Macht

Macht

Sind sie mächtig? Haben sie Macht? Viele winken da gleich ab und sagen: „Ach, mit meiner Macht ist es nicht weit her. Ich bin ja in keiner Leitungsfunktion und habe wenig zu sagen. Ich verfüge weder über viel Geld noch über Einfluss.“ So schreibt der „Normalbürger“ die Macht eher „denen da oben“ zu, den Politikern und Wirtschaftsbossen. Und er merkt auch gleich an, dass ihnen die Macht offenbar den Charakter verdirbt. Doch so ganz ehrlich ist das nicht. Denn Macht hat viele Formen. Und auch die sogenannten „kleinen Leute“ verstehen sehr gut mit ihrer Macht zu spielen. Wenn die Mutter ein ungezogenes Kind durch Liebesentzug bestraft oder mit ihrem Partner nicht mehr redet, übt sie Macht aus – sie „macht Druck“. Und wenn im Freundeskreis einer klüger ist als die anderen und sie zu etwas überredet, übt er Macht aus mit schlagfertigen Argumenten. Auch als kleines Rädchen im Getriebe einer großen Firma kann man Dinge verhindern, indem man Dienst nach Vorschrift leistet, sich ein bisschen dumm stellt oder Informationen zurückhält. Um solche Macht auszuüben, braucht man nicht unbedingt ein Leitungsamt oder Befehlsgewalt. Manchmal genügt eine spitze Bemerkung, eine Indiskretion oder ein verbindliches Lächeln. Folglich spielen wir alle das Spiel mit der Macht. Und wir könnten es auch gar nicht lassen. Denn Macht ist die Möglichkeit, etwas zu bewirken. Und ohne diese Möglichkeit wäre kein Leben denkbar. Um zu überleben, muss ich auf die Welt um mich herum Einfluss nehmen. Und Wollen allein nützt nichts, wenn der, der will, nicht kann. Wer gar nichts mehr kann, ist tot – oder wird es bald sein. Darum geht‘s gar nicht ohne Macht. Doch wo kommt sie eigentlich her? Es ist uns meist nicht bewusst. Aber alle Macht hat ihren Ursprung in Gott und ist eigentlich seine Macht. Wir als Geschöpfen verfügen nur deshalb über Macht, weil der Schöpfer etwas von seiner Macht mit uns teilt und uns an seinen Kräften Anteil gibt. Unserem Bedarf angemessen verleiht Gott uns Macht, damit auch wir etwas sein und etwas bewirken können. Und so lässt sich Schöpfung als ein Prozess der Ermächtigung beschreiben. Denn ohne die von Gott verliehene Kraft und das Vermögen zu wirken, könnte sich kein Geschöpf im Dasein halten. Die Gazelle hat die Macht der schnellen Beine. Der Löwe hat die Macht der scharfen Zähne. Und dem Menschen ist die Macht des Verstandes gegeben. So viel Macht muss aber jedes Geschöpf haben, dass es sich zumindest seiner Nahrung bemächtigen und vor Feinden fliehen kann. Die Ohnmacht – als Zustand „ohne Macht“ – würde sonst sehr schnell zur Vorstufe des Todes! Und so ist Gottes Schöpfung nicht nur an sich selbst eine „Macht-Tat“ ohnegleichen. Sondern sie besteht auch darin, dass Gott seine Macht mitteilt. Gott verwirklicht seine unbegrenzten Möglichkeiten, indem er auch den begrenzten Geschöpfen Möglichkeiten einräumt. Der Schöpfer hat Freude daran, dass auch wir schöpferisch wirken! Er verleiht uns dazu die nötige Kraft und Macht. Und schon daraus ist zu entnehmen, dass Machtgebrauch an sich nichts Schlechtes sein kann – und Schwäche keine Tugend. Denn Macht ist nichts Böses. Die Macht, mit der Gott uns ausstattet, darf man nicht verteufeln. Und dass sie Menschen korrumpieren kann, ist nicht ihr Fehler, sondern ist den üblen Neigungen des Menschen zuzuschreiben. Ihm deswegen aber alle Macht wegzunehmen, wäre keine Lösung. Denn hilflos zu sein macht einen Menschen moralisch nicht besser. Und wer sich reflexhaft auf die Seite der Schwachen stellt, steht damit nicht automatisch auf der richtigen Seite. Denn Macht an sich ist weder gut noch böse, sondern verstärkt bloß den bösen oder guten Willen, der sich ihrer bedient. Mächtig zu sein ist folglich keine Auszeichnung oder Ehre. Es ist aber auch keine Schande. Denn ohne Macht bewirkt man nichts – und folglich auch nichts Gutes. Dem Schöpfungsauftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, kann der Mensch ohne Macht nicht Folge