Der Fischzug des Petrus

The Miraculous Haul of Fishes, Henry Ossawa Tanner, Public domain, via Artvee

Der Fischzug des Petrus

Manchmal ist es beschämend, mit der Bibel umzugehen. Denn man kann eine Geschichte tausendmal gehört haben – man hat wohl schon als Kind im Kindergottesdienst ein Bild dazu gemalt. Und dann, wenn man in fortgeschrittenem Alter nochmal drüber nachdenkt, merkt man, dass man sie gar nicht verstanden hat. Mir geht es jedenfalls so mit der Geschichte vom Fischzug des Petrus, die eigentlich so einfach und so anschaulich ist. Jesus kommt an den See Genezareth und leiht sich dort von dem Fischer Simon Petrus ein Boot, um vom Boot aus der Menge seiner Zuhörer zu predigen. Und hinterher fordert er Petrus auf, hinauszufahren und seine Netze auszuwerfen. Petrus will nicht so recht, denn eigentlich fischt man besser nachts. Und wenn man nachts nichts gefangen hat, macht es am Tag erst recht keinen Sinn. Petrus tut es dann aber doch, er vertraut Jesus – und wird unerwartet reich belohnt. Denn plötzlich sind so viele Fische im Netz, dass es fast reißt, und selbst ein zweites Boot noch unter der Last zu sinken droht. Petrus erschrickt, weil ihm klar wird, dass Jesus viel mehr ist als irgendein Wanderprediger. Jesus aber beruft ihn samt seinen Gefährten Jakobus und Johannes zu Jüngern – und sagt ihnen, dass sie von nun an Menschen fangen und also „Menschenfischer“ sein sollen. Das ist es dann schon. Und jeder versteht die Pointe. Denn Jesus geht‘s darum, Seelen für das Reich Gottes zu gewinnen (Mt 13,47-50). Sein missionarischer Auftrag ist darin dem Handwerk eines Fischers durchaus ähnlich. Und die Jünger, die er beruft, seine Schüler zu werden, die wirken dabei mit. Nur, bitte – was soll eigentlich das Wunder dabei? Wär’s nicht auch ohne gegangen? Oder musste Jesus die Fischer erst maximal beeindrucken, damit sie anschließend auch bereit sind, ihm zu folgen? Wollte er demonstrieren, dass ihm selbst die Fische gehorchen, damit es anschließend auch die Fischer tun? War‘s nötig, damit sie begreifen, mit wem sie es zu tun haben? Oder (etwas unhöflich formuliert) war das Jesu Art Eindruck zu schinden? Bei jedem anderen könnte man denken, er wollte mit diesem Kunststück angeben. Wenn das aber bei Jesus nicht denkbar ist – war‘s dann vielleicht eher eine Art Prophezeiung und ein anschauliches Versprechen in dem Sinne, dass er sagt: „Seht her, als Menschenfischer werdet ihr ebenso guten Fang machen wie gerade eben auf dem See. Ihr werdet ganz viele Menschen gewinnen und sie dem Himmelreich zuführen. Also folgt mir ruhig, denn der Ertrag wird groß sein“? Oder – ich erlaube mir noch eine Vermutung: Ahnte Jesus vielleicht, dass die Fischer ihre Berufung zum Verkündigungsdienst ohne jenes Wunder abgelehnt hätten? Vielleicht hätten sie gesagt: „Ach nein, Jesus, lass gut sein, wir sind für deine Zwecke ungeeignet. Wir haben nichts studiert – und schon gar nicht die Heilige Schrift. Wir sind bloß Fischer, die gerade mal lesen können, wir taugen nicht für dein Projekt, suche dir bitte andere!“ Jesus könnte diesen Einwand erwartet haben. Und dann hätte er ihn mit dem Wunder vorsorglich entkräftet. Denn nach dem großen Fischzug kann er auf das Ergebnis verweisen und sagen: „Seht her, eure mangelnde Qualifikation spielt bei meinen Projekten keine Rolle. Wenn ich es euch befehle, könnt ihr den ganzen See leerfischen, und wenn ich es sage, könnt ihr auch Menschen für den Glauben gewinnen!