Mitten im Tod vom Leben umfangen
Mitten im Leben vom Tod umfangen?

Mitten im Tod vom Leben umfangen

Wenn wir der Toten gedenken, verbindet uns der Umstand, dass wir jemand verloren haben. Und – wer immer das auch war – wir sind traurig, weil sich der Lauf der Zeit nicht umkehren lässt. Wir erinnern uns an schöne Momente. Wir wissen aber zugleich, dass die Erinnerung das Vergangene nicht wirklich zurückbringt. Und so hat der Tod nicht nur das Leben der Verstorbenen beendet, sondern tatsächlich auch einen Teil unsres eigenen Lebens. In gewissem Sinne ist das normal. Und doch ist das „Erwartbare“ verstörend. Denn wenn der Tod nach unsren Lieben greift, erscheint er plötzlich wieder skandalös. Vielleicht haben wir uns prinzipiell damit abgefunden, dass alles vergänglich ist. Aber im konkreten Fall empört es uns dann doch. Ungefragt wurde uns ein Mensch genommen, den wir nicht entbehren können. Eine Stütze unsres seelischen Haushalts ist weggebrochen. Aufschub wurde nicht gewährt. Einspruch war nicht möglich. Und unser inneres Gleichgewicht gerät dadurch in Gefahr. Denn dass erst ein langes Leben kommt, und dann irgendwann am Ende der Tod – das stimmt ja gar nicht. Sondern schon mittendrin im Leben sind wir vom Tod umfangen, sind betroffen und müssen aushalten, dass der Tod uns nahe kommt und uns berührt – während wir doch atmen und diese Berührung nicht wollen. Ganz gleich, wie jung und gesund wir sein mögen, begleitet uns der Tod als gegenwärtige Möglichkeit, als künftige Gewissheit und als Infragestellung des Vergangenen, das wir nicht festhalten konnten. Und so bekommen wir‘s nicht erst am Ende mit dem Tod zu tun, sondern gehen von Geburt an auf ihn zu – und sehen im Augenwinkel, wie er uns allzeit begleitet als ein bedrohlicher Schatten. Wir sind jeden Tag damit beschäftigt, unseren Lebensunterhalt zu sichern und Unfälle zu vermeiden. Wir tun alles Notwendige, um uns den Tod vom Leib zu halten. Wir sorgen vor, ernähren uns gesund und treiben Sport. Aber kaum dass wir uns zu Bett legen, ist doch zumindest dieser Tag „gestorben“, ist erschöpft, verbraucht, vergangen und kommt nicht wieder. Wir leben dennoch, als hätten wir ewig Zeit. Wir verschieben wichtige Dinge in eine Zukunft, von der wir gar nicht wissen, ob wir sie noch erleben. Und trotzdem ist sicher, dass uns die Zeit zum Leben einmal ausgeht – und es dann Zeit wird zu sterben. „Alles hat seine Zeit“ – na klar! Aber wir haben eines Tages keine mehr. Und wir dürften nicht mal überrascht sein, weil doch jede noch so harmlose Krankheit ein Vorankündigung des Todes war. Jeder kurze Schwindel erinnert daran, wie leicht wir fallen. Und alles, was wir lieben, steht schon jetzt unter der Drohung des Todes. Das Eis unter unsren Füßen ist viel dünner, als wir es wahrhaben wollen. Oder sehen wir‘s etwa nicht? Werden wir nicht oft genug drauf gestoßen? Kennen wir nicht viele, die unverhofft irgendeiner Gefahr erlagen? Sind uns nicht schon Großeltern und Eltern vorangegangen, mit denen wir auch einen Teil ihrer und unsrer Hoffnungen begruben? Wahrlich, wem viel geschenkt ist auf Erden, der kann auch viel verlieren. Und er wird‘s garantiert verlieren! Wenn uns aber nicht Angehörige genommen werden, so begraben wir zumindest Träume und verabschieden uns still von mancher schönen Illusion. Während die Jahre vergehen, verlieren wir Kraft und Zeit, wir verspielen Chancen, wir büßen nach und nach unsere Gesundheit ein – und zuletzt das Leben. Jeder Fehlgriff, jede Enttäuschung ist ein kleines Sterben. Und so wartet der Tod nicht erst am Lebens-Ausgang auf uns, sondern ist schon jetzt unser täglicher Begleiter. Er ist stets gegenwärtig als Abgrund unter unsren Füßen. Er geht uns nicht erst am Ende an, sondern schon heute. Und wie unser Gehen ein ständig abgebremstes Fallen ist, so besteht unser Leben aus einem immer neuen Hinausschieben des Todes. Wenn dieses Hinausschieben aber nur vorläufig gelingt und irgendwann gar nicht mehr – lohnt sich dann eigentlich die Mühe, die es kostet? Und wenn selbst das beste Leben keine dauerhaften Spuren hinterlässt – ist unser Leben dann nicht bloß vergänglich, sondern eigentlich auch vergeblich? Welchen Sinn hat eine Reise, wenn sie nur ins Grab führt? Und welcher Ertrag rechtfertigt dann den Aufwand des vorangegangenen Daseins? Wahrlich, der Tod würde uns genug Sorgen machen, wenn er geduldig hinter der Friedhofsmauer auf uns wartete. Doch das tut er nicht. Sondern manchem verdirbt er auch schon das Leben. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, sind permanent auf der Flucht vor ihm, werden von ihm gestört und verstört, arbeiten trotzig gegen ihn an und bieten einen großen medizinischen Apparat auf, um den Kampf möglichst spät zu verlieren. Wenn aber keiner hoffen darf zu entrinnen – woher kommt dann Trost? Was hilft uns, nicht trübsinnig zu werden? Ich meine, wir haben alledem nichts entgegenzusetzen als nur unsren Glauben – nämlich die Zuversicht, die aus dem Evangelium erwächst und sich nicht unterkriegen lässt, weil der Gott nicht unterzukriegen ist, der sie begründet. Der erspart uns zwar nicht das leibliche Sterben (und insofern bleibt der Satz auch für Christen wahr, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind). Aber ein Christ darf diese Wahrheit durch den ebenso wahren, umgekehrten Satz ergänzen, dass wir mitten im Tod vom Leben umfangen sind. Denn was anderes heißt denn „Christ-Sein“? Es bedeutet doch, dass Christus in uns, und wir in Christus sind! Wenn wir also Christus angehören und damit Glieder jenes Leibes sind, der an Ostern auferstand – wie sollten wir dann nicht mit Christus auch das ewige Leben haben? Das Evangelium sagt deutlich, dass der Tod an Christus seinen Meister fand! Der Auferstandene ist des Todes Tod! Er hat nicht bloß sein eigenes, sondern auch unsre Gräber überwunden! Denn Gott beschloss, dem Tod nicht das letzte Wort zu lassen. Unser Schöpfer hat etwas Besseres mit uns vor, als uns aus dem Leben zu tilgen. Er ist entschlossen, uns zu vollenden und nach diesem holprigen Erdenleben in die Gemeinschaft mit ihm zu überführen. Darum sagt Christus, dass er in eigener Person nicht nur „der Weg“ und „die Wahrheit“, sondern auch „das Leben“ ist (Joh 14,6). Und so wird, wer von Christus nicht getrennt werden kann, auch niemals vom Leben getrennt. Wer aber vom Leben nie getrennt wird – wie könnte der jemals „tot“ sein? Natürlich stellt auch der Leib des Christen eines Tages seine Funktionen ein. Doch bevor er leiblich stirbt (nach dem äußeren Menschen), trägt er schon Christus in sich (nach dem inneren Menschen). Seine Seele steht mit dem Auferstandenen in ewiger Gemeinschaft. Und wenn Christus in eigener Person „das Leben“ ist, kann dieser Mensch in Ewigkeit nicht ohne Leben – und also nicht „tot“ sein. Er liegt vielleicht auf der Palliativ-Station. Und doch wird er dem wahren Leben näher sein als ein anderer, der zur selben Zeit noch Marathon läuft. Der Sterbende mag es nicht spüren. Und doch ist er mitten im Sterben längst vom Leben umfangen, weil Christus in ihm, und er in Christus ist. Jener andere aber (der mit dem guten Blutdruck und dem breiten Grinsen) kann sehr lebendig herumlaufen – und geistlich doch schon tot sein. Denn wenn er Gottes Wort nicht traut, gelten ihm auch seine Verheißungen nicht. Und ohne diese Verheißungen fehlt seinem Dasein jede Perspektive. Wo kein Glaube ist, da gibt‘s auch keinen Trost. Wo Christus nicht ist, und somit das wahre Leben fehlt, da kann man nur gewaltsam hoffen. Da hofft man bloß, um nicht zu verzweifeln, und greift (je gieriger, desto vergeblicher) nach dem Leben, bis es einem endgültig durch die Finger rinnt. Als Christen haben wir solches Anklammern aber nicht nötig, sondern können unsre Ohnmacht eingestehen, ohne deswegen zu verzweifeln – weil wir den an unsrer Seite wissen, der unser Versagen kompensiert. Wir leben in Christus und sterben in Christus. Wir bauen grundsätzlich nicht auf uns, sondern auf ihn. Er aber begleicht unsre Rechnungen, er steht für uns gerade und beruft uns, seine Zukunft mit ihm zu teilen. Christus bereitet uns schon heute die himmlischen Wohnungen. Und darum besteht christlicher Realismus in unverwüstlicher Zuversicht. Christus schenkt ewiges Leben! Und je fester wir ihn ergreifen, um so weniger haben wir‘s nötig, uns an dies kurze Erdenleben zu klammern, von dem ja doch keiner jemals satt wird. Wir dürfen unsre Kräfte ruhig verausgaben. Denn dazu sind sie da. Und wenn sie eines Tages zu Ende gehen, wird Christus für uns sorgen, der darin nimmer müde wird. Er will, dass nicht nur unsre Schuld, sondern auch unser Tod seine Sorge sei. Und wir wären sehr töricht, wenn wir ihm dieses Problem nicht bereitwillig überließen. Denn wer will schon auf eigene Faust mit dem Tod verhandeln, wenn Gottes Sohn anbietet, das für ihn zu übernehmen? Lassen wir Christus aber unsren Verteidiger und Fürsprecher sein, unsren Rechtsanwalt und Arzt – steht dann nicht fest, dass wir schon hier und heute mitten im Tod vom Leben umfangen und somit auf der sicheren Seite sind? Ja! So wie der Tod nicht erst am Ende wartet, sondern uns täglich begleitet, so erwartet den Christen auch das ewige Leben nicht „irgendwann später“, sondern es ist schon hier und jetzt so gegenwärtig wie Christus selbst. Wer im Glauben steht, wird nicht „irgendwann mal“ erlöst, sondern ist schon erlöst und durch das Gericht hindurchgedrungen. Wer nicht bloß dem Namen nach, sondern im Herzen Christ ist, steht bereits mit einem Bein im Himmel – und die Hölle bekommt ihn nie zu sehen. Denn es ist zwar unser Glaube nicht stark. Aber der, an den wir glauben, ist umso stärker – und lässt sich die Seinen nicht wieder nehmen. Die Bilanz unsres Lebens wird nicht glorreich sein. Was wir zuwege bringen, bleibt Fragment. Aber das macht nichts. Denn Gott ist da. Und die im Glauben an ihn leben, haben ihre Zukunft nicht hinter sich, sondern haben das Beste noch vor sich, weil eben beides gilt: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Und mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen. Das erste erkennt die Vernunft – und kommt dann über den Tod nicht hinaus. Das zweite aber erkennt der Glaube – und freut sich des Lebens. Denn das behält das letzte Wort. Martin Luther sagt:

 

„Wie unsere eigene Natur lehrt, ist es misslich, dass der Mensch verlassen soll dies Leben, so er kennt und weiß, und in ein anderes Leben fahren, so er nicht kennt, auch nicht wissen kann, wo er eine Nacht bleibe; wie das gemeine Sprichwort lautet:

 

Ich lebe und weiß nicht, wie lange; 

Ich sterbe und weiß nicht wanne; 

Ich fahre und weiß doch nicht wohin; 

Mich wundert, dass ich fröhlich bin.

 

Und das ist auch wahr, wer es nach der Vernunft recht bedenkt, kann nicht fröhlich sein. Aber es sind heidnische Sprüche, und sind nicht recht, man deute sie denn recht. Es ist wohl wahr, meine Vernunft soll es nicht wissen, sondern es soll ihr verborgen sein, wo ich aus diesem Leben hinfahren soll; aber ein Christ soll sagen: Ich weiß, dass ich also fahre: wenn meine Seele ausfährt, da sind bestellt die höchsten Könige und Fürsten, nämlich die lieben Engel, die mich annehmen und hinüberführen. Oder soll das Sprichwort umkehren und sagen:

 

Ich lebe und weiß, wie lange; 

Ich sterbe und weiß wanne;

Ich fahre und weiß, Gott Lob, wohin; 

Mich wundert, dass ich traurig bin.“

 

(Predigt v. 29.09.1531) 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Tomb

Ernst Stückelberg, Public domain via Artvee