leisten. Und dem Bösen in der Welt ist allein mit guten Worten auch nicht Einhalt zu gebieten. Der anarchistische Schlachtruf „keine Macht für niemand“ ist daher genauso sympathisch wie sinnlos. Denn Macht ist in ihrem Ursprung eine gute Gabe Gottes. Der Schöpfer gibt uns daran teil, damit wir mächtig dem Leben dienen. Warum geraten die Mächtigen dann aber so schnell in dem Ruf, schlechte Menschen zu sein? Es hat sicherlich mit Neid zu tun. Aber natürlich auch mit der Angst vor der Willkür dessen, der seine überlegene Macht missbrauchen und zum Despoten werden kann. Ein Sünder mit viel Macht ist auch mächtig im Sündigen – darüber gibt jedes Geschichtsbuch erschreckende Auskunft! Und wenn ein Mächtiger die Gottesgabe der Macht selbstsüchtigen Zwecken unterwirft, wird aus ihr ein Werkzeug der Unterdrückung und des Unrechts. Die Bibel sieht dieses Problem ganz klar. Sie macht sich über den Menschen nicht die geringsten Illusionen. Und so steht sie der Herrschaft von Menschen über Menschen durchaus kritisch gegenüber (vgl. Ri 9,8-15). Denn wenn Gott der Ursprung aller Macht und selbst der Herr ist über seine Geschöpfe – wie kann sich dann ein Mensch dazu aufschwingen, über Seinesgleichen zu bestimmen, als hätte er sie geschaffen? Ist alle Macht Gottes Macht, wie kann sich ein Mensch anmaßen über andere zu herrschen, ohne damit in Gottes Recht einzugreifen? Die Autorität eines solchen Herrschers muss sofort mit Gottes Autorität in Konkurrenz treten. Denn eigentlich kann nur der Schöpfer seine Schöpfung regieren. Nur Gott steht es zu, Gottes Volk führen! Und das ist tatsächlich der Grund, weshalb Israel ganz lange keine Könige hatte, keine staatlichen Strukturen und kein stehendes Heer. Das von Gott erwählte Volk fühlte sich einfach nicht berechtigt, sich selbst einen Herrscher zu geben. Es war gewohnt, von denen geführt zu werden, die Gott direkt und unmittelbar dazu auserwählt. Denn wie könnte sich Gottes Volk einem Herrscher beugen, der nicht „von Gottes Gnaden“ herrscht? So werden Mose und Josua unmittelbar von Gott berufen (2. Mose 3,9-10; Jos 1,1). Die Richter (jene charismatischen Führer der vorstaatlichen Zeit) werden von Gott „erweckt“ (Ri 2,16-19). Und auch Saul und David werden noch von Gott selbst „zum König ersehen“ (1. Sam 9,15-17; 1. Sam 16,1ff.). Erst bei Salomos Amtsantritt wird‘s undurchsichtig, weil Menschen beginnen ihr Intrigenspiel zu spielen (1. Kön 1,1ff.). Doch da ist Israels Königtum auch schon im Abstieg begriffen. Und die Mehrzahl der dann folgenden Herrscher ist dem Gott nicht treu, der allein ihre Macht hätte legitimieren können. An den Sünden dieser Könige zeigt sich bald, dass Israel den Bund gebrochen hat. Und infolgedessen geht‘s dann auch zu wie in Shakespeares Königsdramen oder in der heutigen Politik. Denn ist die Macht erst mal abgetrennt von Gott, ihrem Ursprung und ihrer Quelle, zeigt sich auf erschreckende Weise, dass jene, die am eifrigsten nach der Macht streben, sie keinesfalls besitzen sollten, während die anderen, die gegen ihre Versuchungen besser gerüstet wären, sich nur bedingt für Macht interessieren. Die sich begierig nach Leitungsämtern drängen, sind charakterlich meist nicht geeignet, sie auszuüben. Da sie aber jeden Preis zu zahlen bereit sind, gelangen sie trotzdem an die Macht. Und ist die erst mal aus dem Zusammenhang mit Gott gelöst, verselbständigt sich der Drang zur Macht – und sie wird zur Droge. Karrieristen erstrebt sie dann um ihrer selbst willen und fragen nicht mehr, wozu sie eigentlich gegeben war. Als Machthaber vergessen sie die Ideale, um derentwillen sie die Macht einst anstrebten. Sie verantworten sie auch nicht mehr vor Gott. Und bald klammern sie sich nur noch deshalb an ihre Ämter und Vollmachten, weil sie so schwer zu bekommen waren. Sie dienen der Macht, statt mächtig zu dienen. Und immer sägt einer am Stuhl des anderen. Ein Schuft stürzt den nächsten und klebt dann selbst an seinem Thron, bis irgendein