Keuschheit

Keuschheit

Muss man auch nein sagen können?   

Jesus sprach einmal zu seinen Jüngern über die Frage, was den Menschen „rein“ und was ihn „unrein“ macht. Das war damals eine wichtige Frage! Wir aber, als Kinder unserer Zeit, verstehen das Problem in der Regel gar nicht – oder verstehen es falsch. Denn wer heute morgen geduscht hat, gilt uns als „rein“. Und wer sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen hat, gilt uns als „unrein“. Jesus hingegen redet mit seinen Jüngern nicht über Hygiene und Körperpflege, sondern redet über den Gegensatz von „rein“ und „unrein“, wie er im Alten Testament und im Judentum gebraucht wird, wo es natürlich nicht um den Gebrauch von Seife geht, sondern um die kultische und religiöse „Reinheit“ des Menschen. Und der Gegensatz des Reinen und Unreinen ist dort mindestens so wichtig wie der von gut und böse, wahr und falsch, gerecht und ungerecht, lebendig und tot. Denn das Alte Testament verwendet auf die korrekte Unterscheidung von rein und unrein allergrößte Sorgfalt. Wir finden dort lange Listen reiner und unreiner Tiere – solcher, die man essen darf, und solcher, die man unbedingt vermeiden muss. Wir erfahren, dass die Berührung mit Toten unrein macht, und dass Frauen während der Regel und nach Geburten unrein sind. Der Kult fremder Götter macht natürlich unrein, genau wie der Kontakt mit den Heiden, die diese Götter verehren. Eine Krankheit wie der Aussatz und diverse körperliche Ausflüsse verunreinigen den Menschen. Und natürlich tun das auch geschlechtliche Verirrungen aller Art. Im 3. Buch Mose wird streng geregelt, wie lange ein Gegenstand oder eine Person, die mit Unreinem in Berührung kam, als unrein zu gelten hat. Denn Unreinheit überträgt sich durch Körperkontakt. Und genauso wird geregelt, durch welche kultischen Handlungen und nach Ablauf welcher Fristen wieder Reinheit hergestellt und vom Priester bescheinigt werden kann.

Warum aber ist das alles so wichtig? Und warum muss man Unreinheit vermeiden? Ganz einfach, weil Unreinheit den Menschen zur Begegnung mit Gott unfähig macht. Wer unrein ist, darf nicht wagen den Tempel zu betreten, am Gottesdienst teilzunehmen oder sich sonst irgendwie dem Heiligen zu nähern. Denn Gott ist rein und heilig und duldet es nicht, durch die Annäherungen des Schmutzigen beschmutz zu werden. Das Reine und das Unreine sind unverträglich. Das Heilige und das Unheilige sind gegeneinander wie Feuer und Wasser. Darum muss der, der Gott, dem Reinen, nahe sein will, ihm wenigstens insofern ähnlich werden, ihm erträglich und damit gesprächsfähig werden, dass er sich reinigt und rein hält. Denn das Unreine gehört nicht zu Gott und kann keine Gemeinschaft mit ihm haben, es gehört nicht in Gottes Haus. Und ich denke jede Hausfrau kann das nachvollziehen. Denn auch wenn sie den Ehemann noch so sehr liebt, lässt sie ihn doch nicht mit dreckigen Gummistiefeln durchs Wohnzimmer laufen, sondern verlangt, dass er sich reinigt. Erst wenn sicher ist, dass er keinen Schmutz mitbringt, ist er in der guten Stube willkommen. Und so macht eine Unreinheit anderer Art den Menschen unfähig zur Gemeinschaft mit Gott. Denn sie schließt ihn vom Gottesdienst aus, vom Heiligtum, und damit auch vom Heil selbst, das es ja nicht anders als in der Gemeinschaft mit Gott geben kann.

