Die Flucht nach Ägypten

Die Flucht nach Ägypten

Meister von Frankfurt, Die Flucht nach Ägypten, Public domain, via Wikimedia Commons 

In der christlichen Kunst ist „die Flucht nach Ägypten“ ein verbreitetes Motiv. Denn es gibt unzählige Darstellungen wie Joseph – ausgerüstet mit einem Wanderstab – den Esel führt, auf dem Maria und Jesus sitzen. Das Thema hat die Maler sehr inspiriert. Und so zeigen sie die Heilige Familie gern in orientalischen Landschaften mit Pyramiden und Obelisken, Kamelen und Oasen. Manchmal sieht man die Familie erschöpft bei der Rast – und manchmal bei der Überquerung des Nils in einem Boot. In Predigten ist das Thema aber nicht ebenso präsent. Und vielen Christen sagt es auch gar nichts. Denn die meisten Krippenspiele enden mit der Geburt im Stall von Bethlehem. Und was danach kommt, ist nur wenigen bewusst. Denn nach der Anbetung durch die Hirten und Könige wird es blutig – und das will man an Weihnachten nicht hören. König Herodes ist alarmiert, seit sich die Weisen aus dem Morgenland bei ihm nach dem neugeborenen König der Juden erkundigt haben. Herodes wittert einen Konkurrenten, der ihm den Thron streitig macht. Und so schickt er Soldaten nach Bethlehem, die dort alle Kinder unter zwei Jahren töten (Mt 2,13-23). Der kleine Jesus entgeht dem Gemetzel nur, weil Joseph im Traum eine Warnung erhält, weil er mitten in der Nacht Mutter und Kind auf den Esel setzt und mit ihnen über die Grenze nach Ägypten flieht, um dort zu bleiben, bis König Herodes gestorben ist. So ist die Idylle im Stall mit Schäfchen und Engelchen bald vorbei. Sie findet ein abruptes Ende. Denn Gottes Sohn ist in dieser Welt so wenig willkommen, dass man ihm, kaum geboren, schon nach dem Leben trachtet. „Er kam in sein Eigentum,“ sagt Johannes, aber „die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Das Kind in der Krippe ist der Schöpfer der Welt. Die Welt aber empfängt ihn nicht mit Freude und Ehrerbietung, sondern von Anfang an mit Hass. Und man versucht auch gleich ihn umzubringen. Wie ein Dieb in der Nacht muss sich Joseph mit seiner Familie aus dem Staub machen. Und das ist wahrlich paradox. Denn Gottes Sohn, der gekommen ist, um die Menschen zu retten, muss erst einmal vor ihnen gerettet werden. Und er, der kam, um sich der Sünder zu erbarmen, wird von eben diesen Sündern erbarmungslos verfolgt. Als Säugling hat er wahrlich noch nichts angestellt – und hätte einen freundlichen Empfang verdient. Doch die Welt empfängt ihn mit dem Schwert in der Hand. Und Joseph muss ihn heimlich außer Landes bringen, als wäre der Säugling ein gesuchter Schwerverbrecher. Stiefvater Joseph findet sich unverhofft in der Rolle eines Fluchthelfers und schmuggelt das Kind über die Grenze wie eine illegale Ware. Denn so lieb hat die Menschheit den „lieben Gott“ – man will ihn gleich wieder aus der Welt schaffen. Und Maria und Joseph staunen, in was sie da geraten sind. Weil das Neue Testament über den Verlauf der Flucht aber rein gar nichts erzählt, außer eben nur, dass sie stattgefunden hat, haben sich bald Legenden darum gerankt, und die fromme Phantasie malte sich bunt aus, wie es bei der Flucht nach Ägypten zugegangen sein könnte. Man hört von Engeln, die die Familie auf der gefährlichen Strecke begleitet und ihr den Weg gewiesen haben. Es wird erzählt, wie sie die verfolgenden Soldaten auf wunderbare Weise abschüttelten, so dass sie ihre Suche aufgeben mussten. Und häufig hört man von der großen Dattelpalme, die der Legende nach ihre Krone tief zum Boden herunterbeugt, damit die Heilige Familie ihr Früchte pflücken und sich daran satt essen kann. Es wird von wilden Tieren berichtet, die Jesus huldigen – und sogar von Drachen, die in der Begegnung mit ihm plötzlich zahm werden. Wenn die