Staat

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Was hat Glaube mit Politik zu tun? 

Hat Glaube mit Politik zu tun? Sollte sich die Kirche da nicht lieber heraushalten? Die Forderung ist berechtigt, soweit es das politische Tagesgeschäft und das Parteiengezänk betrifft. In der Tat ist Christi Reich nicht von dieser Welt. Und doch sind wir als Christen nicht anders als andere Menschen in das gesellschaftliche Leben verwickelt und von politischen Entwicklungen betroffen. Wir können gar nicht anders, als uns eine Meinung zu bilden. Und wir dürfen das sogar tun unter Berufung auf die Heilige Schrift. Denn wer das Neue Testament kennt, weiß, dass schon die Apostel über das Verhältnis des Christen zum Staat nachdachten. Paulus hat im 13. Kapitel des Römerbriefes ausführlich die Einstellung des Christen zur Staatsgewalt beschrieben. Und wenn seine Worte auch nicht in unsere Zeit zu passen scheinen, meine ich doch, dass sich die Beschäftigung damit lohnt. Denn wir stoßen dabei auf Aspekte des politischen Lebens, die schon seit langem völlig aus dem Blick geraten sind. Paulus schreibt:

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. Denn vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.“ ( Röm 13,1–7 )

Wer sich in der deutschen Geschichte auskennt, wird bei diesen Worten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen – und manchem wird die Zornesröte ins Gesicht steigen. Denn gerade die deutsche Geschichte ist voller Beispiele dafür, welches Unheil aus bedingungslosem Gehorsam und Obrigkeitshörigkeit erwachsen kann. Es ist nicht zu leugnen: Der paulinische Satz, alle Obrigkeit sei von Gott, ist tausendfach missbraucht worden. Kaiser, Könige und Tyrannen haben behauptet, sie seien „von Gottes Gnaden“, was sie sind. Und viele einfache Leute, die es glaubten, meinten ihrer Obrigkeit blinden Gehorsam zu schulden. Sie haben dann unschuldiges Blut vergossen, sinnlose Kriege geführt und ihr eigenes Leben verloren – und das alles im Namen Gottes, der anscheinend alle Obrigkeit legitimiert und autorisiert. Schlimm ist das. Es fragt sich nur, wer daran schuld ist. Ist Paulus schuld, weil er den Christen empfahl, der Obrigkeit zu gehorchen? Oder sind die schuld, die solchen Gehorsam zum Bösen missbrauchten?

Es lohnt sich, genau nachzubuchstabieren, was Paulus sagen will. Zu seinen Voraussetzungen gehört zunächst einmal eine pessimistische Beurteilung der menschlichen Natur. Paulus geht davon aus, dass das menschliche Herz dem Bösen zuneigt und nicht dem Guten. Die Bibel lehrt es nämlich so, und die Erfahrung bestätigt es: Menschen sind auf ihren persönlichen Vorteil aus. Und wenn sie es gefahrlos tun können, zögern sie nicht, einander auszubeuten, zu berauben, zu vergewaltigen und zu unterdrücken. Mit anderen Worten: Gäbe es keine staatliche Ordnung, würden die Menschen übereinander herfallen wie Wölfe. Denn dann wäre ihrem Egoismus keine Schranke gesetzt, nichts würde die Schwächeren vor den Stärkeren schützen – und die Macht des Bösen würde sich ungehindert austoben. Da gäbe es kein Recht als nur das Faustrecht und keine Kultur als nur die Kultur des Eigennutzes – hässliche Ausbrüche der Sünde würden die Erde überschwemmen wie eine Flut, an der am Ende das Leben ersticken müsste. Weil Gott dem aber nicht tatenlos zuschaut, weil er seine Schöpfung vor ungehemmten Ausbrüchen des Bösen schützen will, hat er die staatliche Ordnung geschaffen. Tatsächlich ist der Staat keine Erfindung des Menschen, sondern eine Einrichtung, die von Gott kommt, und der Gott eine Aufgabe zugewiesen hat: Der Staat soll Gottes Dienerin sein „uns zugute“ – wie Paulus es sagt –, indem er durch Recht und Gesetz dem Bösen wehrt und das Gute schützt. Freilich (das weiß Paulus auch): durch äußere Sanktionen ändert man nicht die Herzen der Menschen. Die Wurzel des Übels liegt in unseren Seelen, wohin der Arm des Staates nicht reicht. Dort kann sich nur durch Gottes Wort etwas ändern. Aber der Staat kann immerhin das Böse, das im Menschen liegt, an der freien Entfaltung hindern. Der Keim des Bösen wird dadurch nicht abgetötet und der böse Mensch wird dadurch nicht besser. Aber wenn ein Gewalttäter schon Gott nicht fürchtet, so soll er wenigstens die irdische Gerechtigkeit fürchten. Und wenn er das Böse nicht lässt aus Liebe zum Guten, so soll er es wenigstens lassen aus Angst vor der Strafe. Es ist also die Aufgabe des Staates, das Gute zu schützen und das Böse zu strafen. Weil er das tut und wenn er das tut, ist der Staat eine göttliche Ordnung und Dienerin Gottes. Wenn er seine Aufgabe erfüllt, erwächst dem Staat daraus die besondere Würde, Gottes Instrument zu sein. Und dann steht hinter einer Regierung auch nicht nur die Autorität des Volkes, das diese Regierung gewählt hat. Sondern wenn diese Regierung das Gute schützt und das Böse straft, dann steht hinter ihr zugleich die Autorität Gottes. Solcher staatlicher Ordnung schuldet der Christ tatsächlich Respekt und Gehorsam, weil es von Gott gewollte Ordnung ist.

