Rut und Boas

Rut und Boas

Boaz and Ruth, Charles Lock Eastlake, Public domain, via Wikimedia Commons

Manchmal suche ich bewusst nach biblischen Texten, die ich noch nie behandelt habe. Und so bin ich jetzt auf das Buch Rut gestoßen. Denn das ist zwar ehrwürdig und bekannt. Doch wusste ich mit der Geschichte nie etwas Rechtes anzufangen – und nehme das nun zum Anlass, nochmal genauer hinzusehen. Denn wer ist diese Rut? Wir würden heute wohl sagen, sie hat einen „Migrationshintergrund“. Denn als einst in Israel eine Hungersnot herrschte, war ein jüdisches Ehepaar mit zwei Söhnen ins benachbarte Moab gezogen. Dort im Ausland konnten sie überleben. Dort gab es noch Nahrung. Und darum blieben sie auch. Als die beiden Söhne erwachsen wurden, heirateten sie moabitische Frauen, von denen eine Orpa hieß – und die andere Rut. Nach einigen Jahren starb allerdings nicht nur der alte Vater, sondern bald starben auch die Söhne. Und die betagte Schwiegermutter namens Noomi blieb übrig mit ihren zwei jungen moabitischen Schwiegertöchtern. Der Ehemann und die Söhne sind begraben. Es gibt nichts mehr, was die alte Frau in Moab halten könnte. Und so will Noomi zurück in ihre alte Heimat Israel, nach Bethlehem in Juda, woher sie stammt. Den Schwiegertöchtern rät sie aber, in ihre moabitischen Familien zurückzukehren und noch einmal zu heiraten. Sie will die beiden jungen Frauen nicht in ihr eigenes Unglück mit hineinziehen. Sie sollen die Chance haben, neu anzufangen. Doch ist das Verhältnis zwischen den drei Frauen offenbar gut und eng. Rut und Orpa wollen sich von Noomi nicht trennen, sondern weinen und wollen mit ihr nach Israel gehen. Orpa lässt sich noch überreden in Moab zu bleiben und nimmt Abschied. Rut aber ist anhänglich und spricht zur Schwiegermutter: „Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden“ (Rut 1,16-17). Mit entschlossenen Worten zeigt Rut hier große Treue, wie man sie eher zwischen Ehepartnern erwarten würde. Sie lässt ihre Schwiegermutter nicht im Stich, sondern zieht mit ihr ins jüdische Land, das ihr als geborener Moabiterin völlig fremd ist. Und – was man nicht übersehen darf: Indem sie sagt „dein Gott ist mein Gott“, schwört sie auch der moabitischen Religion ab, in der sie erzogen wurde, und bekehrt sich zum Gott Israels. Zu ihm nehmen die Frauen nun Zuflucht! Doch kommen sie natürlich mit leeren Händen nach Bethlehem. Und sie leben dort ohne den Schutz eines männlichen Familienvorstandes in sehr prekären, armseligen Verhältnissen. Eigentlich heißt die Schwiegermutter „Noomi“, was bedeutet „die Liebliche“. Doch nun will sie lieber „Mara“ genannt werden, „die Bittere“. Denn (so sagt sie) Gott hat ihr durch den Tod ihres Mannes und der beiden Söhne viel Bitteres angetan (Rt 1,20). Tatsächlich haben alleinstehende Frauen zu dieser Zeit kaum Rechte und stehen am Rande der Gesellschaft ganz auf der untersten Stufe. Es gibt kein Sozialsystem, sie sind auf Almosen angewiesen. Und so muss sich Rut, die junge Moabiterin, bei der Gerstenernte vom Besitzer eines Feldes das Recht erbitten, hinter seinen Erntearbeitern herzugehen und das aufzulesen, was ihnen herunterfällt und so von der Ernte liegen bleibt. Der Besitzer des Feldes ist ein angesehener, schon etwas älterer Mann namens Boas. Er ist sogar mit dem verstorbenen Ehemann der Noomi verwandt. Und er erlaubt Rut, sich zu seinen Mägden zu halten und dort Ähren aufzulesen. Seine Knechte bekommen Order, sie nicht anzutasten oder zu beschämen. Sie erhält sogar etwas zu trinken und zu essen. Und als sie sich über