Familie Durst hat, lässt der kleine Jesus mitten in der Wüste eine Quelle entspringen. Und als die Reisenden Straßenräubern in die Hände fallen, zeigt zumindest einer von ihnen sein gutes Herz. Er lädt sie zur Bewirtung in sein Haus ein – und soll sehr viel später als der gute Schächer zur Rechten Jesu gekreuzigt worden sein. Auf Gemälden sieht man auch immer wieder, wie ägyptische Götterfiguren beim Vorübergehen Jesu von ihren Sockeln fallen und in tausend Stücke zerspringen, weil die Götter der Ägypter in der Gegenwart des wahren Gottes nicht bestehen können. Beim Anblick Jesu geben sie ihren Geist auf und sinken in den Staub! Doch sind das (wie gesagt) nur Legenden, mit denen man sich phantasiereich ausgeschmückt hat, was die Bibel nur allzu knapp berichtet. Tatsächlich wissen wir aus den Evangelien nicht mehr, als dass die Flucht stattgefunden hat. Und auf dieses Faktum zurückgeworfen bleibt uns bloß die Frage, wie wir uns dazu verhalten – und auf welcher Seite wir stehen. Denn dass wir uns mit der fliehenden Familie identifizieren, versteht sich nicht von selbst! Gleich im ersten Kontakt erweisen sich Gott und Mensch als unverträglich. Der Schöpfer begegnet in Gestalt eines Geschöpfes, der Himmel kommt zur Erde – und sofort gibt es Jäger und Gejagte. Es gibt Flüchtlinge und Verfolger. Es gibt nämlich einerseits den Sohn Gottes, der in der Welt Fuß fassen will. Und es gibt andererseits die Welt, die sich verschließt und ihm den Raum in der Herberge verweigert, wie schon der Wirt zu Bethlehem (Lk 2,7). Die Schöpfung reagiert allergisch, als ihr der Schöpfer zu nahe kommt. Dabei – was könnte harmloser sein als ein Säugling? Und wer wäre sanftmütiger als Jesus? Obwohl er im Namen des Höchsten kommt, tritt er bescheiden auf. Und mit sich bringt er, was in ihm liegt – bringt nämlich das Heil, das die Welt bitter nötig hat. Gottes Sohn kommt wie ein Arzt zum Kranken. Der aber schlägt um sich wie im Fieber. Denn soviel Nähe zu Gott ist den Menschen nicht geheuer. Da wird den Sündern mulmig. Da fühlen wir uns gestört – und bringen Gott schnell wieder auf Distanz. König Herodes z.B. hat einfach keine Lust, seine Macht mit irgendwem zu teilen. Seinetwegen darf Gott gern den Himmel regieren. Hier auf Erden kann ihn Herodes nicht gebrauchen. Und den Pharisäern geht es ähnlich. Die haben das Fromm-Sein für sich gepachtet – da macht ihnen keiner was vor! Und was sie am wenigsten brauchen, ist ein Gottessohn, der sie angreift, sie korrigiert und ihnen Heuchelei vorwirft. Auch die Priester in Jerusalem fühlen sich gestört. Denn die haben schließlich das Monopol auf gelebte Religion. Sie organisieren für ihr Volk den Verkehr mit Gott und leben davon, dass niemand ihren Tempeldienst in Frage stellt. Und die schriftgelehrten Theologen – sollen die sich etwa über Jesus freuen? Sie beanspruchen die Deutungshoheit über Gottes Wort, sie haben’s gründlich studiert und schäumen vor Wut, wenn ihnen ein dahergelaufener Nazarener argumentativ überlegen ist. Das Volk aber träumt sowieso von einem ganz anderen Messias. Es wartet auf eine Lichtgestalt mit militärischen Qualitäten. Ein großer Anführer soll er sein, der die römischen Besatzer aus dem Land vertreibt! Wenn so einer aber nicht kommt, begnügt sich das Volk mit Brot und Spielen. Keiner will sich wirklich ändern. Wer also braucht Jesus? Fühlen sich nicht alle gestört von einem Gottessohn, der ihre Bedürfnisse nicht bedient, sondern mit seinen hohen Ansprüchen alles nur durcheinanderbringt? So einen Messias will man nicht haben! So einen hat man nicht bestellt! Und lässt er sich nicht für unsre Interessen einspannen, versuchen wir ihn elegant loszuwerden. Oder, sollte das nicht klappen, muss man ihn eben kreuzigen. Also, nein – der Schöpfer ist seinen