junger Kerl ihn herunterzerrt, um wiederum ein schlimmerer Tyrann zu werden als der Alte. Da kann man schon auf die Idee kommen, die Macht selbst sei das Problem, und alle Herrschaft gehörte abgeschafft! Man wendet sich mit Grausen von den Machtgierigen und Herrschsüchtigen und wünscht sich, dass niemand mehr über irgendwen regierte! Doch interessanter Weise zieht die Bibel keine Konsequenzen dieser Art. Sie kennt viele scheußliche Beispiele des Machtmissbrauchs. Und doch finden wir – auch im Neuen Testament und bei Jesus – keine Kritik der Machtausübung an sich. Despotismus und Gewalt werden selbstverständlich verworfen, aber keineswegs die Hierarchie als solche (Mk 10,42-43; Lk 3,14). Sondern (zur Enttäuschung aller großen und kleinen Revoluzzer) werden hierarchische Strukturen im Neuen Testament vorausgesetzt und ausdrücklich bejaht. Denn dass Macht ausgeübt wird, sieht die Bibel nur als Problem, wenn sie schlecht gebraucht und nicht als Gabe Gottes vor ihm verantwortet wird. Nach den Haustafeln des Neuen Testaments (Eph 5,21-6,9; Kol 3,18-4,1; 1. Petr 2,13-3,7) ist Christus der Herr des Mannes. Und der Mann seinerseits steht über seiner Frau. Die Frau regiert wiederum Kinder, Knechte und Mägde. Und so geht das hinunter bis zum Vieh. Da hat immer einer Macht über den anderen. Die Abstufung und Gliederung der Gesellschaft wird im Neuen Testament aber gar nicht als empörend oder schändlich empfunden, weil darin alle gleich sind, dass sie sich nach oben hin verantworten müssen und nach unten hin zu Fürsorge verpflichtet sind. Je höher die Stellung der Person, je höher ist auch der Anspruch, an dem sie gemessen wird. Und wer dem nicht gerecht wird, dem nützt es gar nichts, dass er vielleicht König war, wenn er ein schlechter König war. Machtlos zu sein, ist so gesehen keine Tragödie. Denn Macht, die man nicht besitzt, kann man auch nicht missbrauchen. Aber große Macht gehabt und sie nicht richtig eingesetzt zu haben – das ist im nachhinein eine quälende Last. Denn bei allen Unterschieden muss sich doch jeder in seinem Stand verantworten. Und so steht ein Knecht viel besser da, der über wenigem treu gewesen ist, als ein großer Herr, der sich in seiner Machtfülle charakterlich überfordert zeigt. Die Machtstellung, über die einer verfügt, ist nicht schon „an sich“ als Wert zu sehen, sondern erst in der Verbindung mit Tugend wird sie zu einem Wert. Genau wie Intelligenz oder Reichtum verpflichtet auch die Macht den damit Begabten zum rechten Gebrauch. Und auf jeder Stufe der Hierarchie ist der Mensch schuldig, Gott Rechenschaft zu geben, über die ihm anvertraute Macht – ob er damit nämlich im Sinne des Schöpfers und zum Wohle der ihm Untergebenen gehandelt hat. Maßgeblich ist dabei, ob man mit dem Pfund seiner Macht recht gewuchert hat. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Magd gar nicht von der Königin. Denn gemessen wird man nicht daran, wieviel Macht, Herrschaft und Gewalt man besitzt, sondern was man damit anstellt. Der Wert eines Menschen hängt nicht daran, ob er in der Hierarchie „oben“ oder „unten“ steht, sondern daran, ob er dort, wo er steht, seiner Verantwortung vor Gott gerecht wird. Und so muss man aus Glaubensgründen auch nicht dagegen rebellieren, dass Menschen Macht über Menschen haben. Das Neue Testament tut das jedenfalls nicht. Denn Macht, im Dienste göttlichen Rechts ausgeübt, ist durchaus kein Problem, sondern ein großer Segen – und ist von Gott gewollt (Röm 13,1-7; Mt 22,15-22). Oder sollten wir den treuen und gerechten Herrschern etwa wünschen, dass sie in Schwäche fallen? Das wäre nicht schlau. Denn es liegt in unserem Interesse, dass die Guten in der Welt mächtig sind. Und wenn ihre Macht dem Bösen wehrt, tut sie genau, was sie soll. Um eben das zu bewirken, ist sie von Gott gegeben. Und problematisch wird Macht nur dort, wo man sie von dieser guten Bestimmung ablöst und eigenen Zwecken dienstbar macht. Statt ein gutes Mittel zum Zweck zu sein, wird