so viel Freundlichkeit wundert, zeigt Boas Anerkennung für ihr Tun. Er weiß, dass sie ihre Heimat verlassen hat, um Noomi beizustehen. Er weiß, dass sie es als Ausländerin schwer hat. Er will ihr aber zeigen, dass man nicht umsonst bei Israels Gott und in seinem Land Schutz sucht – und behandelt sie darum gut (Rt 2,10-12). Als Rut am Abend zu Noomi kommt, hat sie einen Scheffel Gerste dabei. Die beiden können sich satt essen. Und natürlich erzählt Rut von jenem freundlichen Mann namens Boas. Die hoch erfreute Schwiegermutter aber (die natürlich weiß, dass Boas zur weiteren Verwandtschaft zählt) sieht plötzlich eine Perspektive für Rut. Sie möchte sie für alle Zukunft gut unterbringen. Und so gibt sie Rut einen doch etwas bedenklichen Rat: Boas wird in dieser Nacht auf dem Dreschplatz sein, um Gerste von der Spreu zu scheiden. Und wie es üblich ist, wird er dort auch übernachten. Rut aber soll sich baden und hübsch machen – und wenn Boas sich dann schlafen legt, soll sie zu ihm schleichen, die Decke zu seinen Füßen aufdecken, sich dort hinlegen und tun, was er ihr sagt. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, worauf das hinausläuft. Rut soll sich dem Boas mit ihren weiblichen Reizen anbieten (hübsch gemacht wie eine Braut) – und dann wird man schon sehen, was passiert. Das klingt sehr nach einem „unmoralischen Angebot“. Doch Rut ist sich dafür nicht zu schade und folgt Noomis Rat. Boas legt sich am Abend hinter einem Kornhaufen schlafen. Rut schleicht sich zu ihm. Und als er um Mitternacht aufwacht, entdeckt er die Frau zu seinen Füßen. Das Angebot ist deutlich genug. Je nachdem kann man darin einen Heiratsantrag sehen – oder auch bloß einen Verführungsversuch. Doch so oder so könnte Boas die Situation ausnutzen. Er könnte jetzt für eine Nacht seinen Spaß haben und am nächsten Morgen so tun, als wäre nichts gewesen. Ja, es wäre leicht, der armen Rut den letzten Rest ihrer Würde zu nehmen und sie anschließend zum Teufel zu jagen. Denn in Bethlehem würden alle lachen und sagen: „Seht, die kleine Schlampe aus Moab hat sich an Boas rangeschmissen! Geschieht ihr nur recht, der billigen Dirne! Was treibt sie sich auch nachts beim Dreschplatz herum!“ Boas könnte Rut benutzen und wegwerfen. Doch das tut er nicht. Er weiß um ihre Tugend. Und auch er selbst hat Anstand. Er will diese Frau nicht schänden. Darum spricht er freundlich mit ihr. Er lobt sie ausdrücklich, dass sie sich keinem der jüngeren Männer an den Hals geworfen hat. Und dann lässt er sie dort unbehelligt bis zum Morgen schlafen. Noch bevor es hell wird, schleicht sich Rut davon, ohne dass jemand den weiblichen Besuch bei Boas bemerkt. Denn – wer würde schon glauben, da sei nichts gelaufen! Boas aber klärt am nächsten Tag noch ein paar Formalität, weil nach jüdischem Recht noch ein anderer Verwandter Ansprüche erheben könnte. Als der aber zurücktritt, macht Boas die Sache amtlich und heiratet Rut (Rt 4,1-12). So endet das gewagte Unternehmen, das Noomi eingefädelt hat, auf glückliche Weise. Denn nun ist nicht nur die Schwiegertochter gut untergebracht und versorgt, sondern auch Noomi selbst. Boas und Rut bekommen bald einen Sohn, den die alte Noomi mit aufzieht. Dieser Sohn wird aber später der Vater von Isai, der seinerseits wieder der Vater Davids ist. Und so wird Rut, das früh verwitwete Mädchen aus Moab, nicht nur zur Urgroßmutter des großen König David, sondern – man höre und staune – sie gehört damit auch in direkter Linie in den Stammbaum Jesu hinein, obwohl sie nichtmal eine geborene Jüdin ist. 