“ Bedurfte es also des Wunders, damit die Fischer den Mut finden, in ihre Berufung einzuwilligen? Jesu Botschaft wäre dann: „Stellt euch nur für mein Werk bereit, den Erfolg werde ich schon geben. Seid ihr nur willig, der Sache zu dienen, dann werde ich für das Gelingen sorgen!“ Oder, wenn wir nochmal in eine andere Richtung denken: War das Ganze vielleicht eine Prüfung, ob Petrus genug Glauben hat, dass man aus ihm einen „Fels“ der Kirche machen kann (Mt 16,18)? Der Gedanke an einen Vertrauenstest liegt nahe, denn recht besehen ist es eine Zumutung, was Jesus fordert: Jeder halbwegs erfahrene Fischer weiß, dass mittags die falsche Zeit ist, um rauszufahren. Und jeder Fischer weiß auch, dass man die Netze nicht mitten auf dem See auswirft, wo es am tiefsten ist, sondern mehr in Ufernähe, wo sich die Fische aufhalten. Petrus hätte also gut antworten können: „Was willst du mich das Fischen lehren, du Landratte! Ich mache das schon mein Leben lang! Lieber Jesus, sowenig ich dir erkläre, was du predigen sollst, sowenig rede du mir in mein Fischerhandwerk hinein!“ Etwas in dieser Art mag Petrus auf der Zunge gelegen haben. Leicht hätte er zu stolz sein können, um Jesu unprofessioneller Weisung nachzukommen. Denn bei einen Misserfolg wäre er doch wohl zum Gespött seiner Kollegen geworden! Aber nein, Petrus lässt es drauf ankommen. Und wenn’s eine Prüfung war, dann hat er sie bestanden. Denn Petrus hat Jesu Autorität anerkannt, noch bevor das Wunder diese Autorität vor aller Augen unter Beweis stellte! Er zeigt genug Vertrauen, um allein auf Jesu Wort hin all seine Berufserfahrung beiseite zu lassen und gegen die üblichen Kunstregeln zu verstoßen. Und weil‘s Jesus reicht, wenn ihm einer in dieser Weise vertraut, wird die Geschichte auch noch zu einem Lehrstück über die Gemeinschaft mit Jesus. Denn damit verhält es sich hier seltsam. Eigentlich denkt man, der Mensch müsste Gottes Gemeinschaft suchen, während Gott ihn auf Distanz hält – die Fans suchen ja die Gemeinschaft des Stars, während der sich von Bodyguards abschirmen lässt. Doch am See Genezareth läuft es umgekehrt: Als Petrus erkennt, wen er vor sich hat, jubelt er nicht, sondern schreckt zurück und bittet Jesus, auf Distanz zu gehen. Petrus scheut die Gemeinschaft mit Jesus und sagt erschrocken: „Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Du bist Gottes Sohn und ich ein Wurm – wie sollte das zusammenpassen? Jesus aber, der das Gefälle zwischen ihnen nicht leugnet, übergeht den Einwand, indem er Petrus beruhigt. Und obwohl er natürlich weiß, dass dieser Fischer ein gewöhnlicher Sünder ist, beruft er ihn in die Gemeinschaft seines Jüngerkreises. Denn eben dazu, um mit Sündern Gemeinschaft zu haben, ist Gottes Sohn vom Himmel gekommen. Jesus scheut nicht den Schmutz und das Ungenügen gewöhnlicher Menschen, weil er zu ihnen kam, um all das zu überwinden. An sich hat Petrus recht, wenn er meint, er sei ungeeignet, etwas zu Jesu Werk beizutragen. Doch Jesus kam auch gar nicht, um bei seinen Jüngern Kräfte und Talente zu suchen, die ihm gefehlt hätten. Sondern er kam, um seinen Jüngern alle nötigen Kräfte und Talente zu schenken. Entscheidend