Wenn das aber stimmt – muss es uns dann nicht brennend interessieren, was Jesus sagte und wie er urteilte über „rein“ und „unrein“? Jesus leugnet nicht, dass es Unreinheit gibt, durch die der Mensch sich besudelt. Es gibt diese Unreinheit, die vom Kontakt mit Gott ausschließt! Aber Jesus sieht ihren Ursprung nicht „außen“, in unreinen Dingen, die man berührt oder isst, sondern „innen“ im Herz des Menschen, aus dem die Unreinheit hervorgeht. „Was zum Mund hineingeht, das macht den Menschen nicht unrein“ sagt er, „sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein.“ Und als die Jünger das nicht verstehen, erklärt er es noch einmal: „Merkt ihr nicht, dass alles, was zum Mund hineingeht, das geht in den Bauch und wird danach in die Grube ausgeleert? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. Das sind die Dinge, die den Menschen unrein machen. Aber mit ungewaschenen Händen essen macht den Menschen nicht unrein.“

Auf den ersten Blick erscheint Jesus hier moderner und liberaler als das Alte Testament, weil er sagt, es gebe keine unreinen Speisen. Er scheint die Reinheitsgesetze des Judentums zu relativieren. Docht tut er das nur, um den Blick vom Äußeren auf das Innere zu lenken. Und die innere Reinheit, die er dann fordert, ist bei Lichte besehen viel schwerer zu erlangen und zu bewahren als die äußere. Denn Aussätzigen, Toten und unreinen Tieren aus dem Weg zu gehen ist ja einfacher, als das eigene Herz von bösen Gedanken frei zu halten. Dem Schmutz draußen kann ich ausweichen. Aber der Schmutz innendrin – was mache ich mit dem? Den kann man nicht so einfach loswerden wie dreckige Gummistiefel, die man nur ausziehen muss. Wenn man aber trotzdem in Gottes gute Stube will, wenn der Dreck, der nicht nur an mir, sondern in mir haftet, mich von der Gemeinschaft mit Gott nicht ausschließen soll, was kann ich dann tun? Welche Bürste hilft da, welche Seife, welches Scheuermittel?

Zunächst dürfen wir an diesem Punkt unserer Taufe gedenken. Denn die Taufe, die Jesus uns verordnet hat, ist nicht umsonst ein Ritual der Waschung. Das Taufwasser dient tatsächlich der Reinigung – es symbolisiert nicht nur, sondern vollzieht Reinigung, und ist durchaus gemeint als ein Abwaschen von Sünden. Als Christ kann man dieses Abwaschen jederzeit aktualisieren, indem man ein Beichtgebet spricht, sich auf die Taufgnade beruft, Vergebung erbittet und sich Absolution zusprechen lässt. Darüber hinaus aber dürfen wir uns erinnern, dass Christus am Kreuz mit dem Fluch der Schuld auch unseren Schmutz auf sich genommen hat, um uns durch das Opfer seines Lebens davon zu befreien. Der Hebräerbrief stellt den Kreuzestod Jesu darum ausdrücklich in Parallele zu den Sühnopfern, die täglich im Jerusalemer Tempel dargebracht wurden, und sagt dann: „...wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche von der Kuh durch Besprengung die Unreinen heiligt, so dass sie äußerlich rein sind, um wieviel mehr wird dann das Blut Christi, der sich selbst als Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gott dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott!“

Gott selbst hat in Christus die Unreinen gereinigt, hat die Schmutzigen gesäubert und die Sünder geheiligt, um sie der Gemeinschaft mit ihm fähig zu machen. Wie uns Unreinheit durch Berührung verunreinigt und besudelt, so kann uns die Berührung mit Jesus, dem Reinen, rein machen. Was den Gereinigten dann aber als tägliche Aufgabe bleibt, ist, dass wir die gewonnene Reinheit nicht wieder aufs Spiel setzen, sondern ein ihr gemäßes, reines Leben führen. Schließlich sagt das Neue Testament, dass unsere Körper Tempel des Heiligen Geistes sind! Gott selbst wohnt in uns wie ein vornehmer Gast in einer baufälligen Hütte. Ihn zu beherbergen ist ehrenvoll – aber es verpflichtet auch. Wir stehen darum vor der Aufgabe, so etwas wie eine Reinheit des Geistes zu bewahren und uns ganz ernsthaft fernzuhalten von dem, was uns beschmutzt.