Was will uns das alles aber sagen? Gibt es da eine Lehre zu ziehen? Nun, es ist eine Geschichte, die von mancherlei Not handelt, von Armut und Hunger. Sie handelt aber zugleich von gläubigen Menschen, die Gott aus misslicher Lage rettet. Durch den Tod der drei Männer in Moab fallen ihre Frauen in Armut. Nach dem Zerbrechen der Familie haben sie kaum noch eine Perspektive. Doch sind es aufrechte Menschen, die trotz ihrer Notlage fürsorglich füreinander einstehen. Noomi hätte sich verzweifelt an ihre Schwiegertöchter klammern können, um von ihnen versorgt zu werden. Aber sie will sie lieber nach Hause schicken, damit sie noch einmal heiraten und neu anfangen können. Die Schwiegertöchter wiederum wollen die alte Frau nicht im Stich lassen, die allein kaum überleben würde. Und Rut in ihrer großen Treue setzt sich auch durch. Als Ausländerin stets verachtet und am Rande der Bettelei, versucht sie sich und Noomi mit harter Arbeit durchzubringen. Man hört dabei kein Wort der Klage von ihr. Noomi aber will Rut dauerhaft versorgt wissen. Und sie schätzt den Charakter des Boas richtig ein. Auf Noomis Rat bringt Rut ihre weiblichen Reize ins Spiel, ohne dass die Bibel deswegen den moralischen Zeigerfinger hebt. Boas aber erweist sich als höchst anständig. Denn er nutzt die Situation nicht aus. Er erkennt, dass die Frau, die sich ihm auf der Tenne anbietet, eben kein „billiges Mädchen“ ist. Und so geht er den offiziellen Weg und heiratet sie. Damit findet die Geschichte ihr „Happy End“. Es ist aber keins von der kitschigen Sorte, sondern eins, dass auf Gottes gnädiger Führung und auf den charakterlichen Stärken der Akteure beruht. Noomi handelt fürsorglich. Sie bedenkt Ruts Zukunft und beweist Menschenkenntnis. Rut arbeitet hart bei geringem Einkommen. Boas aber raubt Rut nicht den Rest ihrer Würde, sondern stellt sie wieder her. Wir haben es also mit drei Menschen zu tun, die sich unter problematischen Umstände nicht korrumpieren lassen. Und weil Gott seinen Segen drauf legt, scheint das die erste Botschaft zu sein, die wir dem Buch Rut entnehmen dürfen: Gott hat Gefallen dran, wenn wir nicht einfach in Selbstmitleid versinken. Rut hätte sich an den erstbesten Moabiter ranschmeißen können. Noomi hätte sich über Ruts Zukunft keine Gedanken machen müssen. Und niemand hätte Boas gehindert, in jener Nacht seinen Spaß zu haben und Rut am nächsten Morgen davonzujagen. Aber so waren die drei eben nicht. Und darum gefiel es Gott, aus ihrem Zusammentreffen viel Gutes erwachsen zu lassen. So könnte man es sich mit Ruts Geschichte recht einfach machen und sagen „Ende gut, alles gut“. Doch – es wäre nur die halbe Wahrheit. Denn, mal im Ernst: Ist Noomi nicht doch eine Kupplerin? Verfährt sie nicht nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“? Sicher haben die beiden Frauen Hunger. Aber schickt man darum seine Schwiegertochter nachts zum Dreschplatz, wo die Männer schlafen? Hätte Noomi nicht auch tagsüber zu Boas gehen und mit ihrem Verwandten ganz offen reden können? Auch so hätte sich eine Ehe anbahnen lassen! Was hat die junge Frau also nachts auf dem Dreschplatz zu suchen? Das Worfeln des Getreides ist Männerarbeit. Und eine Frau gehört nicht auf die Tenne. Die Männer schliefen dort nur, um zu verhindern, dass das gerade geerntete Getreide gestohlen würde. Und so geht‘s doch offenbar darum, Boas bei Nacht zu etwas zu verführen, wozu er tagsüber, bei klarem Verstand nicht eingewilligt hätte. Die Frauen wollen