Einsamkeit
Es ist manchmal schön, allein zu sein. Denn da kann man tun, was einem gerade einfällt, ohne es erklären zu müssen. Wenn man allein ist, stellt keiner Fragen, und es trifft uns auch kein kritischer Blick. Niemand drängt uns sein Tempo auf, unterbricht unsere Gedanken oder verlangt Rücksichten. Man kann jedem Impuls spontan nachgehen und muss das nicht mit fremden Wünschen koordinieren. Darum ist es kein Wunder, dass mancher sich bewusst dazu entscheidet, allein zu sein. Selbst Jesus hat das oft getan, um in Ruhe zu beten! Doch einsam zu sein, ist etwas völlig anderes. Und es ist nichts, was der Mensch freiwillig wählt. Sondern zur Einsamkeit ist man verurteilt, wenn Kontakte abbrechen oder situationsbedingt nicht möglich sind. Allein zu sein, ist oft ganz prima! Aber einsam zu sein, ist eine Qual, die uns die Umstände auferlegen. Und wer es noch nicht wusste, erfährt in der Einsamkeit, wie sehr er als Mensch der Gemeinschaft bedarf und zur Gemeinschaft geschaffen ist. Denn wenn um mich herum keiner mehr ist, dem ich dies oder das bedeute – wer bin ich dann überhaupt? Und wenn ich zu keinem mehr eine Bindung habe – was hält mich dann? Ist jemand da, für den ich Sohn oder Vater sein kann, Lehrer oder Schüler, Helfer oder Konkurrent, so kann ich an dem Gesicht, das er mir zuwendet, ablesen, wer ich bin. Seine Reaktion ist der Spiegel, in dem ich mich erkenne. Und selbst wenn der Andere mich hasst, bestätigt das immer noch, dass ich für ihn relevant bin! Selbst als Abgelehnter spiele ich in seinem Leben eine Rolle und bin daher nicht nichts. Wir stehen in Beziehung – und wenn ich plötzlich fehlte, entstünde in seinem Leben eine Lücke. Mein Da-Sein oder Weg-Sein macht also einen Unterschied. Und wenn er sich gegen mich wendet, bin ich immer noch wichtig als die Instanz, von der er sich abgrenzt. Auch so werde ich gesehen und bin wer! Denn der eine braucht mich, weil ich über seine Witze lache, und er ohne Publikum kein Spaßvogel sein kann. Der andere braucht mich, weil er mir gern etwas erklärt und sich anders nicht klug vorkommen kann. Und der dritte könnte kein Rebell sein, wenn ich nicht repräsentierte, wogegen er rebelliert. Selbst die Krankenschwester, die mich pflegt, kann ihrer Berufung nur nachgehen, weil es mich als Kranken gibt. Was wäre denn auch ein Fremdenführer, wenn sich niemand von ihm führen ließe? Was täte ein Richter, wenn’s keine Straftäter gäbe? Und wie liefe alles Mütterliche ins Leere, wenn da keine Kinder wären! So ist der einzelne Mensch nicht schon „an und für sich“ er selbst – und später kommen noch andere hinzu. Sondern der Einzelne ist, was er ist, nur im Bezug zu diesen Anderen. Und ohne denen etwas zu bedeuten, würde er nichts bedeuten. Er ist nicht „an sich“ schon da und in seinem Charakter bestimmt, bevor er zu anderen in Beziehung tritt. Sondern erst dadurch, dass er in einem größeren Beziehungsgefüge eine Rolle einnimmt, ist er jemand. Denn die Anderen bilden das Koordinatensystem, in dem er sich als ein unverwechselbarer Punkt positioniert. Ein Punkt hingegen ohne Koordinatensystem – ein unbestimmter, nicht verorteter, isolierter Punkt ohne Position und Bezugsrahmen – was wäre der überhaupt? Welchen Sinn hat es für einen Menschen, „Ich“ zu sagen, wenn‘s weit und breit kein „Du“ gibt? Und wer kann wichtig sein, wenn keiner da ist, der ihn wichtig nimmt? Welchen Sinn macht es, lieben zu können, wenn die Liebe keinen Gegenstand findet? Und was nützt es, reden zu können, wenn einem keiner zuhört? Welche Relevanz hat das eigene Dasein, wenn’s nicht relevant ist für irgendwen? Ist da wirklich keiner, der uns vermisst, weil er seine Position in Bezug auf uns bestimmt, könnten wir genauso gut weg sein. Und darum fühlt sich ein Mensch in der Einsamkeit wie lebendig tot – und übertreibt damit kein bisschen. Denn eine gute Definition des Todes besteht darin, dass er vollendete „Beziehungslosigkeit“ ist. Der Tod kappt alle Verbindungen, in denen und von denen wir leben. Und Einsamkeit nimmt diesen Zustand vorweg. Denn da stirbt man den sozialen Tod durch die Freunde, die man nicht hat. Ist es also ein Wunder, dass Einsamkeit so gefürchtet und so bitter erlitten wird? Sie besteht gar nicht darin, dass es um den Einsamen herum keine Menschen gäbe, sondern darin, dass er ihnen egal ist. Vielleicht begegnen ihm täglich Hunderte. Aber er ist ihnen gleichgültig, ist ihnen kein „Du“, sondern nur „der da“, ist nicht Person, sondern Gegebenheit, und wenn er fehlte, fehlte ihnen nichts. Damit aber versetzt die Einsamkeit den Einsamen in die Lage derer, die längst verstorben sind. Denn die vermisst ja auch keiner. Und darum ist die zunehmende Einsamkeit gerade alter Menschen ein vorweggenommenes Sterben. Je weniger andere noch da sind, denen der Mensch etwas bedeutet, desto mehr versinkt er in Bedeutungslosigkeit. Und verliert er mit dem Ruhestand seine berufliche Rolle, sind es immer weniger, die ihn wichtig nehmen. Der Kanarienvogel und der Dackel kompensieren das nur mäßig. Und so kämpfen manche gegen ihren Bedeutungsverlust, indem sie sich wichtig machen. Verzweifelt suchen sie Zuhörer, denen sie die Geschichte ihres Lebens als Ausweis ihrer Bedeutung erzählen könnten. Aber eben davon will keiner mehr wissen, bis der Mensch dann sterbend aus dem Koordinatensystem der Gemeinschaft ganz herausfällt und von der Nachwelt vergessen wird. Denn die hat genug damit zu tun, ihre eigene Bedeutung zu unterstreichen, indem sie alles Gestrige überbietet.
Was sollen wir aber aus alledem folgern? Zunächst ganz grundsätzlich, dass der Mensch von Gott als soziales Wesen geschaffen wurde und daher in freiwilliger oder aufgezwungener Isolation nicht sein kann, was er von Gott her sein soll. Schon im 2. Kapitel der Bibel sagt der Schöpfer rundheraus: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (1. Mose 2,18). Der Mensch ist von vornherein so gedacht, dass er nur beim anderen zu sich selbst findet. Er soll sich nicht „selbst genug sein“, sondern gebend und nehmend in Beziehung stehen. Er soll es auch gar nicht als Defizit sehen, dass er die anderen braucht, sondern als Einladung zu wechselseitigem Wahrnehmen, Helfen und Lieben. Und man darf annehmen, dass Gott genau aus diesem Grund die Gaben und Talente so ungleich unter den Menschen verteilt. Jeder kann etwas, keiner kann alles. Und eben darum, weil die Menschen so verschieden und so mangelhaft sind, sind sie darauf angewiesen, einander zu ergänzen. Nach Gottes Willen sollen sie nicht bloß nebeneinander, sondern füreinander sein, so dass jeder Hilfe braucht und Hilfe gibt – und so auch jeder Einzelne von einem Netz der Beziehungen getragen wird. In diesem Netz ist niemand eine Insel – und soll es auch nicht sein! Macht er sich aber selbst dazu, oder isolieren ihn die Anderen, so ist das ein Verstoß gegen Gottes gute Ordnung, der sich bald rächt. Denn die Gesellschaft leidet dann am Symptom zunehmender Vereinsamung, wie wir das heute sehen: Menschen pflegen ihren Individualismus und nennen es „Selbstbestimmung“. Sie wollen nicht füreinander da sein und nennen es „Unabhängigkeit“. Sie zerreißen Familien und nennen es „Freiheit“. Immer mehr leben als Single. Sie vermeiden es sorgsam, Kinder zu bekommen, weil die einen dran hindern, um sich selbst zu kreisen. Und am Ende besteht die zersplitterte Gesellschaft nur noch aus „Einzelkämpfern“, die dabei nicht glücklich werden. Denn Gott hat es nun mal anders eingerichtet. Gelingendes Leben gibt es nur dort, wo einer nicht bloß „für sich“, sondern „für andere“ da ist. Nur der hat Bedeutung, der jemandem etwas bedeutet. Nur der ist wichtig, den ein anderer wichtig nimmt. Nur wer geliebt wird, ist nicht „austauschbar“. Der Vereinsamte hingegen, der bei keinem anderen zu sich findet, bleibt auch bei großem beruflichen Erfolg ein abstrakter Punkt ohne Koordinatensystem. Es lässt sich nicht wirklich angeben, wo er verortet und für wen er relevant ist. Und weil es wahre Liebe ohne Verbindlichkeit gar nicht gibt, verliert er auch noch die – und versucht dann vergeblich, menschliche Nähe durch Hautkontakt zu ersetzen. Wer einsam ist, sollte also nicht bloß beklagen, dass die Anderen ihn übersehen. Sondern er darf sich ruhig mal fragen, wie’s denn kommt, dass gerade er so einsam ist. Oft genug war er‘s nämlich selbst, der seine Freunde vergraulte, aus der Heimat floh und die Kinder verstieß. Wenn er aber auch anschließend niemandem die Hand reicht, keinen Anschluss sucht und sich mit niemandem vertragen kann – ist es dann ein Wunder, dass er einsam bleibt? Umgekehrt aber: Wie lieblos sind die Anderen, die jenen Einsamen links liegen lassen, bloß weil er vielleicht kauzig ist, allzu gesprächig oder anhänglich? Was besagt es über die gut „Integrierten“, wenn sie sich nur mit denen befassen, deren Gesellschaft ihnen etwas „bringt“, weil sie angenehm und lustig sind? Was besagt es, wenn die Traurigen und die Schwierigen in ihrem Freundeskreis keinen Platz haben? Und was besagt es, wenn sie stets Zeit finden zum Arbeiten, zum Feiern und für den Sport – aber nie Zeit finden für die alte Tante? Öffnen wir uns etwa nur für die, die uns etwas geben, und verschließen uns vor denen, die uns etwas kosten? Ausreden gelten da nicht, denn nie zuvor war es so einfach, Kontakt zu halten, anzurufen, zu mailen oder vorbei zu fahren. Nie war Deutschland so dicht besiedelt wie heute. Doch dem Einsamen fehlen nicht einfach Menschen. Es fehlen ihm Menschen, die ihn anerkennen und achten. Seine Einsamkeit ist unabhängig von der Anwesenheit noch so vieler Leute, wenn die der Meinung sind, dass er sie nichts angeht. Und solange der Einsame nur dabeisteht, ohne dazu zu gehören, nützt ihm die Menschenmasse gar nichts. Darin aber, dass sie so viele allein lässt, stellt sich unsere Gesellschaft ein Armutszeugnis aus und bestärkt den Verdacht, dass in ihr nur zählt, wer dafür zahlt. Denn die grassierende Einsamkeit ist nicht naturgegeben. Sie entsteht unmittelbar aus Egozentrik. Und die ist nicht etwa das Wesen des Menschen, sondern ein Teil seines Unwesens. Egozentrik ist die Selbstabschließung gegen den Menschen, der uns, und dem wir, etwas bedeuten könnten. Und während die Jungen und Starken das noch leicht mit „Selbstbestimmung“ verwechseln, spüren die Alten, wie schnell man ins Abseits gerät, wenn in der Gesellschaft alle um sich selbst kreisen. Mit zunehmendem Alter lichtet sich unser Beziehungsnetz. Und viel zu spät wird uns klar, wie oft wir im Leben versäumten, der Freund zu sein, der wir hätten sein können. Jene, die wir nicht so wichtig fanden, nehmen dann auch uns nicht wichtig. Und