Dankbarkeit

Dankbarkeit

„Undank ist der Welt Lohn“ – so sagt es ein geläufiges Sprichwort. Und der Blick ins Neue Testament zeigt, dass damit kein neuer Trend, sondern einen alter Menschheitsfehler beschrieben wird. Denn Undank erfährt auch schon Jesus, als er zehn Aussätzigen heilt (Lukas 17,11-19). Erst jammern sie und rufen: „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!“ Als er sie daraufhin aber heilt, und der Priester amtlich bestätigt, dass sie gesund sind, kann sich von den Zehn nur ein Einziger entschließen, zu Jesus zurückzulaufen und ihm zu danken, während die neun Anderen einfach ihrer Wege gehen. Sie haben bekommen, was sie wollten, und schon sind sie an Jesus nicht mehr interessiert. Er hat getan, was sie sich erhofften, und ist gleich wieder vergessen. Denn „Undank ist der Welt Lohn“. Und wer davon hört, ist gern bereit, sich über jene neun Männer zu empören. Aber Hand aufs Herz: wären wir denn selbst umgekehrt, um Dank zu sagen? