Glück

Glück

Sind sie rundum glücklich? Wären sie‘s gern? Oder genügt es ihnen, nicht besonders unglücklich zu sein? Könnten sie sagen, wann sie zuletzt so richtig „glücklich“ waren? Oder meiden sie den Begriff vielleicht, weil sowieso jeder etwas anderes unter „Glück“ versteht? Tatsächlich ist Glück schwer zu definieren. Worin es bestand, merken wir oft erst, wenn’s verloren ging. Und wer sein Glück erzwingen will, verfehlt es meist gerade deshalb. Trotzdem wollen wir die glücklich sehen, die wir lieben, streben auch selbst danach – und wenn jemand unglücklich ist, trösten wir ihn. Denn soviel haben ja alle Menschen gemeinsam, dass sie im Unglück leiden. Alle wären morgen gerne glücklicher als heute. Und keinem ist das völlig egal. Doch wann ist man überhaupt „glücklich“? Lässt man alles Konkrete außen vor, ist eine Antwort leicht zu geben. Denn der Mensch empfindet Glück, wenn er bekommt, was er will, und vermeiden kann, was er vermeiden möchte. Was das im Einzelnen ist, hängt am persönlichen Geschmack und ist sehr verschieden. Denn was der eine ersehnt, ist dem anderen ein Graus. Doch darin sind alle Menschen gleich, dass sie glücklich sind, wenn sie bekommen, wonach ihnen der Sinn steht, und ihnen gleichzeitig erspart bleibt, was sie nicht leiden können. Unglück hingegen besteht darin, dass man nicht erlangt, was man gerne hätte, oder nicht loswird, was einen stört und schmerzt. Was der Mensch liebt, damit umgibt er sich, und was er verabscheut, hält er auf Distanz. Bekommt er aber seinen Willen nicht, dann machen ihn die Ferne des Geliebten und die Gegenwart des Gehassten unglücklich. Glücksgefühl stellt sich also ein, wenn unser Wille sowohl im Begehren wie im Vermeiden Erfolg hat. Und so gesehen ist Glück gar nichts Geheimnisvolles, sondern ist bloß der Gradmesser für die Übereinstimmung der Situation mit meinen Wünschen. Ist meine Lebenssituation in jeder Hinsicht anders, als ich sie wünschen würde, bin ich maximal unglücklich. Ist sie aber exakt so, wie ich sie haben will, bin ich maximal glücklich. Das erste zu verhüten und das zweite herbeizuführen ist wohl die Hauptbeschäftigung des Menschen. Und so besteht für ihn Glück einfach darin, „wunschgemäß“ in der Welt zu sein. Nur, wie schafft man das? Und – schafft man‘s überhaupt? 

1. 

Am nächsten liegt es uns, die Situation, in der wir uns vorfinden, den eigenen Wünschen anzupassen und so lange auf sie einzuwirken, bis sie unseren Wünschen entspricht. Was uns nicht passt, wird passend gemacht. Was fehlt, schaffen wir herbei. Und was stört, wird beseitigt. Damit unser Wille geschehe, setzen wir Kraft und Technik ein, Geld, Energie und Macht, Wissenschaft und Material, Pflanzen, Tiere und andere Menschen. Alles Erdenkliche muss als Werkzeug herhalten, um die Welt nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Ja, wir pflegen tausend Künste, um herbeizuschaffen, was wir lieben, und fernzuhalten, was wir hassen. Wir möblieren die Welt nach unserem Geschmack. Denn so arbeiten wir an unserem Glück. Und in dem Maße, wie dann die Situation mit unser Bedürfnissen übereinstimmt, sind wir glücklich. Doch steht dem viel entgegen. Und jeder kann ein Lied davon singen. Denn die Welt interessiert sich gar nicht für unser Glück. Die Natur widersetzt sich unserem Gestaltungswillen. Und das Glücksverlangen anderer Menschen konkurriert mit unserm eigenen. Sobald wir das Glück erhaschen, ist es auch gleich wieder gefährdet. Und je schwächer wir sind, umso öfter müssen wir zurückstecken und Kompromisse eingehen, um uns wenigstens ab und zu mal „glücklich“ zu fühlen. Unsere Wille lässt sich nur begrenzt durchsetzen. Und um daran nicht endlos zu leiden, hat der Mensch eine zweite Strategie entwickelt. 

2. 

Denn wenn man seine Situation nicht ändern kann, um sie seinen Wünschen anzupassen, kann man stattdessen seine Wünsche ändern, um sie der Situation anzupassen. Und auch das ist eine bewährte Strategie, um etwas glücklicher zu werden. Denn wenn man nicht bei dem sein kann, den man liebt, kann man versuchen, den zu lieben, bei dem man sowieso schon wohnt. Wenn der Heiner an die Traumfrau von der Kinoleinwand nicht herankommt, tröstet er sich eben mit der Käthe von nebenan. Und Käthe, die eigentlich zur Oper wollte, singt im Kirchenchor fast genauso schön. Weil sich die beiden den Segeltörn in der Südsee nicht leisten können, rudern sie im Gummiboot über den Kiessee. Und weil’s für die großen nicht reicht, lernen sie sich an den „kleinen Dingen des Lebens“ zu freuen. Auch so verringert man die hässliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Und irgendwann glaubt man selbst, man hätte das Unerreichbare nie wirklich gewollt. Statt sich mit überzogenen Erwartungen unglücklich zu machen, findet man sein Glück dort, wo‘s einem keiner streitig macht. Und diese Bescheidung erlaubt, weitgehend schmerzfrei zu leben. Denn wir beschränken dann unsere Wünsche auf das Mögliche. Und von dem, was die Lage nicht hergibt, träumen wir gar nicht erst. Man kann das „klug“ finden – und vielleicht sogar „weise“. Ein bisschen kläglich ist es aber auch. Denn so fügt sich der Mensch ins Gegebene, wie der Sand ins Förmchen. Indem er seine Wünsche passend macht zur Situation, lässt er sich vorgeben, was er anstreben, hoffen und sein darf. Genau das, woran sein Herz hängt und worauf er aus ist, macht aber sein Wesen und seine Identität aus! Und so lässt der sich fügende Mensch die Gegebenheiten darüber bestimmen, was er zu lieben sich erlauben kann. Um der Enttäuschung vorzubeugen, greift er gar nicht erst nach den Sternen. Um nicht unglücklich zu werden, verleugnet er jede zu große Sehnsucht. Er reduziert seinen Anspruch – und reduziert dabei sich selbst. Denn er lässt die äußere Lage über sein inneres Trachten bestimmen. Er sucht sein Glück nur noch in dem, was die Situation hergibt. Und wenn er dann so tut, als sei das Dritt- und Viertbeste schon immer seine erste Wahl gewesen, ist das seine ganz persönliche Lebenslüge. Aus Angst, unglücklich zu werden, lässt er sich vorschreiben, wer er sein und was er träumen darf. Er hegt nur noch Hoffnungen, deren Erfüllung absehbar ist. Und von all den anderen Trauben, die ihm zu hoch hängen, behauptet er, sie seien sauer und schmeckten sowieso nicht... 

3. 

Aber geht‘s denn anders? Nun, durchaus. Wer bereit ist zu leiden, kann auf so ein „Glück der Bescheidung“ pfeifen. Wer nicht mit den Hühnern picken will, kann versuchen mit den Adlern zu fliegen. Und das ist dann auch die deutlich männlichere Haltung, wenn einer die Situation gar nicht erst befragt, was sie ihm erlauben will, sondern beschließt, gegebenenfalls auch der Situation zum Trotz er selbst zu sein. Natürlich nimmt man dabei in Kauf, dass man leiden muss und tragisch enden kann. Es ist sogar wahrscheinlich! Aber man zahlt diesen Preis, um Freiheit zu gewinnen – und siegt zugleich über die eigene Feigheit. Statt ängstlich das persönliche Glück zu hüten, überschreitet man Grenzen, gibt seine Sehnsucht nicht preis und passt auch seine Träume nicht an, sondern verachtet das Schicksal, das einem Größe nicht erlauben will. So mag der Mensch dann grandios scheitern – vielleicht verglüht er wie eine Sternschnuppe! Aber er tut es zumindest seiner Natur gemäß und fügt sich nicht. Er bejaht seinen Willen auf unbedingte Weise und verneint stattdessen die Situation. Er bleibt sich treu. Und das ersetzt ihm dann alles Glück – oder besser: darin findet er sein Glück. Denn so einer ist nicht Sand in einem Förmchen, sondern lebt seiner Lage zum Trotz. Und den Schmerz, sich an der eigenen Flamme zu verzehren, erträgt er mit Stolz. Denn er verachtet jene kleinen Menschen, die, um sich wohlzufühlen, auch nur kleine Träume hegen. Und er mutet Käthe nicht zu, der schlechte Ersatz für ein Glück zu sein, das er nicht haben kann. Er verzichtet auf jedes Glück „zweiter Klasse“ und wird da schon lieber zu einer erstklassig tragischen Figur. Nun, wahrscheinlich gehen alle wesentlichen Neuerungen der Weltgeschichte von genau solchen Menschen aus, die waghalsig leben und denken. Und trotzdem darf man fragen, ob‘s nicht anmaßend ist, was sie tun. Denn – darf man beleidigt sein, bloß weil dem eigenen Willen Grenzen gesetzt sind? Kränkt uns die Welt schon dadurch, dass wir in ihr nicht Gott sein können? Darf man fordern, was einem vielleicht gar nicht zusteht, und sich widrigenfalls wie ein Kind in der Trotzphase schreiend auf dem Boden wälzen? Geht’s nicht auch eine Nummer kleiner – und ohne heroische Pose? 

4. 

Wer eine Alternative sucht, kann den Knoten auf andere Weise durchschlagen und – statt mit großer Geste die Situation zu verwerfen – die eigenen Wünsche verwerfen. Denn diesen Weg lehren die östlichen Religionen. Sie empfehlen, den eigenen Willen nicht etwa nur bescheiden anzupassen, sondern ihn ganz auszulöschen – und auf diese Weise Glück zu erlangen. Denn das leuchtet ja ein, dass, wer nichts mehr begehrt und nichts mehr hasst, auch unter nichts mehr leiden muss. Unter dem Fehlen von etwas Begehrtem kann man dann nicht leiden, weil man nichts begehrt. Und unter der Nähe von etwas Verhasstem kann man nicht leiden, weil man nichts hasst. Wo keine Wünsche sind, kann die Situation auch nicht mit ihnen kollidieren. Und folglich wird ein wunschloses Herz auch von keiner Leidenschaft mehr umgetrieben, sondern, wo das Begehren ebenso aufgehört hat wie die Abscheu, kann dem Menschen alles recht sein. Und wem alles recht ist, den macht auch nichts unglücklich. Er will ja nichts Spezielles. Und so kann kommen, was mag: er weiß schon im Voraus, dass er es annehmen wird und nicht darunter leiden muss. Denn er ist wie ein Seemann, der an seinem Schiff weder Segel setzt noch einen Kurs anlegt. Für den kann der Wind nie aus der falschen Richtung kommen. Und da er zu keinem bestimmten Ufer steuert, sieht er gelassen zu, wohin ihn die Wellen treiben. Wer keinen Willen hat, dem kann nichts gegen seinen Willen gehen. Und die Übereinstimmung von Situation und Wunsch darf unbesehen unterstellt werden. Denn wer kapituliert, bevor die Schlacht begonnen hat, erspart sich den Schmerz einer Niederlage. Nach langer Übung fühlt sich das wohl wie Glück an. Ob man‘s aber noch Leben nennen soll, oder ob‘s eher eine Vorwegnahme des Todes ist, steht auf einem anderen Blatt. Der Weg eines Christen kann es jedenfalls nicht sein. 

5. 

Doch worin besteht dann der? Hat Jesus seine Jünger vielleicht noch eine andere Strategie gelehrt, wie man glücklich wird? Nein. Ein Blick in die Bibel zeigt, dass das Wort „Glück“ im Neuen Testament nicht ein einziges Mal vorkommt. Und obwohl seine Jünger bestimmt den Wunsch hatten, glücklich zu sein, nimmt Jesus das Thema nicht wichtig genug, um es zu behandeln. Wie sie ihre Wünsche mit ihrer Lebenslage in Übereinstimmung bringen, interessiert ihn offenbar nicht. Und tausendmal wichtiger ist für Jesus, wie seine Jünger ihre Wünschen in Übereinstimmung bringen mit dem Willen Gottes. Denn nicht darum sollen sie beten, dass ihr Wille geschehe, sondern dass Gottes Wille geschehe. Die Welt soll Gottes Vorstellungen entsprechen, nicht unseren. Und um jene egozentrische Frage, wie man Glück erlangt, kreisen unsere Gedanken schon viel zu oft. Voller Selbstliebe fragt sich ein jeder, wie er seine Lage so hinbekommt, dass sie ihm recht ist! Doch kommt’s nur darauf an, was Gott recht ist. Und die falsche Fokussierung richtet großes Unheil an. Denn Jesus unterstellt gar nicht, dass der Mensch in erster Linie geschaffen wurde, um glücklich zu sein. Sondern ihn beschäftigt, wie Menschen, die durch einen falschen Drang aus der Gemeinschaft mit Gott herausgefallen sind, wieder mit Gott ins Reine kommen. Ob die Welt unseren Vorstellungen entspricht, ist dabei egal. Ob wir selbst Gottes Vorstellungen entsprechen – das soll uns beschäftigen! Denn in Wahrheit ist kein größeres Unglück denkbar, als von Gott getrennt zu sein, und kein größeres Glück, als wieder mit ihm versöhnt zu werden. So verliert Jesus kein Wort über die Kunst, sich auf Erden wohlzufühlen. Und er lehrt auch niemanden, dem Leid und dem Kreuz auszuweichen. Dafür wäre er ja ein denkbar schlechtes Vorbild! Sondern jene preist er selig, die auf Erden Leid tragen und die sanftmütig sind, die nach Gerechtigkeit hungern, die barmherzig sind und reinen Herzens. Die finden ihr Glück nicht etwa darin, dass ihr eigener, sondern dass Gottes Wille geschieht. Sie trachten zuerst nach dem Reich Gottes. Und wenn der Weg dorthin steinig ist, darf sie das nicht abschrecken. Denn, ob seine Jünger ein angenehmes Leben haben, ist für Jesus eine völlig untergeordnete Frage. Nach dem Glück dieser Erde zu jagen, würde sie von ihrem wahren Ziel nur ablenken. Denn wenn einer an Familie, Beruf und Besitz zu sehr klebt, kann er den Weg der Nachfolge nicht gehen. Sondern ein Christ muss, um für Gott frei zu werden, dieser Welt „gestorben“ sein. Das ist keine Floskel – es ist ganz ernst gemeint (Röm 6 / Kol 3,3 / 2 Kor 5,14-15)! 

