Rache

Rache

Kennen sie die „Rachepsalmen“? Jene biblischen Gebete, die Gott auffordern, die Feinde des Beters für ihre Untaten zu strafen? Diese Psalmen sind eher unbekannt (Ps 35,4-7; 58,4-12; 74,10-23; 83,2-3.14-18; 109,1-12; 139,19-22). Denn vielen Theologen gelten sie als hoch problematisch. Und man versteckt sie, als wären es nur allzu menschliche Wutausbrüche, die besser nicht in der Bibel stünden. Man schämt sich der unverhohlenen Aggression, die mitten im Gebet erscheint. Und man kommt in Verlegenheit, wenn man den Wunsch nach Rache auslegen und erklären soll. Darum werden die „Rachepsalmen“ in unserem Gesangbuch nur verkürzt wiedergegeben. Und die Bitte, der Übeltäter möge so hart gestraft werden, wie es seine Taten verdienen, lässt man weg. Denn die entspricht ja nicht dem Geist der Feindesliebe. „Oh Schreck“, sagt man, „ein Christ soll doch nicht fluchen! Wir müssen doch jedem alles vergeben, müssen nachsichtig sein, unsere Feinde lieben und alles Unrecht still erdulden! Selbst wenn einer vergewaltigt und mordet, sollen wir ihm immernoch das Beste wünschen – und nicht etwa die gerechte Strafe!“ Aber ist das wirklich so? Hat berechtigter Zorn keinen Platz im Christentum, wenn doch auch Gott sehr heftig zürnt? Soviel ist sicher, dass wir die Gnade, von der wir leben, auch anderen gönnen müssen (Mt 18,21-35). Und der Untergang unseres Feindes darf uns keine Freude bereiten. Versöhnung muss uns immer lieber sein als Vergeltung. Denn auch Gott ist es lieber, wenn seine verlorenen Söhne zu ihm zurückkehren, als dass sie in der Ferne umkommen (Lk 15,11-32). Gott hat kein Gefallen am Tod des Gottlosen. Lieber ist es ihm, wenn er von seinem Weg umkehrt und lebt (Hes 33,11). Darum kam er ja auch uns freundlich entgegen, als wir noch seine Feinde waren (Röm 5,10). Gott lies da Gnade vor Recht ergehen – und dementsprechend sollen wir das auch! Nur, wie erklären wir uns dann, dass die Rachepsalmen trotzdem in der Bibel stehen? Ich meine, dass dort nichts umsonst steht, kein einziges Wort! Und so möchte ich den 109. Psalm näher betrachten, der viele Ausleger in Verlegenheit bringt. Sie können weder billigen noch nachsprechen, was der Mann da betet. Was sagt er aber? Zunächst einmal klagt er vor Gott, um sich Luft zu machen, und schildert seine Lage, die erbärmlicher kaum sein könnte: „Sie haben ihr gottloses Lügenmaul wider mich aufgetan“, sagt er. „Sie reden wider mich mit falscher Zunge und reden giftig wider mich allenthalben und streiten wider mich ohne Grund. Dafür, dass ich sie liebe, feinden sie mich an; ich aber bete. Sie erweisen mir Böses für Gutes und Hass für Liebe“ (Ps 109,2-5). Der Sprecher hat sich offenbar geprüft. Er sieht aber nicht, dass er seinen Gegnern Anlass gegeben hätte, ihn anzufeinden und zu verleumden. Im Gegenteil! Er kann vor Gott bezeugen, dass er diesen Leuten liebevoll und freundlich begegnet ist. Sie überziehen ihn aber dennoch mit Hass und Häme. Und weil er keinen anderen Helfer mehr hat und keinen anderen Zeugen seiner Unschuld, flieht er zu Gott, denn seine Kraft ist zu Ende: „Ich bin arm und elend“, sagt er, „mein Herz ist zerschlagen in mir. Ich fahre dahin wie ein Schatten, der schwindet, und werde abgeschüttelt wie Heuschrecken. Meine Knie sind schwach vom Fasten, und mein Leib ist mager und hat kein Fett. Ich bin ihnen zum Spott geworden; wenn sie mich sehen, schütteln sie den Kopf“ (Ps 109,22-25). Offenbar ist der Mann sozial isoliert, körperlich am Ende und mit den Nerven fertig. Er weiß nicht weiter und erfleht Gottes Beistand, damit der Allmächtige seinen Feind in die Schranken weise. Was Gott aber mit dem