Reinen Herzens sein

Reinen Herzens sein

Ich habe mir vorgenommen, die sechste Seligpreisung zu behandeln, die da lautet „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). Aber irgendwie bereue ich es schon. Denn bitte: was soll man über die Reinheit des Herzens sagen, wenn man kein reines Herz hat? Und wie soll ich erklären, was ich selbst nicht kenne? Ich unterscheide mich da kaum von anderen. Aber eben das ist das Problem. Denn wer von uns wäre „reinen Herzens“? Jesus lässt auf die Seligpreisungen sehr bald seine Antithesen folgen. Und da steht dann, was er mit „Reinheit“ meint. Es genügt ihm nicht, dass ich meinen Bruder nicht töte: nein! Ich soll ihm nicht mal zürnen. Es genügt ihm nicht, dass ich mir den Ehebruch verkneife: nein! Ich soll nicht mal daran denken. Es genügt ihm nicht, wenn ich etwas schwöre und das dann halte: nein! Sondern jedes meiner Worte soll so wahrhaftig und grundehrlich sein, dass es gar keines Schwures bedarf. Es genügt Jesus nicht, wenn ich im Vergelten Maß halte. Sondern statt Unrecht zu vergelten, soll ich die andere Wange hinhalten. Und es genügt ihm auch nicht, wenn ich meine Familie und meine Freunde liebe. Sondern gerade meine Feinde soll ich lieben, und die segnen, die mich verfluchen. Reinheit im Sinne Jesu bedeutet nicht bloß, das Böse zu unterlassen, sondern auf das Böse gar keine Lust zu haben. Es bedeutet nicht, neidische und gierige Impulse zu unterdrücken, sondern sie gar nicht erst zu verspüren. Und so verstehen sie vielleicht, warum ich vor dieser Anforderung kapituliere und mich für inkompetent erkläre. Denn jeden Tag kommt das vor, dass jemand etwas Dummes sagt oder tut – und ich mich schadenfroh darüber lustig mache. Jemand schneidet mich im Straßenverkehr – und schon habe ich ein hässliches Schimpfwort auf den Lippen. Kaum gelingt mir etwas, ertappe ich mich, wie ich stolz werde und mir etwas darauf einbilde. Und an bestimmte Menschen muss ich nur denken, da zeigt schon aufsteigender Groll, dass ich ihnen etwas nachtrage, worin ich unversöhnlich und selbstgerecht bin. Täglich drücke ich mich um unangenehme Aufgaben und erliege dabei meiner Faulheit. Und ständig erwische ich mich bei neidischen und missgünstigen Gedanken, die nur deshalb keinen Streit auslösen, weil die anderen meine Gedanken nicht lesen können. Wie gesagt – ich nehme nicht an, dass ich mich sonderlich von anderen unterscheide. Aber davon wird’s nicht besser. Denn ganz egal wie selten sie ist – Jesus fordert echte Reinheit. Und von der sind wir meilenweit entfernt. Wer sich die folgende Grafik anschaut, wird spontan verstehen, was ich meine:

 

 