Nur darf man niemals vergessen, dass diese Autorität eine Bedingung hat. Respekt und Gehorsam schuldet der Christ nämlich nur der Staatsordnung, die den von Gott gesetzten Auftrag, das Gute zu schützen und das Böse zu strafen, auch tatsächlich wahrnimmt. Es ist also eine Staatsordnung nur solange von Gott legitimiert, als sie tatsächlich der Flut des Bösen einen Riegel vorschiebt. Wenn eine Regierung stattdessen das Böse duldet oder sogar fördert, wenn sie Anordnungen trifft, die gegen Gottes Gebote verstoßen, wenn sie die Rechtschaffenen und Gottesfürchtigen nicht schützt, sondern verfolgt – dann hat sie ihren Anspruch verspielt „Gottes Dienerin“ zu heißen. Und dann kann Widerstand zur Christenpflicht werden. Denn auch das sagt uns das Neue Testament unmissverständlich: Wenn sich eine Staatsordnung so sehr von Gottes Gebot entfernt, dass man nur entweder den Menschen oder Gott gehorchen kann, dann muss man Gott mehr gehorchen als den Menschen. Kommt ein Christ also zu der Überzeugung, dass der Staat, in dem er lebt, nicht mehr ein Schutzwall gegen das Böse, sondern ein Instrument des Bösen ist, so kann der bewaffnete Widerstand gegen die Organe dieses Staates die Konsequenz sein. Denn es ist wohl Gottes Wille, dass es gute Obrigkeit gibt. Aber nicht jede Räuberbande, die sich Regierung nennt und Macht ausübt, ist deshalb schon „gute Obrigkeit“. Widerstandskämpfer wie Dietrich Bonhoeffer befinden sich daher keineswegs im Konflikt mit dem, was Paulus in Römer 13 schreibt. Denn der nationalsozialistische Staat hätte denselben Auftrag gehabt, wie jeder andere: Das Leben der Bevölkerung zu schützen. Tatsächlich aber hat man einen Teil der Bevölkerung in Vernichtungslagern umgebracht und einen anderen in sinnlosen Kriegszügen verheizt. Dieser Staat erfüllte nicht die Funktion, die er haben sollte. Er zerstörte die Ordnung, die allein ihn hätte legitimieren können. Hier galt es darum, Gott mehr zu gehorchen, als den Menschen – und es ist bedauerlich, dass nur ein gewisser Teil der Kirche den Mut dazu fand.

Das ist nun lange her und die heutige Situation ist kaum zu vergleichen. Wir leben nicht mehr in einer Monarchie und nicht im totalitären Staat. Und es käme einem Bundeskanzler wohl kaum in den Sinn, sich als Instrument der göttlichen Vorsehung darzustellen, wie Hitler das so gerne tat. Unsere Situation ist auch mit der des Paulus nur schwer zu vergleichen. Und trotzdem bleibt seine Mahnung im Grundsatz gültig – und ist im Blick auf die verbreitete Politikverdrossenheit sogar hoch aktuell. Denn wenn wir der gegenwärtigen Staatsordnung zubilligen, dass sie (wenigstens im Großen und Ganzen) das Gute fördert und das Böse bestraft, das rechtschaffene Leben schützt und das Verbrechen bekämpft, dann schulden wir ihr Loyalität, Gehorsam und auch Engagement. Das heißt beileibe nicht, dass man als Christ mit allem einverstanden sein müsste, was die Regierung tut. Aber es bedeutet, dass man den Repräsentanten der Staatsordnung, vom Minister hinab bis zum Streifenpolizisten mit Respekt begegnet. Denn ob diese Leute es wissen oder nicht – sie vertreten eine von Gott gewollte Ordnung. Und das verleiht der Staatsordnung eine Autorität, die auf mehr gründet, als nur auf den Mehrheitsverhältnissen bei der letzten Wahl. Es begrenzt aber zugleich diese Autorität. Denn Autorität kommt der staatlichen Ordnung nur so lange zu, als sie ihren Auftrag, im Sinne des Paulus „gute Obrigkeit“ zu sein, erfüllt. Als Christen begleiten wir daher das politische Geschehen nicht nur mit Loyalität, sondern auch mit kritischer Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Denn wenn es einer Regierung einfällt, Gesetze zu erlassen, denen man nicht folgen kann, ohne Gottes Gebot zu übertreten, so gilt es, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Ja: Man muss sogar dann Gott mehr gehorchen als den Menschen, wenn diese Menschen über eine demokratisch legitimierte parlamentarische Mehrheit verfügen. Denn göttliches Recht wiegt in jedem Falle schwerer als menschliches Recht. Ein solcher Konflikt ist zum Glück ein Grenzfall. Aber wenn er eintritt, bringt er alle, die Demokraten und Christen zugleich sein wollen, in große Schwierigkeiten.

Darum verpflichtet uns das 13. Kapitel des Römerbriefes nicht nur zur Loyalität gegenüber einer „guten Obrigkeit“ und zum Widerstand gegenüber „schlechter Obrigkeit“. Sondern es verpflichtet uns auch, den Übergang von der einen zur anderen zu verhindern – indem wir nach Möglichkeit dazu beizutragen, dass aus guter Staatsordnung nicht schlechte wird. Mit anderen Worten: Christen sollen sich politisch engagieren – und sollen die Staatsmacht keinesfalls denen überlassen, die nicht nach Gottes Willen fragen. Denn schließlich gibt es keinen Winkel dieser Erde und keinen Aspekt unseres Lebens, der nicht von Gott beansprucht würde. Und nichts auf unserer Welt ist so weltlich, dass Gott darüber nicht Herr sein müsste…

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Henry III

Anonym / National Trust, Public domain, via Wikimedia Commons