Feind machen soll, davon hat der Beter klare Vorstellungen: „Seiner Tage sollen wenige werden, und sein Amt soll ein andrer empfangen. Seine Kinder sollen Waisen werden und seine Frau eine Witwe. Seine Kinder sollen umherirren und betteln und vertrieben werden aus ihren Trümmern. Es soll der Wucherer alles fordern, was er hat, und Fremde sollen seine Güter rauben. Und niemand soll ihm Gutes tun, und niemand erbarme sich seiner Waisen (...). Er liebte den Fluch, so komme er auch über ihn; er wollte den Segen nicht, so bleibe er auch fern von ihm. Er zog den Fluch an wie sein Hemd; der dringe in ihn hinein wie Wasser und wie Öl in seine Gebeine; er werde ihm wie ein Kleid, das er anhat, und wie ein Gürtel, mit dem er allezeit sich gürtet“ (Ps 109,8-19). Nun, ich will es nicht beschönigen – das ist eine veritable Verfluchung. Unser Psalmbeter wurde derart in die Enge getrieben, dass er sich nicht anders zu wehren weiß. Und so bricht der bittere Schmerz aus ihm heraus. Er wünscht seinem Gegner die Pest an den Hals und alles erdenkliche Unglück. Man hat ihn grundlos verfolgt. Nun bricht sich die Verzweiflung Bahn in hasserfüllten Worten, damit Gott in seiner Gerechtigkeit das Unrecht nur nicht übersehe, sondern es ahnde, und der Beter, bevor er ganz zugrunde geht, wenigstens Klage erhoben hat. Ja, er protestiert gegen sein Schicksal und ist maßlos wütend, er spuckt Gift und Galle und hofft nur noch, dass Gott das ihm geschehene Unrecht rächen wird. Aber ist das falsch? Ist denn die Erwartung unbegründet, dass Gott sich für Gerechtigkeit zuständig fühlt, dass Gott für Gerechtigkeit steht und für Gerechtigkeit sorgt? Oder wär‘s wirklich „frömmer“, die Misshandlung still hinzunehmen und ohne Geschrei zu sterben? Mancher Bibelleser ist peinlich berührt von soviel heftigem Gefühl. Das Leiden ist so lebensecht und wird so ungefiltert dahingerotzt, dass es unsre Beschaulichkeit stört! „Pfui, nein“, heißt es, „so böse Sachen sagt man doch nicht, das geht gegen den guten Geschmack. Der mit seinem verwundeten Herzen blutet uns ja den Teppich voll!“ Doch – wenn unser Psalmbeter die Wahrheit sagt –, was hat er dann eigentlich falsch gemacht? Ist es nicht nachvollziehbar, dass er dem Übeltäter ein böses Schicksal wünscht? Soll er ihm etwa wünschen, er möge unbehelligt bleiben, damit er im Bösen fortfahren kann? Und wenn so ein Täter weiterhin stiehlt, lügt und vergewaltigt – soll ihm das Opfer noch zurufen „Glück auf“ und „viel Erfolg“? Ist es wirklich das, was Gott von uns erwartet, wenn er es doch selbst für nötig hält, am Ende der Geschichte ein großes Gericht zu halten, in dem er durchaus nicht allen alles vergibt, sondern vieles auch vergilt? Wer es im Leben gemütlich hat, kann unseren Beter billig kritisieren. Er aber ist tödlich verwundet. Man hat ihn in die Enge getrieben. Und wenn er sich in seiner Not nicht an Gott wenden dürfte – an wen denn dann? Wird etwa einer zuhause überfallen und ruft nicht um Hilfe? Und wenn ihm Einbrecher Frau und Kind ermorden, schreit er dann nicht nach der Polizei? Verlangt er nicht, dass die Täter gefasst und bestraft werden? Ach, viele Heuchler kritisieren die Rachepsalmen und predigen milde Nachsicht. Aber wenn’s um ihre eigene Haut geht, fordern auch sie eine konsequente Strafverfolgung. Und hat sie gar jemand beleidigt, sind sie gar nicht so gut im Hinhalten der anderen Wange, sondern rufen „Strafe muss sein! Verbrechen darf sich nicht lohnen!“ Unser Psalmbeter aber – sagt der denn etwas anderes? Er macht nicht den Fehler, Selbstjustiz zu üben. Sondern er bittet Gott, für Gerechtigkeit zu sorgen. Er rächt sich nicht selbst, sondern gibt dem Raum, der sagt „Die Rache ist mein!