Auf den alten Bildern sind acht Hauptsünden in tierischer Gestalt zu sehen. Und als Hoffart, Unkeuschheit, Völlerei, Trägheit, Zorn, Neid, Geiz und Lüge erfüllen sie das herzförmige Innere eines Menschen. Daneben finden wir aber das Gegenbild der Reinheit – jenen Zustand nämlich, in dem die Taube des Hl. Geistes alle Laster aus dem Herz verdrängt und vertrieben hat. Nun kann man die Darstellung allzu drastisch finden, deprimierend, moralisierend oder sonstwie. Aber von der Hand zu weisen ist doch nicht, dass wir den zweiten Zustand anstreben sollten. Denn die reinen Herzens sind, werden Gott schauen – und die anderen eher nicht. Was machen wir aber mit diesem Befund, wenn wir im Herzen so einen ganzen Zoo von Lastern mit uns herumtragen? Zucken wir bloß mit den Schultern? Resignieren wir? Oder ärgern wir uns? Nun, für Menschen, die mir ähnlich sind, will ich einen sehr bescheidenen Weg beschreiben und einen ersten kleinen Schritt darauf gehen. Denn ich schlage vor (wenn wir all die Viecher schon nicht gleich loswerden), dass wir doch zumindest einen Anfang machen, indem wir lernen, mit ihrer Gegenwart zumindest nicht einverstanden zu sein. Na, das ist ja ein Held, werden sie sagen. Vertreiben soll er sie doch – und sein Herz reinfegen! Aber, Entschuldigung: für einen wie mich ist es schon mal ein Anfang, wenn ich jenen Tieren die Freundschaft kündige, statt sie zu füttern, sie zu streicheln und mit ihnen zu spielen! Es wäre natürlich besser, wenn ich sie mit einem Streich verjagen könnte. Doch sind sie mir von Kindesbeinen an vertraut. Sie tun auch so, als hätten sie Gewohnheitsrecht. Und meine eigenen Sünden wenigstens nicht mehr zu billigen und zu entschuldigen, wäre da schon ein erster Schritt. Ich sehe darin die Chance, mich innerlich zu distanzieren, damit jene Kröte und dieses Schwein wenigstens nicht sagen können, sie seien auf meinen Wunsch gekommen – und ich wäre ihr lieber Freund! Die Zuversicht aber, dass dieser Wechsel der Einstellung schon etwas bringt, verdanke ich dem mittelalterlichen Theologen Johannes Gerson. Denn der sagt, solange die Vernunft nicht in die Versuchung einstimme, gehe auch die Liebe zu Gott noch nicht verloren. Er sagt, solange der Wille in das Böse nicht einwillige, habe der Teufel nicht gesiegt. Und solange unreine Gedanken dem Menschen nicht zur Lust, sondern zur Last seien, würden sie ihm auch nicht als Sünde angerechnet. Denn so ist der Mensch von seinen Fehlern zwar noch nicht frei – sie sind noch da. Aber er reicht ihnen zumindest nicht die Hand und macht sie sich nicht willentlich zu eigen, sondern schämt sich der ganzen Viecher, erklärt sie für fremd und unerwünscht und weist ihnen die Tür. Deswegen gehen sie nicht gleich, o nein! Aber immerhin hat sich der Mensch, der sich nach Reinheit sehnt, von ihnen distanziert, hat ihnen die Freundschaft gekündigt und insofern Klarheit geschaffen, als er vor Gott bekundet, jedenfalls nicht mit Freude ein Sünder zu sein, sondern in stetem Bedauern. Wenn jemand meint, das sei doch viel zu wenig, gebe ich ihm sofort recht. Und wie leicht eine Lebenslüge draus wird, ist mir schmerzlich bewusst. Ein tiefer Wunsch nach Reinheit ist noch keine Reinheit – und kann sie auf Dauer auch nicht ersetzen! Aber für den, der gewohnt war mit diesen Tieren zu spielen, ist es ein Anfang, wenn er beginnt sie mit Abscheu zu betrachten. Der Bock, der Pfau und die Schlange bleiben trotzdem, was sie sind. Aber der Mensch, der sie verneint und verabscheut, steht doch nicht mehr im selben Verhältnis zu ihnen. Sondern er sieht sich selbst als