucht dieselbe Masche einfach noch einmal – und schaut, was passiert. Simson aber ist noch nicht ganz um den Verstand gebracht und rückt auch diesmal nicht mit der Wahrheit heraus, sondern antwortet: „Wenn sie mich bänden mit neuen Stricken, mit denen noch nie eine Arbeit getan worden ist, so würde ich schwach und wie ein anderer Mensch“ (Ri 16,11). Wir müssen nicht lange raten, was daraufhin passiert. Delila verrät alles an die Philister, sie besorgen neue Stricke, und Delila fesselt Simson damit, während er schläft. Doch als die Schergen da sind, reißt er die Stricke wieder herunter wie Fäden. Spätestens jetzt müssten die beiden wissen, was sie aneinander haben. Und wenn da stünde, Simson hätte Delila spontan aus dem Fenster geworfen, würde man sich nicht wundern. Denn sie hat sich zum zweiten Mal als ein falsches Luder erwiesen. Zum zweiten Mal hat sie sich beteiligt an einem Komplott zur Verhaftung und Tötung Simsons. Aber, wie soll man es erklären? Er trennt sich trotzdem nicht von ihr. War wohl Simson ein gutmütiger Trottel? Oder war Delila eine so umwerfende Schönheit? Wir finden das Paar wieder beieinander, und Delila ist dreist genug, ihr Glück zum dritten Mal auf dieselbe Weise zu probieren. Sie versucht, sein Geheimnis aus ihm herauszukitzeln, ist vermutlich zärtlich, gibt ihm Kosenamen. Und er belügt sie mit dem bekannten Ergebnis. Er behauptet, um ihm seine Kraft zu rauben, müsse man die sieben Locken seines langen Haares zusammenflechten und mit einem Pflock befestigen. Sobald er eingeschlafen ist, versucht sie das – und scheitert erneut (Ri 16,13-14). Vielleicht hat Simson über ihren Misserfolg sogar gelacht und war sich seiner Sache allzu sicher! Vielleicht hat er gemeint, das sei ein lustiges Spiel, ein Spaß, den er sich mit Delila noch oft machen könnte! Doch sie zieht nun alle Register, zerdrückt ein Tränchen, schluchzt ein wenig und sagt: Hach, Simson du liebst mich nicht. Wenn du mich liebtest, würdest du nichts vor mir verbergen. Wenn du mich liebtest, würdest du nicht nur das Bett, sondern auch deine Geheimnisse mit mir teilen. „Wie kannst du sagen, du habest mich lieb, wenn doch dein Herz nicht mit mir ist? Dreimal hast du mich getäuscht und mir nicht gesagt, worin deine große Kraft liegt“ (Ri 16,15). Simson könnte den Vorwurf mit Recht zurückgeben und seinerseits Delilas Liebe in Zweifel ziehen. Denn schon dreimal hat sie ihn verraten! Was für eine Liebe soll das wohl sein? Doch, nein – um Argumente geht es hier nicht. Und mit emotionaler Erpressung kennt sich Delila besser aus. Sie nervt Simson nun täglich mit ihren Vorwürfen, sie macht ihn mürbe, schmollt und weint. Sie redet auf ihn ein und setzt ihm zu, vergällt ihm das Leben bis (wie die Bibel sagt) seine Seele „sterbensmatt“ wird. Delilas Gezeter verwandelt seine Gehirn in eine dumpfe Masse. Schließlich haben Psychoterror und Liebesentzug den starken Mann emotional weichgekocht, bis ihm alles egal ist – es soll nur aufhören. Sie soll wieder lieb sein, so dass er seinen Frieden hat, und so sagt er schließlich rundheraus, wie es ist: Seit seiner Geburt wurden ihm nie die Haare geschnitten. Auf diese Weise ist er Gott geweiht. Würde sein Haar aber geschoren, wäre er nur noch so stark wie jeder andere Mann. Delila spürt sofort, dass dies nun die Wahrheit ist. Und wie sie bisher keine Skrupel hatte, so auch jetzt nicht. Sie ruft heimlich die Philister herbei und schneidet dem schlafenden Simson die Locken ab. Damit ist seine Kraft von ihm gewichen, die Philister können ihn überwältigen, sie legen ihn in Ketten, vorsichtshalber stechen sie ihm auch gleich noch die Augen aus – und nach nicht allzu langer Zeit endet das Ganze mit Simsons Tod (Ri 16,18-31). Der gute Mann nimmt ein schlechtes Ende. Und das nicht etwa, weil er einem Stärkeren begegnet wäre, sondern bloß, weil er der Beharrlichkeit und Raffinesse seiner Freundin erlag. Delila war eine falsche Schlange. Und hier beginnt das eigentliche Rätsel – Simson wusste das auch. Schließlich hat er sie mit seinen Falschaussagen