“ (Röm 12,19). Der Beter nimmt die Sache nicht in die eigene Hand, sondern bringt sie vor Gott. Was also ist falsch daran? Dieser Mann „hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“. Aber kann das verwerflich sein, wenn doch Jesus solche Leute selig preist (Mt 5,6)? Und wenn unser Beter von Gott erwartet, dass er den Bösen ihre Bosheit vergilt – kann er sich dafür nicht auf Gottes Gesetz berufen, in dem er genau das verspricht (3. Mose 26,14-39)? Der Gott der Bibel hat kein Problem mit Vergeltung – die Schrift nennt ihn ausdrücklich einen „Gott der Vergeltung“ (Ps 94,1). Er hat das Recht, dem Bösen, das wie ein Krebsgeschwür seine Schöpfung zerstört, mit Härte zu begegnen. Und zudem hat er sich verpflichtet, seinen Gläubigen beizustehen. Zu Abraham sagt er: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen“ (1. Mose 12,3). Wenn sich also ein Verzweifelter mit seinem letzten Hilfeschrei an Gott wendet – wer dürfte den moralischen Zeigefinger erheben und mahnen, der Mann solle doch etwas leiser sterben, er solle sich „netter ausdrücken“ oder seine unschönen Gefühle für sich behalten? Warum empört sich alle Welt über den unschuldigen Beter, der am Boden liegt, und nicht über die Feinde, die ihn dahin gebracht haben? Warum waren sie so unvorsichtig, jemand anzugreifen, der Gott zum Freund hat? Haben sie denn nicht bedacht, dass so einer fluchen kann – und dass sein Fluch Folgen hat? Sie wundern sich vielleicht, dass ich den fluchenden Beter verteidige. Denn Jesus fordert an vielen Stellen, dass wir zur Vergebung bereit sein sollen. Wer selbst von Barmherzigkeit lebt, muss Barmherzigkeit auch anderen gönnen! Doch ist es nicht dasselbe, einem Täter Barmherzigkeit zu gönnen, oder seine Taten zu dulden und zu entschuldigen. Nein! Wer Unrecht toleriert und relativiert, ist bloß „großzügig“ auf Kosten der Opfer. Und er kann sich dafür nicht auf Jesus berufen. Denn wenn der sich eines Sünders erbarmt, erbarmt er sich keineswegs der Sünde, so als ob sie weitergehen dürfte oder „nicht so schlimm“ wäre. Nein! Gottes Sohn sieht nicht über das Böse hinweg – auch er besteht darauf, dass es endet! Und so meine ich, dass wir immer zwischen der besten und der zweitbesten Möglichkeit unterscheiden müssen. Die beste Möglichkeit ist, dass der Böse von seinem bösen Weg umkehrt und Vergebung findet. Das muss jederzeit unser primärer Wunsch sein! Wenn der Böse aber nicht umkehren will, sondern unbelehrbar am Bösen festhält, dann ist die zweitbeste Möglichkeit, dass Gott ihm das Handwerk legt. Es ist dann schade um ihn. Es ist aber doch noch besser, als wenn gar nichts geschähe und das Unrecht weiterginge. Am liebsten wär’s uns, der Feind besönne sich eines Besseren, fände Gnade, täte künftig Gutes und würde unser und Gottes Freund – in diesem Sinne beten wir für ihn! Aber wenn er vom Bösen bis zuletzt nicht lassen will, möge Gott ihn stoppen. Wenn der Himmel den Peiniger retten will, so freuen sich die Engel, und wir erheben keinen Einwand (Lk 15,10)! Doch wenn der Übeltäter partout nicht gerettet werden will, muss ihn der Himmel irgendwann unschädlich machen. Und ich meine, wenn in dieser „gestuften Präferenz“ wirklich der erste Wunsch Vorrang hat, geht auch der zweite in Ordnung – und verdient keine Rüge. Denn sonst wäre Barmherzigkeit gegen Wölfe einfach nur grausam gegen die Schafe. Gott will durchaus gnädig sein! Aber wenn seine Gnade nicht angenommen wird, ist Gerechtigkeit allemal besser als fortgesetzte Bosheit. Oder dürften wir Gott bitten, sich das Böse unbegrenzt mit anzusehen? Nein. Im Gebet kann ich Partei ergreifen für die Person des Sünders und kann zum Himmel flehen, dass er noch rechtzeitig bereut. Ich kann aber nicht die Partei der Sünde ergreifen und Gott bitten, sie dauerhaft zu dulden. Denn damit würde das Böse gefördert, das nach dem Willen Gottes enden soll. Wenn’s aber absehbar nicht endet durch Versöhnung, so muss es irgendwann enden mit dem Untergang des Täters. Für den werden wir beten, dass Gott Geduld mit ihm habe und seine Seele rette! Denn geduldig ist Gott ja auch mit uns – und ohne diese Geduld wären wir verloren! Aber wir können Gott nicht darum bitten, dass der Böse ohne Verhaltensänderung weitermachen darf. Denn ganz abgesehen davon, dass er Gottes Gebote mit Füßen tritt, stürzt er ja andere Menschen ins Unglück! So möge ihn denn Gottes Liebe überwältigen und retten. Aber wenn nicht, möge Gottes Gericht ihn überwältigen und strafen. Wenn die beste Möglichkeit ausscheidet, bin ich für die zweitbeste. Doch für eine Tolerierung des Bösen kann ich nie plädieren. Denn dafür ist auch Jesus nicht eingetreten. Freilich liegt ein gedanklicher Kurzschluss nahe, weil Jesus nicht primär Vergeltung will, sondern Vergebung – und wer die empfängt, entgeht seiner verdienten Strafe. Doch Vergebung im Sinne Jesu schließt nicht etwa die Duldung des Falschen mit ein, sondern schließt die Duldung des Falschen gerade aus! Die Erlösung, die Jesus dem Sünder bringt, will dessen Umkehr nicht ersetzen, sondern sie möglich machen! Der Sünder wird nicht angenommen, damit er Sünder bleiben kann, sondern damit er ein Gerechter wird! Und so ist Jesu gnädige Entscheidung gegen ein Strafgericht niemals eine Entscheidung zugunsten des Bösen, sondern seine Gnade will das Böse überwinden mit Güte. Jesus weiß: Wenn ein böser Mensch Gottes Gnade nicht weicht, die ihn rettet, wird es Gottes Strenge weichen müssen, die ihn verdammt. Und so ist die gestufte Präferenz wohl auch in seinem Sinne. Wenn ein Mensch Böses tut, ist die erste und schönste Möglichkeit, dass er es bereut, davon ablässt, Gnade erbittet und Vergebung empfängt. Die zweitbeste Möglichkeit ist, dass der Uneinsichtige durch irdische oder himmlische Gerichte gehindert wird, das Böses weiter auszuüben. Die dritte Möglichkeit aber, dass einer immer weiter Gott „ins Angesicht“ sündigt, ist selbst für den Täter die schlechteste Option, weil das den Berg seiner Schuld nur immer weiter vergrößert. Freilich muss es uns um die Person herzlich leid tun, denn wir selbst sind ja kein Stück besser! Wir wünschten jedem, dass er mit uns um Christi willen Barmherzigkeit fände – wir wünschen es auch noch der schwärzesten Seele! Wo aber nicht Gnade vor Recht ergeht, ist Recht immer noch besser als fortgesetztes Unrecht. So möge denn das Böse durch Gottes Milde enden oder durch seine Strenge, durch Gnade oder durch Recht – und am liebsten überall durch Gnade! Aber fortbestehen darf es nicht. Was hat der Beter des 109. Psalms also falsch gemacht? Er hat versäumt, für die Rettung seines Feindes zu bitten – das ist wahr. Er kam wohl nicht auf die Idee, dass es für den noch eine Möglichkeit zur Umkehr gäbe! Doch reißt er keineswegs die Rache an sich, um sie blindwütig selbst zu vollstrecken. Sondern er bittet Gott, seinem Feind zu tun, was der nach Gottes Gesetz verdient. „Er liebte den Fluch, so komme er auch über ihn; er wollte den Segen nicht, so bleibe er auch fern von ihm.“ Freilich hätte der Beter besser gesagt: „Vater vergib ihm, denn er weiß nicht, was er tut!“ Diese Größe hat er leider nicht gehabt. Aber soviel müssen wir ihm doch zugestehen, dass gerechte Vergeltung besser ist, als wenn das Böse ungehindert Raum greift. Wenn einer Böses tut, ist das schlimm genug. Aber schlimmer ist’s, wenn er damit durchkommt! Am Besten ist sicher Reue. Erheblich schlechter ist Strafe. Aber am schlechtesten ist es, wenn sich das Unrecht fortsetzt. Besser ergeht Gnade vor Recht. Aber wenn einer definitiv keine Gnade will, geschieht ihm besser Recht, als dass gar nichts geschieht. Und anmaßend wäre dieser Wunsch nur, wenn sich einer zum Richter erhöbe. Doch unser Psalmbeter wendet sich an Gott. Und so urteile man nicht zu schnell über den Mann, der da Gift und Galle spuckte. Denn die Gerechtigkeit, die er fordert, liegt auch unserem Gott am Herzen, der sicher nicht geduldig ist, damit im Schatten seiner Güte das Böse weiter gedeihen soll, sondern damit es endet. Allerdings – das ist meine eigentliche Anfrage an den Psalm: Hat Gott es wirklich nötig, von uns an seine Gerechtigkeit erinnert zu werden? Braucht er zum Vergelten unseren Rat? Oder müssen wir ihn erst „aufwecken“ wie einen saumseligen Richter, der sein Amt vernachlässigt? Wissen wir denn besser als Gott, wann Geduld noch Sinn macht, wann Vergebung dran ist – und wann prompte Vergeltung? Hier scheint mir der eigentliche Fehler des Psalmbeters zu liegen, dass er sich weniger gegen seinen Feind als gegen Gott vergeht. Der Feind hat‘s vermutlich verdient, dass der Beter ihm so grollt. Aber Gott hat nicht verdient, dass der Beter seiner Vorsehung misstraut und ihn zur Tätigkeit mahnt wie einen schläfrigen Wächter. Gott weiß längst, was jener Feind verbrochen hat. Und ganz egal, ob er‘s ihm vergeben will, ob er ihm noch Zeit zur Umkehr gibt oder sofort zum Schlag ausholt: Gott wird auf jeden Fall das Richtige tun. Und er braucht dazu von Seiten des Beters keine fluchenden Ratschläge. Gottes Milde kam noch nie zu spät, und seine Strenge nie zu früh. Der Allmächtige weiß selbst, wann wem die Stunde geschlagen hat. Das Unrecht, das uns empört, empört ihn schon längst. Und sein Zorn ist wahrlich groß genug, dass wir ihn nicht noch anheizen müssen. Hätten wir einen Begriff von den göttlichen Strafen, die noch kommen, würden wir schwerlich danach rufen! Und außerdem geht es uns gar nichts an, wie Gott mit einem anderen Menschen zu verfahren gedenkt. Dürfen wir also die Schuld anderer aufdecken, wo doch Gott unsere eigene Schuld gerade erst zugedeckt hat? Voller Rachgier erhebt man Vorwürfe, als wäre Gott nicht im Bilde. Aber selbst wenn unsere Vorwürfe tausendmal berechtigt wären, stünde es einem Sünder doch nicht zu, vor Gottes Gericht die Rolle des Anklägers zu übernehmen, der für andere Menschen die Verdammnis fordert, der er selbst nur knapp entgangen ist. So darf ein Leidender vor Gott klagen – und muss dabei kein Blatt vor den Mund nehmen. Doch über den Täter richtet nicht das Opfer, sondern Gott allein. Und wenn wir es nicht schaffen, für unsere Feinde zu beten, wie wir das sollten, dann halten wir besser den Mund. Denn wenn Gott plant, sie morgen zu bekehren, in zwei Jahren, irgendwann später auf dem Sterbebett oder auch nie – was geht‘s uns an? So oder so wird Gottes Entscheidung richtig sein und pünktlich kommen. Sein Zorn brennt heiß genug – auch ohne dass wir ihn befeuern! Und wenn eines Tages das Gericht über unsre Feinde niedergeht, wird es besser sein, wenn wir ihren Untergang nicht herbeigerufen oder gefordert haben. Schweigen wir also. Und sparen wir uns die Flüche. Denn Gott weiß, was er tut. Und er hat nicht gesagt „die Rache fällt aus“, sondern „die Rache ist mein“. 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Sword, Pistols, and Teacup

James Reeve Stuart, Public domain, via Wikimedia Commons