ihn überrumpeln, bringen ihn in eine verfängliche Lage – und haben damit hoch gepokert. Denn wie leicht wäre Rut bei dieser Aktion in den Ruf geraten, den Männern nachzuschleichen und sich zu prostituieren. Ja, überhaupt: Wenn Rut Hunger leidet, und Boas Brot hat, wo ist da eigentlich der Unterschied zur Prostitution? Hat das arme Mädchen nicht auf Anraten der Schwiegermutter seine Liebe an den älteren Mann verkauft, um versorgt zu sein? Tun Prostituierte denn etwas anderes? Und war es nicht ein riskantes Spiel, Rut auf so zwielichtige Weise „an den Mann zu bringen“? Hätte es dazu nicht andere Wege gegeben, als sie dem Boas in verlockender Aufmachung vor die Füße zu legen? Der hebräische Text verweist übrigens gar nicht so eindeutig auf die Füße. Die frommen Ausleger verschleiern nur gern, dass der Text viele erotische Anspielungen enthält. Man kann ihn durchaus so verstehen, dass Rut sich an Boas „Seite“ oder einfach „zu ihm“ legt. Und bei einem quasi fremden Mann geht das ja wohl gar nicht! Natürlich kann sagen: Rut traut sich was. Sie setzt alles auf eine Karte. Und der Erfolg gibt ihr Recht. Aber gehört es sich denn, in dieser Weise Liebe gegen Brot zu tauschen? Wenn Boas anders reagiert hätte, wäre Rut für alle zum Gespött geworden. Und für diese riskante Idee soll man Noomi nun loben? Nein, ihr Unternehmen bleibt fragwürdig. Es hat einen allzu berechnenden, allzu menschlichen Beigeschmack. Doch ist das in der Bibel natürlich kein Einzelfall, sondern eher die Regel. Und wenn wir Rut kritisieren, müssen wir der Fairness halber mit bedenken, dass Mose ein Totschläger war, Jakob ein Lügner und David ein Ehebrecher. Die Protagonisten der Bibel haben allesamt keine weiße Weste. Sie alle zogen krumme Linien. Und dennoch vermochte Gott, auf diesen krummen Linien gerade zu schreiben. Gottes Entschlossenheit ist groß, den Segen, den er Abraham zugesagt hat, bis zu Jesus Christus durchzutragen. Und so arbeitet er eben mit den Menschen, die da sind – ohne dass unsre moralischen Mängel sein heilvolles Projekt zu Fall brächten. Die Menschen, die Gott dafür einspannt, sind nicht einwandfrei. Aber das hält ihn nicht auf. So schlecht kann das Material gar nicht sein, dass Gott nicht doch etwas Großartiges draus baute! Und das ist dann auch die Richtung, die wir unseren Gedanken geben sollten im Blick auf das Buch Rut. Noomi und Rut gelingt etwas. Doch kann man‘s nicht zur Nachahmung empfehlen. Und wenn es trotzdem gut ausgeht, dann sicher nicht, weil die zwei es so clever eingefädelt haben (nicht durch bauernschlauen Wagemut, nicht durch die Waffen einer Frau, nicht durch kluge Berechnung), sondern weil Gott gnädig war und seine Hand drüber hielt. Als Rut mit Noomi ging, hat sie sich nicht nur für Noomis Volk, sondern auch für ihren Gott entschieden. Sie hat sich unter seinen Schutz gestellt. Und der Heilige Israels wollte sie das nicht bereuen lassen. Gott ist egal, aus welchem Winkel der Erde ein Mensch stammt. Selbst ein Mädchen aus dem heidnischen Moab hat freien Zugang zu ihm, wenn es seinen angestammten Glauben hinter sich lässt. Die bei Gott Heimat suchen, die lässt er nicht im Regen stehen! Und so ist das Ganze eben doch keine Geschichte über „clevere Menschen“, die sich an der rechten Stelle mit einer Prise Erotik zu helfen wissen, sondern es ist eine Geschichte über unsren Gott, der auch dann noch gnädig ist und uns schützen kann, wenn wir gar nicht mehr so clever, sondern vor allem verzweifelt sind.