sie dann zum Selbstzweck. Und statt Gottes Weisungen folgend das Recht zu fördern, behauptet man, Macht sei an sich schon Recht – nämlich das „Recht des Stärkeren“. Da wird Macht natürlich zum Brandbeschleuniger für alle schlechten Neigungen der menschlichen Natur! Da schwingt sich dann einer unberufen zum Herrn über die anderen auf. Und statt dankbar von Gottes Gnade zu leben, will der Mensch durch seine Machtfülle Gott gleich werden. Gierig nach Macht versucht er alle Bedingungen seines Daseins in die eigene Hand zu bekommen. Und bald glaubt er auch alles zu dürfen, bloß weil er es kann. Der Sünder wendet die von Gott anvertraute Macht gegen Gott selbst, fühlt sich stark genug, ihm die Gemeinschaft aufzukündigen –und geht daran verdientermaßen zugrunde. Denn gegen Gott zu streiten, ist der sicherste Weg, um sich selbst zu vernichten. Wenn Machtmissbrauch aber nicht bloß ein Problem „der oberen Zehntausend“ ist, sondern durchaus unser aller Problem – was hilft dagegen? Ich denke, wir sollten uns auch in dieser Hinsicht am Beispiel Jesu orientieren. Denn niemand hat Machtfülle und Demut überzeugender kombiniert als er. Jesus demonstriert, wie man groß sein kann, ohne andere klein zu machen, und wie man Stärke zeigt, ohne aufzutrumpfen. Oder bezweifelt jemand, dass Gottes Sohn der mächtigste aller Menschen war? Ihm gehorchen alle Dämonen, und ihm gehorchen sogar der Sturm und die Wellen. Ein Wort Jesu genügt, um Tote aufzuerwecken, um Engelsheere aufzubieten, Wasser in Wein zu verwandeln, Verbrecher in den Himmel zu heben und Steine in Brot zu verwandeln. Jedes seiner Wunder zeigt, wie in diesem Mann die ganze Fülle der göttlichen Allmacht wohnt, die alles kann, was sie will! Und doch nutzt Jesus seine Machtfülle nicht anders, als um zu dienen, und tut alles, was er tut, in völligem Konsens mit seinem himmlischen Vater. Jesus trumpft nicht auf. Und obwohl er der Größte ist, macht er niemanden klein und drückt mit seiner Macht niemanden an die Wand, sondern erhebt die Gefallenen aus dem Staub. Selbst wenn er streitet, ist seine Liebe noch mächtig, und seine Macht voller Liebe. Stets hemmt sie das Böse und fördert das Gute. Nie setzt Jesus seine Macht zur eigenen Ehre ein. Er widersteht dieser Versuchung (Lk 4,5-8!). Und so bietet Jesus den besten Anschauungsunterricht, den man haben kann, um den eigene Machtgebrauch kritisch zu prüfen. Denn wie eingangs gesagt, verfügen wir alle über Macht. Und entscheidend ist nicht, ob die uns groß oder klein vorkommt, sondern was wir damit machen. Egal ob wir Wirtschaftsimperien regieren oder nur einen Kanarienvogel versorgen – alle Macht, die wir ausüben, kommt von Gott (Joh 19,10-11). Und wenn wir sie von dieser ihrer Wurzel trennen und sie zweckentfremden, um damit bloß den eigenen Vorteil zu suchen, werden wir das vor Gott verantworten müssen. Oft ist uns viel mehr in die Hand gegeben als wir denken! Das aber gut einzusetzen, sollte unser vorrangiges Anliegen sein. Darum müssen wir nicht beten, Gott möge uns mächtiger machen – vielleicht wäre das gar nicht gut! Die vorhandene Macht aber recht zu gebrauchen, darum können wir ihn bitten. Und den Spielraum, den wir haben, sollen wir dann auch nutzen, um die Welt – so weit unser Vermögen reicht – besser zu machen. Dabei ist nicht wichtig, ob unser Platz in der Gesellschaft oben oder unten ist, sondern dass wir ihn gut ausfüllen. Nicht die Träumerei muss uns beschäftigen, was wir mit großer Macht täten, wenn wir sie hätten – sondern die Überlegung, wie wir vorhandene Macht zum Guten nutzen können. Fällt uns aber wirklich große Macht zu, vergessen wir besser nicht, von wem wir sie haben, sondern bitten Gott um Weisheit, dass er uns lehrt, mit dieser Macht segensreich zu wirken: zu seiner Ehre nämlich, und zum Nutzen aller, für die wir Verantwortung tragen.

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Bonaparte Before the Sphinx

Jean-Léon Gérôme, Public domain, via Wikimedia Commons