Konkret kann das z.B. bedeuten, dass man sich einer bestimmten Art von Gespräch entzieht. Denn wo man boshaft redet, wo Gott verlästert wird, wo man Zoten erzählt und auf Kosten anderer lacht, da weht ein Geist, der mit dem Geist Christi nicht vereinbar ist, und dem wir uns entziehen sollten bevor er auf uns abfärbt. Da muss man nicht dabeistehen und schon gar nicht mitmachen, sondern kann sich schützen – und gehen.

Desgleichen können es Bilder sein, die uns verunreinigen. Bilder nämlich voller Gewalt und Gier und falscher Lust, die es im Fernsehen und im Internet zuhauf gibt, die auch durchaus ihre Faszination und ihre eigene Ästhetik haben können – und die doch durch das Auge tief in unsere Seelen dringen, weil das, was wir sehen, Macht über uns gewinnt. Dem muss man sich nicht aussetzen! Und gerade, wenn uns irgendetwas daran gefällt und fesselt – gerade dann ist Enthaltung nötig, Nein-Sagen, Distanz und Heiligung. Die Reinheit des Geistes kann gefährdet sein, wenn jemand unseren Zorn provoziert, weil er uns Unrecht tut. Wut, Kränkung und Selbstmitleid können mächtig anschwellen, bis Hassgedanken sich breit machen. Aber auch mit Neid, Gier, Eitelkeit oder Heuchelei kann es so gehen. Sie vergiften unsere Seele, und wenn wir nicht aufpassen, verunreinigt sie uns mit einem Gestank, der den Geist Gottes immer mehr verdrängt. Jesus hat Recht, wenn er sagt, dass die eigentliche Gefahr von innen – und nicht von außen kommt!

Wenn das Alte Testament aber annimmt, dass Unreinheit durch Berührung übertragen wird wie eine Infektionskrankheit, so steckt auch darin tiefe Einsicht, weil Unreines um so leichter auf mich überspringt, je größer die Nähe ist, die ich ihm erlaube. Nennen sie es „falsche Scheu“ wenn sie wollen. Doch ich meine wirklich, dass man bestimmte Bücher nicht lesen kann, ohne innerlich von ihnen beschmutzt zu werden. Der Geist und das Wesen bestimmter Menschen färben ab, wenn man zu lange mit ihnen zusammen ist. Und die Gedanken, die ich mir nicht rechtzeitig verbiete, gewinnen Macht über mich. Darum meine ich, wir sollten eine alte Tugend neu entdecken, über die heute nur noch Witze gemacht werden, weil man sie auf den sexuellen Bereich bezieht: Die „Keuschheit“ müssen wir neu entdecken, die darin besteht, sich dem zu verweigern, was schadet, stinkt und unser Leben vergiftet. Diese Keuschheit besteht darin, sich nicht allem zu öffnen, nicht alles zu tolerieren und nicht alles mitzumachen, sondern nur das, was Gott gefallen kann. Das ist manchmal schwierig und trägt einem leicht den Ruf des Spielverderbers ein. Aber nachdem die Moderne sehr ehrgeizig war, alle erdenklichen Tabus zu brechen, nachdem die 68’er sich Mühe gaben, alles zu tun, wovon die Alten sagten, dass man es „nicht tut“, scheint nun die Zeit gekommen, den Sinn des Tabus wieder zu entdecken.

Denn es gibt Dinge, die tabu sein sollten, obwohl sie bei uns üblich sind – wie das Lügen und das Lästern. Und niemand sollte meinen, dass er in seinen vier Wänden davor sicher sei. Es gibt Dinge, durch die man die eigene Seele für die Gemeinschaft mit Gott untauglich macht. Von denen aber abzulassen, wenn man’s gemerkt hat, sollte selbstverständlich sein. Denn das Ebenbild Gottes in uns, das freizulegen Gott viel Mühe gekostet hat, dürfen wir nicht wieder unkenntlich machen. Viel besser ist es, den umgekehrten Weg zu gehen, indem man die Reinheit des Reinen auf sich abfärben lässt. Denn zum Glück ist auch das Gute infektiös! Auch das Heilige springt über, wenn wir in Kontakt treten. Dass wir an ihm aber Anteil bekommen können und uns dann für nichts mehr schämen müssen, dass sei dem gedankt, der barmherzig ist und allmächtig, heilig und gerecht – und so rein, dass es für ihn und für uns zusammen reicht…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Temptation of Saint Anthony

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