wer am Ende niemandem mehr etwas bedeutet, weiß auch nicht mehr, wer er ist. Ob er da ist oder nicht, macht nur noch für ihn selbst einen Unterschied. Damit ist der Einsame sozial und seelisch bankrott. Und soweit er zu lieben versäumte, ist er‘s sogar zurecht, weil es zu seiner Bestimmung gehört hätte, liebend Bindungen einzugehen. Der Mensch ist da anders als ein materielles Ding, das bloß aus seinen Teilen besteht! Wenn ich einen Korb voller Äpfel habe und einen Apfel herausnehme, bleibt der Apfel ganz derselbe. Denn was er ist, verdankt er nicht der Interaktion mit anderen. Wenn ich aber einen Menschen aus seiner Familie herausnehme, bleibt er nicht derselbe. Denn was er für die anderen war, kann er in der Isolation nicht mehr sein. Mit anderen Worten: Es ist eine Grundkonstante des Menschseins, dass wir ohne einander nicht wir selbst sein können. Wir müssen dazu am Leben anderer teilhaben – und sie an unserem teilhaben lassen. Und wir können auch unsere Identität nicht beschreiben, ohne biographisch unsere Geschichte mit „den Anderen“ zu erzählen. Wenn wir „Ich“ sagen, meinen wir damit den zentralen Punkt im Geflecht unserer Beziehungen. Und ohne diese Beziehungen wäre unser „Ich“ nicht mehr dasselbe. Wir brauchen das „Du“, um uns selbst zu finden, wie wir einen Spiegel brauchen, um unser eigenes Gesicht sehen zu können. Und darum ist es für den Einsamen so schrecklich, übersehen zu werden. Denn sein Gesicht reflektiert sich dann nirgendwo. Er vergisst, wie er aussieht. Und mit dem Kontakt zu den Anderen kommt er sich selbst abhanden. Freilich, eine Einschränkung darf ich machen. Denn dem Gläubigen bleibt auch in der Einsamkeit seine wichtigste Beziehung erhalten. Ein Christ ist lebend wie sterbend niemals ohne Gott. Und egal was kommt, bedeutet er doch jederzeit noch das, was er Gott bedeutet. Christus gedenkt der Seinen. Er nimmt sie wichtig. Und ob sie es nun spüren oder nicht: er ist auch immer da. Er lässt die Seinen nicht aus seiner Hand fallen, sondern fügt sie ein in die Gemeinschaft seines Leibes, nämlich der Kirche. Und so ist ein Christ in Wahrheit nie einsam, sondern kommt sich höchstens so vor. Er ist nie verlassen, sondern fühlt sich nur, als wenn er’s wäre. Denn das maßgebliche Gegenüber seines Lebens kann ihm niemals verloren gehen. Das Angesicht Gottes bleibt ihm zugewandt! Und so gibt es zumindest den Ewigen, der ihn weiterhin kennt, wenn die Welt ihn vergessen hat. Unser himmlischer Vater ist „ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt“ (Ps 68,7). Er ist „nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mt 22,32). Er ist bei uns „alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). Und dessen dürfen wir uns trösten! Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, hier und heute den Einsamen beizustehen. Denn am Willen unseres Schöpfers besteht da kein Zweifel: Ein „Mensch“ zu sein, heißt ein „Mitmensch“ zu sein! Wir sind von Gott zu den Anderen gesandt! Gerade die „Abgehängten“ sind uns anbefohlen! Und wir dürfen keinen von ihnen zurücklassen, bloß weil er nervt und seltsam riecht. Denn wenn wir nach unseres Lebens Lauf stolz die Ziellinie erreichen, ist damit zu rechnen, dass Gott uns nach jenen fragt, die auf der Strecke blieben! Darum: Nehmen wir sie besser mit! Wenden wir uns den Einsamen zu. Und erfahren wir es ganz nebenbei als einen Segen, dass wer zu den Einsamen geht, dabei auch selbst nicht vereinsamen kann.
Bild am Seitenanfang: In a Café
Edgar Degas, Public domain, via Wikimedia Commons