Einwohner einer belagerten Stadt, in die der Feind von außen giftigen Unrat, Dreck und Brandpfeile hineinschießt. Er kann das nicht verhindern, denn der Teufel schleudert ihm böse Gedanken und Impulse über die Mauer in sein Herz hinein. Er will die belagerte Stadt damit vergiften, verschmutzen und in Brand setzen. Der Mensch ist vielleicht auch entsetzt über das, was er an lästerlichen, unreinen und gehässigen Ideen in sich vorfindet. Aber solange er sie nicht duldet und nicht aneignet, solange er die Brandpfeile des Feindes immer wieder auslöscht und den gefährlichen Schmutz hinaus zu fegen versucht – so lange rechnet ihm Gott den ganzen Dreck auch nicht an, sondern sieht, dass er sich als Belagerter doch immerhin um Reinheit bemüht, so gut er kann. Denn wenn mein Haus offene Fenster hat, und jemand wirft mir Mist und Müll hinein – was kann ich dafür? Erst wenn ich die Dinge dulde und sie im Zimmer liegen lasse, mache ich sie mir zu eigen. Und erst dann, wenn ich mich damit anfreunde und arrangiere, wird Gott es mir vorwerfen. Denn dass ich in Versuchung gerate, ist in dieser Welt unvermeidlich. Und dass ich der Versuchung manchmal erliege, wird Gott kaum überraschen. Doch wenn ich heimlichen Spaß dran habe und gar nicht mehr dagegen kämpfe, sondern mich gar absichtlich in Versuchung bringe, weil ich ihr so gern erliege, dann ist das etwas völlig anderes. Denn dann wurde mir der Schmutz nicht durchs Fenster ins Zimmer geworfen, sondern es ist mein eigener, der von innen kommt. Und dann lässt Gott auch keine Ausreden mehr gelten. Denn wenn ich heute bloß um Vergebung bitte, um morgen wieder feste sündigen zu können, durchschaut Gott das und entzieht mir seine Gnade. Jenen aber, die wirklich gern rein wären, kann er nachsehen, dass sie es noch nicht sind. Und denen steht er auch tatkräftig bei. Denn Gerson hat Recht: Solange wir in die Versuchung nicht einstimmen, gehe auch unsere Liebe zu Gott nicht verloren. Solange unser Wille in das Böse nicht einwilligt, hat der Teufel nicht gesiegt. Und solange uns unreine Gedanken nicht zur Lust, sondern zur Last sind, werden sie uns auch nicht als Sünde angerechnet. So können wir zwar nicht verhindern, dass jene Tiere immer wieder eindringen und in unserem Kopf und Herz ihr Unwesen treiben: der eitle Pfau, die geizige Kröte, die neidische Schlange, der zornige Tiger, die träge Schildkröte, das verfressene Schwein, der unkeusche Bock und der Lügenteufel. Aber soviel muss bei einem Christen doch klar sein, dass er ihr Treiben nicht billigt, sondern verabscheut, sie nicht noch füttert, sondern bekämpft, und ihnen das Heimatrecht in seinem Herzen lebhaft bestreitet. Denn Gottes Wunsch und Absicht ist, zwischen der Person des Sünders und seiner Sünde zu unterscheiden. Langfristig will Gott die Person von ihren Lastern trennen, um die Laster zu verwerfen und die Person zu retten. Gott will uns bejahen, kann aber unser Böses nicht bejahen. Er will unser Böses verneinen, ohne uns zu verneinen. Doch diese Unterscheidung funktioniert nur, wenn der Mensch sie im Glauben mitvollzieht, und statt sich mit seinen Fehlern zu identifizieren, sich von ihnen distanziert. Und das heißt: ich kann mit Gott nicht einig sein, wenn ich mit ihm nicht einig bin in der Ablehnung meiner Sünde. Ich kann mit ihm nicht einig sein, wenn ich nicht verabscheue, was er an mir verabscheut. Ich kann mit ihm nicht einig sein, wenn ich seinem Urteil nicht recht gebe, mit dem er mein Böses verdammt. Und darum soll ich mit meinen Fehlern auch keinen Frieden schließen oder mich mit ihnen arrangieren.

