Kierkegaards Gänse

Kierkegaards Gänse

Kennen sie die Fabel von Sören Kierkegaard, in der er Gottesdienstbesucher und Pfarrer aufs Korn nimmt? Er schreibt:

 

„Gesetzt den Fall, die Gänse könnten sprechen, so würden auch sie ihren Gottesdienst haben. Jeden Sonntag kämen sie zusammen, und ein Ganter predigte ihnen. Der wesentliche Inhalt seiner Predigt wäre aber, was für eine erhabene Bestimmung doch die Gans habe und was für ein hohes Ziel der Schöpfer der Gans gesetzt habe, denn mit ihren Schwingen könne sie in entfernte Gegenden fliegen, zu gesegneterem Klima, wo sie eigentlich zu Hause ist, denn hier sei die Gans ja ein Fremdling. So ginge es jeden Sonntag: Andächtig und mit gesenktem Blick lauschte man den wohlgesetzten Worten des Ganters über die Vorzüge der Flügel und des Fliegens. Und wenn die Versammlung aufbräche, watschelte jeder wieder heim an seine eigenen Geschäfte. Man würde sich aber sorgsam hüten, nicht etwa wirklich zu fliegen. Denn obgleich die Ansprache am Sonntag so erhaben geklungen hatte, waren die Gänse am Montag eifrig dabei, untereinander zu erzählen, was für schreckliche Dinge einer Gans widerführen, die den Wunsch hätte, ihre Flügel ernstlich zu gebrauchen. Die Gänse schätzten durchaus die erhabenen Predigten des Ganters, weil sie so zu Herzen gingen. Zugleich aber waren sie sich einig, dass man diese Predigten nicht zu wörtlich nehmen dürfe. Denn über die gefährlichen und ungesunden Nebenwirkungen des Fliegens erzählte man sich unter den Gänsen schlimme Dinge. Am Sonntag davon zu reden, wäre natürlich unziemlich gewesen. Also schwieg man sonntags, ging wieder zum Gottesdienst, lauschte andächtig, freute sich der Gottesgabe, Flügel zu haben, watschelte wieder heim – und das war dann das Ende der Geschichte: Denn da die Gänse nie flogen, wurden sie fett und immer fetter – und wurden am Martinsabend aufgegessen…“

 

Nun, als Ganter nehme ich das natürlich persönlich. Aber es bringt mich auch ins Grübeln. Denn Kierkegaard verrät leider nicht, wie die Situation aufzulösen wäre. Spontan würde man sagen, der Ganter (gesetzt den Fall, er kann fliegen) sollte anfangen, den Gänsen etwas vorzufliegen. Aber würde sie das nicht sehr irritieren und verunsichern? Die Gänse könnten denken, er wollte sich ihnen gegenüber hervortun und etwas Besseres sein! Sie könnten meinen, er wollte sich von ihnen trennen, davonfliegen und sie im Stich lassen! Darum hat sich schon mancher Ganter das Fliegen aus seelsorgerlichen Gründen abgewöhnt. Mancher fliegt nicht, um den Gänsen zu zeigen, dass er wirklich „einer von ihnen“ ist. Sie sollen nicht glauben, er wollte sich über sie erheben. Andere Ganter, die das Fliegen nur vom Hörensagen kennen, wenden ein, dass die Gänse sie nicht fürs Fliegen, sondern fürs Predigen bezahlen – und dass Fliegen in ihrer Ausbildung auch gar nicht vorkam. Manche Ganter behaupten, privat flögen sie ständig, sie verschonten damit aber ihre Gemeinde, um die Schwachen nicht zu überfordern. Watscheln gilt bei ihnen als „niederschwelliges Angebot“. Sie versichern, es sei kein Ersatz fürs Fliegen, sondern mache Lust aufs Fliegen. Allerdings: ernsthaft zu erwarten, dass die Gänse fliegen lernten, würde bedeuten, den Flugunfähigen unter ihnen das volle Gans-Sein abzusprechen – und ihnen damit ihre Identität zu rauben. Man hört, das sei schon darum unnötig, weil alle mit dem Watscheln zufrieden sind, und im Arbeitsvertrag eines Ganters auch nur vom Watscheln die Rede ist. Wenn aber am Martinstag alle zusammen gegessen werden – sollten sie da nicht zuvor glücklich gelebt haben, ohne dass ein grausamer Ganter durch unmäßige Forderungen ihre Gefühle verletzt? So vertreten heute viele Ganter die Ansicht, das Watscheln sei eine wunderbare „bodennahe Form des Fliegens“, ja, es sei heute sogar die einzig zeitgemäße Form. Wenn aber die Spatzen drüber lachen – wer ist dann schuld an alledem? Doch weder die Gänse noch die Ganter! Eigentlich ist der schuld, der das Gerücht aufbrachte, die Bestimmung der Gans läge im Fliegen. Und – wurde der nicht dafür gekreuzigt? Beweist das nicht hinreichend, wie gefährlich das Fliegen in Wahrheit ist? Wie man hört, beherrschte er es wie kein Zweiter. Alle Gänse reckten die Hälse, bestaunten ihn und applaudierten. Aber dass es die meisten beim Applaus beließen, war (damals wie heute) nicht in seinem Sinne. Kierkegaard sagt zu Recht: „Jesus Christus will nicht Bewunderer, sondern Nachfolger.“ Ich fürchte aber, dass jene, die Nachfolge durch Bewunderung ersetzen, eher seine Feinde als seine Freunde sind. Und tatsächlich tun sie auch den Gänsen keinen Gefallen. Denn wie das Ende der Geschichte zeigt, ist Nicht-Fliegen viel gefährlicher als Fliegen. Wenn man‘s den Gänsen aber nicht verrät, fürchten sie sich weiterhin an der falschen Stelle...

 

 

Bild am Seitenanfang: Guiding the Geese

Thérèse-Marthe-Françoise Dupré, Public domain, via Wikimedia Commons