ist nicht, was die Jünger schon mitbringen, sondern allein, was Jesus aus ihnen zu machen gedenkt. Und so lehrt uns die Episode auch noch, dass es für den Zugang zu Christus und für die Gemeinschaft mit ihm keiner anderen Voraussetzungen bedarf als der Voraussetzungen, die Christus selber schafft. Nur ein wenig Vertrauen brauchen die Jünger. Und ihre weitere Geschichte zeigt dann auch, dass für Gott kein Werkzeug zu schlecht ist, als dass er’s nicht in Dienst nehmen und damit Großes bewirken könnte. Eben daraus dürfen wir dann aber Folgerungen ziehen für uns selbst. Denn schließlich sind auch wir berufen, Menschenfischer zu sein. Und gewiss sind wir dazu ebenso ungeeignet wie Petrus und seine Freunde. Jeder Christ ist ein Apostel, jeder soll den Glauben weitergeben, doch auf sich gesehen ist dazu keiner „kompetent“. Manche sind es nach einem Theologiestudium noch weniger als vorher! Und auch die anderen sind oft nicht erfolgreicher als Petrus in jener mühseligen Nacht auf dem See, die ihm viel Arbeit einbrachte – und keinen einzigen Fisch. Viele, die dachten, sie sollten Menschenfischer sein, haben sich schon vergeblich abgerackert. Wenn Pfarrer von ihren missionarischen Erfolgen lebten, wären die meisten längst verhungert. Denn die Fische in unsrem Teich halten sich für ungeheuer schlau, machen einen großen Bogen um unsre Netze und meinen, sie kämen auch ungefangen ins Himmelreich! Doch hat uns die biblische Geschichte gerade in dieser deprimierenden Lage etwas zu sagen. Denn – was wird hier gegenübergestellt? Es ist doch einerseits das professionelle und fleißige Bemühen der Fischer, die in jener Nacht jeden Handgriff beherrschen, die also handwerklich alles richtig machen und doch nichts erreichen. Und es ist andererseits das völlig unprofessionelle Verfahren, auf Jesu bloßes Wort hin bei helllichtem Tag bis in die Mitte des Sees hinauszufahren – jenes Verfahren, das menschlich gesehen so gar keinen Erfolg verspricht und das dann doch großen Erfolg hat, weil es auf Gottes Wort hin geschieht. Als erfahrener Fischer hätte Petrus sagen können: „Das bringt nichts, Jesus, das können wir gleich lassen!“ Und wenn sich Pfarrer unterhalten, klingt es manchmal ähnlich: „Das alte Evangelium zieht nicht mehr, lasst uns was anderes probieren!“ Doch unsre Geschichte widersetzt sich dieser Logik. Sie widerspricht allen Regeln der Wahrscheinlichkeit. Und nicht mal die Fangtechnik der Menschenfischer spielt eine Rolle – außer eben, dass die Jünger genau das machen, was Jesus sagt. Weil sie es gegen jede Vernunft und Erfahrung tun, füllt Jesus ihre Netze so voll, dass alle mit den Ohren schlackern. Nun werden Sie mir abnehmen, dass ich Vernunft und Erfahrung zu schätzen weiß. Aber hier hilft das nicht. Die Geschichte vom Fischzug des Petrus sagt klar und deutlich, dass der Erfolg da eintritt, wo man auf Gottes Wort hin verfährt, wie es (menschlich gesehen) sehr töricht erscheint. Beim Menschenfischen kommt es offenbar nicht auf die menschliche Kunst der geschickten Werbung oder des Managements an, nicht auf das schnellste Boot, das teuerste Sonargerät und die modernsten Netze, sondern einzig und allein auf den Willen des Auftraggebers, der stur zu befolgen ist. Denn offenkundig ist es Jesus, der die Fische dorthin steuert, wo er sie haben will. Unser