Geschöpfen nicht willkommen. Und angefangen mit der Flucht nach Ägypten lassen sie ihn das auch spüren. Auf welcher Seite wir aber selbst stehen – ist das so eindeutig? Es stimmt schon: spontan identifizieren wir uns mit der verfolgten Familie! Aber haben nicht auch wir Probleme, Gottes Nähe zuzulassen? Auch zu uns kommt Jesus in bester Absicht. Doch wenn wir dran gewöhnt sind, unsre eignen Herren zu sein und unser Leben nach Gutdünken zu gestalten, wird der himmlische Besucher zum Problem. Natürlich kommt Jesus als „Retter“ und meint es gut! Aber wie ist das? Haben wir einen „Retter“ denn nötig? Haben wir nicht selbst alles im Griff? Sehen wir wirklich ein so großes Problem darin, dass wir ab und zu moralisch aus der Spur geraten? Sehen wir das Problem nicht eher bei den anderen Menschen, die uns immerzu nerven und nicht verstehen? Natürlich ist Gottes Sohn ein Lehrer der Weisheit! Aber in erster Linie soll er doch den anderen die Augen öffnen, die scheinbar „dumm“ sind, während wir uns „schlau“ vorkommen. Oder sollen wir uns ernsthaft von Jesus belehren lassen, wo wir doch so gebildet sind – und so kritisch? Ja, wie? Der Messias beansprucht, unser Herr und Richter zu sein? Darf er das überhaupt? Haben wir ihn denn in dieses Amt gewählt? Oder – woher sonst nimmt er das Recht, in unser Leben hineinzureden? Ach! Ich fürchte, wir stehen dem Herodes viel näher, als wir denken. Denn wir haben zwar nichts einzuwenden gegen Gottes freundlichen Segen. Aber er soll uns doch nicht zu sehr auf die Pelle rücken! Das Heil, das Jesus bringt, nehmen wir entgegen. Aber wenn er’s abgeliefert hat, darf er auch wieder gehen. Denn wenn er hier bliebe und zu einem Teil unsres Lebens würde – behielten wir dann die Kontrolle? Nichts für ungut! Natürlich darf Gott seine Schöpfung besuchen. Und am 24. Dezember feiern wir das auch gern! Aber als Dauergast, der uns ganzjährig auf die Finger schaut, ist er dann doch nicht willkommen. Denn letztlich wollen wir in unsrem Leben selbst die Hauptrolle spielen. Und in diesem Sinne haben auch wir „keinen Raum in der Herberge“. So wie die Schriftgelehrten wollen wir nicht belehrt werden. So wie die Pharisäer möchten wir keine Nachhilfe in Sachen Frömmigkeit. Und wer uns trotzdem widerspricht, muss beizeiten seinen Esel satteln und nach Ägypten fliehen – oder er landet am Kreuz. Denn so lieb haben die Menschen den „lieben Gott“, dass er nirgends vor ihnen sicher ist. Er kommt als ungebetener Gast – und schon gibt es Jäger und Gejagte. Gott setzt kaum den Fuß auf die Erde, da wird er schon mit dem blanken Schwert empfangen und muss sich vor den eigenen Geschöpfen verstecken. Wir aber sollten uns die Frage nicht zu leicht machen, auf welcher Seite wir stehen. Denn man kann das Heil nicht ohne den Heiland haben. Es gibt Christus und die Gnade nur im Paket. Und wenn wir ihn bei uns aufnehmen, lässt er sich nicht auf das harmlose Kind von Bethlehem reduzieren, sondern ist dann immer auch der Herr, der uns in die Nachfolge ruft. Mit Christus kommt der Segen. Und ohne Christus kommt er nicht. Wir aber können ihn nicht nur halb hereinbitten und auf der Schwelle stehen lassen. Wollen wir den Lehrer nicht haben, bekommen wir auch den Arzt nicht. Lehnen wir den Richter ab, kommt auch der Retter nicht. Und sparen wir uns den König, verpassen wir zugleich den Heiland. Ist er unser Herr in einer Hinsicht, so ist er es in jeder Hinsicht. Und so stehen wir nicht automatisch auf der Seite der fliehenden Familie. Ein Teil von uns steht zugleich auf der Seite der Verfolger. Denn Jesus ist keineswegs harmlos. Er nimmt uns zwar, wie wir sind. Aber er lässt uns nicht so. Auch mit dem kleinsten Jünger hat er noch Großes vor. Und wir sollten wissen, ob wir uns darauf wirklich einlassen.