dreimal getestet und auf die Probe gestellt. Dreimal hat sie sich als Verräterin gezeigt und ist damit aufgeflogen. Dreimal hat sie bewiesen, dass ihre Liebe nichts wert ist. Nur bitte: Was hat Simson dann beim vierten Mal gedacht? Hat er die Fakten einfach nicht zur Kenntnis genommen? Hat er gegen jede Vernunft erwartet, seine Freundin wäre plötzlich geläutert? Wollte er das unbedingt glauben? Oder wollte er lieber sterben, als eben diese Realität zu sehen, dass Delila ein Luder ist? Das ist völlig irrational! Delilas Tarnung war schon dreimal aufgeflogen. Sie arbeitet für den Feind! Wie kann Simson handeln, als habe er‘s nicht gesehen? Wie kann er denn aus so viel Erfahrung so wenig lernen? Und – selbst wenn der Mann (blind vor Liebe) so vernagelt gewesen sein sollte – bitte: Welche Lehre sollen wir daraus ziehen? Eigentlich hat doch jede biblische Erzählung eine Quintessenz, eine Pointe, eine „Moral von der Geschicht‘“! Aber wie sollte die hier wohl lauten? Vielleicht: Verliebe dich nicht in die Tochter deines Feindes? Oder: Plaudere nichts aus, was dein Feind gegen dich verwenden kann? Vielleicht: Denke nicht, dass deine Frau dich mehr liebt als einen Batzen Geld? Oder: Geld regiert die Welt, jeder ist käuflich? Lernen wir hier: Wenn deine Kraft auf einem Geheimnis beruht, dann halt lieber den Mund? Oder: Beharrlichkeit siegt über Kraft, und steter Tropfen höhlt den Stein? Welchen Lehrsatz sollen wir als Bibelleser aus dieser Sache ableiten? Fürchte deine Feinde, aber noch mehr fürchte deine Freundin? Ignoriere nicht das Offensichtliche, sondern versuche, aus Erfahrung klug zu werden? Kenne deinen schwachen Punkt, damit er dir nicht zum Verhängnis wird? Genieße, was eine schöne Frau dir bietet, aber lege dein Leben nicht in ihre Hand? Ich komme da irgendwie nicht weiter. Alle diese Folgerungen sind entweder banal – oder zur Hälfte falsch. Und auch Simson selbst bleibt mir ein Rätsel. Denn es scheint ja fast, also wollte er mit aller Gewalt an das Gute im Menschen glauben. Und zwar ausgerechnet an das Gute in seiner Delila. Obwohl sie dreimal gezeigt hat, dass sie sein Vertrauen nicht verdient, liefert er sich noch ein viertes Mal ihrer Willkür aus. Nachdem sie ihm dreimal ihre Falschheit bewiesen hat, glaubt er immernoch, es würde vielleicht beim vierten Mal anders ausgehen. Das ist so unsinnig, dass man es mit Dummheit allein kaum erklären kann. Es sieht schon eher nach Todessehnsucht aus – so als wollte der ewige Sieger nun endlich überwunden werden, so als sei er des Lebens müde. Denn wäre Simson bei klarem Verstand gewesen, hätte er Delila schon beim zweiten oder dritten Verrat den Hals umgedreht! Sie aber kann ihr Glück kaum fassen, dass Simson so wenig lernfähig ist und keine Konsequenzen zieht. Nachdem sie dreimal vergeblich versucht hat, ihn ins Verderben zu stürzen, gibt ihr Simson selbst die Mittel in die Hand, dass sie beim vierten Mal erfolgreich sein kann. Obwohl ihre Absichten klar zu Tage liegen, liefert er ihr selbst die Munition, mit der sie ihn dann erschießt. Es scheint, als habe er eingewilligt, auf diese Weise unterzugehen. Er hat geredet, wo er hätte schweigen können. Oder war er einfach nur die vielen Lügen leid? Das würde ihn mir sehr sympathisch machen. Aber, lieber Simson – schulden wir etwa denen die volle Wahrheit, von denen wir wissen, dass sie sie nur zum Bösen nutzen? Ich komme da irgendwie nicht mit – und kann mir folglich auf Simsons Geschichte keinen Reim machen. Ich muss tun, was Luther in solchen Fällen empfiehlt: Dass man nämlich vor Bibelstellen, die man nicht versteht, ehrfürchtig den Hut zieht und einstweilen vorübergeht in der Hoffnung, dass Gott einem zu gegebener Zeit noch das rechte Verständnis schenkt. Bis dahin bleibe ich aber dabei, dass ein Christ nicht an das Gute im Menschen glaubt, sondern an das Gute in Gott. Ich empfehle das auch jedem anderen – und bin sicher, dass man damit besser fährt.
Bild am Seitenanfang: Samson and Delila
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