Ich muss das so betonen, weil heute von Seiten psychologischer und esoterischer Lebensberatung das genaue Gegenteil empfohlen wird. Sie hören da ständig, dass sie sich mit all ihren Schwächen selbst annehmen und lieben sollen. Man ermutigt sie, dass sie sich ihre Fehler selbst verzeihen, auch mit ihren Schatten Frieden schließen und sich für nichts mehr schämen. Man empfiehlt ihnen, ihre dunkle Seite zu integrieren, weil sie angeblich zu ihnen gehört und zur ganzheitlichen Heilung bejaht, akzeptiert und ausgelebt werden muss. Man erklärt, dass die inneren Kämpfe erst aufhören, wenn man keinen Anteil der eigenen Person mehr ablehnt. Doch das ist Bockmist. Denn nach Jesu Wort sollen sie durchaus etwas an sich selbst hassen. Dasjenige nämlich, was Gott widerstrebt. Und wenn ihre inneren Kämpfe schon in diesem Leben aufhörten, würde das bloß bedeuten, dass sie geistlich bereits tot sind. Denn diesseits des Grabes erreichen wir keine Reinheit. Und also darf auch das Ringen um Reinheit nicht enden. Denn wenn wir uns mit dem anfreunden, was Gott an uns hasst, haben wir uns von ihm getrennt. Vergessen sie also bitte jene Lebensberater aus der Psycho-Ecke, die ihnen empfehlen, sich selbst samt ihren dunklen Seiten zu lieben und anzunehmen. Denn nicht alle Anteile ihrer Person sind es wert, ausgelebt zu werden. Fragen sie mal ihre Angehörigen – die wissen das! Man schließt auch keinen Frieden mit dem, was die eigene Seele vergiftet. Und sich selbst zu vergeben, wenn Gott es nicht tut, ist reiner Unfug. Darum: schämen wir uns ruhig. Denn wer sich schämt, hat immerhin noch ein Gewissen! Und wer sich wehrt, ist noch am Leben! Unsere dunklen Seiten aber sind nicht dazu da, integriert, sondern überwunden zu werden. Und wenn das bedeutet, dass wir bis an Lebensende mit uns selbst in erbittertem Streit liegen, dann sind wir berufen, diesen Streit zu führen. Jesus sagt in der Bergpredigt, dass es besser sei, sich von einem Körperteil zu trennen, das uns in Versuchung führt, als zusammen mit diesem Körperteil in der Verdammnis zu landen. Und dasselbe gilt zweifellos von seelischen Anteilen unsrer Person. Denn wer wäre so närrisch, das zu hegen und zu pflegen, was ihn umbringt? So will ich nicht zu hoch greifen und von ihnen eine Reinheit fordern, die ich selbst nicht hinbekomme. Wie man „reinen Herzens“ wird, muss ihnen ein anderer erklären! Aber das sage ich deutlich, dass sie an sich selbst verwerfen sollen, was Gott an ihnen verwirft. Und dass sie – wenn sie schon nicht aufhören können, ein Sünder zu sein – wenigstens ein unfreiwilliger und widerstrebender, seine Lage betrauernder Sünder sein sollen. Gewiss können sie nicht verhindern, dass der Feind ihnen böse Gedanken eingibt. Aber sie können sie augenblicklich von sich weisen. Sie können nicht verhindern, dass sie böse Gelüste haben. Aber sie können sich dessen zumindest schämen. Sie können nicht verhindern, dass Hassgefühle in ihnen aufsteigen. Aber sie können Gott sofort bitten, sie wegzunehmen. Denn das ist nicht zu viel verlangt! Vielleicht können wir nicht durch eigene Kraft heraus aus unsrer Sünderhaut. Aber wer anfängt, sich darin wohlzufühlen, hat sein Schicksal besiegelt. Darum: Lassen wir im Kampf nicht nach, bevor er wirklich beendet ist. Und hören wir nicht auf, Gott um jene Reinheit zu bitten, die wir selbst nicht hinbekommen – so wie es der Beter des 51. Psalms tut: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir“ (Ps 51,12-13).

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Virgin in Adoration

Quentin Massys (and Studio) (Holland, Louvain, 1465/6 - 1530),

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