Auftraggeber füllt selbst unsre Kirchen, wenn er das will, und lässt sie leer, wenn er das will. Unsere Bewährung hängt aber weder an dieser Fülle noch an jener Leere, sondern schlicht daran, dass wir tun, was Jesus sagt. Und wenn wir hundertmal vergeblich hinausgefahren sind, sollen wir‘s auf Jesu Weisung doch immer wieder tun. Denn hier zählt nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern der Gehorsam. Die Fische, die Christus wirklich haben will, bekommt er durch uns oder durch andere, jetzt oder später – er bekommt sie aber auf jeden Fall. Und die anderen, die er nicht haben will, kann auch der beste Fischer nicht fangen, weil er sie nicht fangen soll. Nicht an uns liegt es, sondern am Willen unsres Auftraggebers. Der aber verlangt von uns nicht mehr als eben den treuen Gehorsam, den Petrus hier unter Beweis stellt, indem er nicht seiner Erfahrung vertraut, sondern Jesus. Wagen wir das aber auch? Können wir Jesus mehr vertrauen als unsrer Erfahrung? Riskieren wir es, uns damit lächerlich zu machen? Oder probieren wir es heimlich mit Angelhaken, verlockenden Ködern und zugekauftem Fisch? Erweisen wir uns als so brauchbar wie Petrus, dessen Vertrauen Jesus auf die Probe stellt – oder winken wir ab, damit man uns für „vernünftig“ hält? Übrigens, der Vollständigkeit halber will ich anmerken, dass es niemand kümmert, was an jenem Tag am See Genezareth mit all den Fischen passiert ist. In der Literatur wird sonst jede unnütze Frage diskutiert. Diese interessiert aber niemand. Vielleicht gab es wegen der plötzlichen Fülle an verderblicher Ware ein großes Grillfest in Kapernaum – und drei Tage lang freien Fisch für alle! Doch kümmert das den Evangelisten wenig. Denn das Wesen einer Jüngerberufung liegt gerade darin, dass einer von seinen leiblichen Geschäften zu geistlichen Geschäften abberufen wird – und an das, was hinter ihm liegt, nicht mehr denkt. Petrus und seine Freunde müssen die Fische, die Netze, die Boote und sogar ihre Familien zurücklassen, um Jesus zu folgen. Denn das Reich Gottes hat Priorität – all den vielen Menschen, die in Gottes Reich eingeladen sind, muss diese Einladung überbracht werden! Ist es aber „vernünftig“, das zu tun? Und wird Petrus seine Frau gefragt haben, ob er denn auch gehen darf? Nein. Wir können uns wohl denken, was sie geantwortet hätte: Mit Jesus herumzuziehen verspricht so wenig Erfolg wie ein Fischzug am helllichten Tage in der Mitte des Sees! Aber wer sagt denn auch, solche Christen, solche Leute von der Art des Petrus, gehorchten der Stimme der Vernunft? Nein, wir gehorchen dem Wort Christi! Denn eben das will diese schräge Geschichte doch sagen, dass wir ohne ihn rein gar nichts tun können, mit ihm aber alles, was er nur will (Joh 15,5; 2. Kor 3,4-6). So sagt Petrus den entscheidenden Satz: „Auf dein Wort will ich die Netze auswerfen“. Und seither machen sich das alle Christen zu eigen und sagen zu Christus: „Auf dein Wort“ stehen und gehen wir. „Auf dein Wort“ reden und schweigen wir. „Auf dein Wort“ leben und sterben wir. „Auf dein Wort“ wollen wir das Leichte leicht nehmen und das Schwere schwer. „Auf dein Wort“ halten wir fest oder lassen los. Denn das ist schon unsre ganze Weisheit! Die Welt staunt und lacht und lacht und staunt. Doch gesegnet ist, wer diese Weisheit versteht.