Und doch ist Jesus natürlich nicht gekommen, um seine Jünger unglücklich zu machen, sondern um ihnen ein höheres und besseres Glück zu schenken, als sie es sich je erträumten. Denn, wie sagten wir eingangs? Glück ist, wenn uns erspart bleibt, was wir fürchten, und wenn wir bekommen, was wir lieben! Was aber wollte ein vernünftiger Mensch dringender loswerden als die eigene Blindheit, die Last seiner Sünden und den drohenden Tod? Und was wollte ein vernünftiger Mensch lieber haben als Gotteserkenntnis, Frieden mit seinem Schöpfer und ewiges Leben im Himmelreich? All das aber wird uns durch Christus zuteil als ein Glück höherer Ordnung. Denn er befreit die Seinen von dem Grundübel einer verdammlichen, gottfernen Existenz – und überführt sie in die beseligende Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater. In Gott selbst sollen wir ein Glück finden, demgegenüber alles Erdenglück verblasst und in die zweite Reihe rückt. Denn was ein geistlicher Mensch sinnvollerweise begehren kann, das hat er schon alles in Gott. Und nur das weniger Wichtige, wonach der leibliche Mensch sich sehnt, das kann ihm noch fehlen. So entbehren wir als Christen nie das Entscheidende, sondern immer nur etwas Vorletztes und Nachrangiges. Und Entbehrungen dieser Art sollten wir – dem Beispiel der Apostel folgend – möglichst gelassen hinnehmen, wie sie uns Gottes Weisheit zuteilt. Denn ganz gleich, ob‘s Freude oder Leid ist, muss uns ja doch alles zum Besten dienen (Röm 8,28). Paulus sagt: „Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (Phil 4,12-13). Und demgegenüber sieht das so wechselhafte Glück dieser Erde ziemlich blass aus. Denn eigentlich ist nur der „unglücklich“ zu nennen, der Gottes Liebe entbehrt. Genau davor ist der Christ sicher. Und er kann darum zu Gott sagen: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“ (Ps 73,25). 

Bevor mir nun jemand vorwirft, das sei ein weltfremdes Ideal, gebe ich gerne zu, dass auch ein Christ lieber fröhlich ist als traurig. Und wenn der Schöpfer ihm Schönes gönnt, wird er’s natürlich von Herzen genießen! Aber des Christen eigentliches Glück liegt nicht in dem Schönen, sondern in dem, von dem es kommt. Und während er die Welt dankbar gebraucht, verfällt er ihr doch nicht, sondern hat alle Dinge, als hätte er sie nicht (1 Kor 7,31). Mit einem Wort: als Christen haben wir zum Glück vor allem ein entspanntes Verhältnis. Kommt es uns mit offenen Armen entgegen, werden wir‘s wahrlich nicht verschmähen. Wenn‘s aber vor uns flüchtet, müssen wir dem Irrlicht auch nicht nachlaufen. Denn es gibt bei Gott Wichtigeres, als „glücklich“ zu sein!

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Jester

Pieter Huys zugeschrieben, Public domain, via Wikimedia Commons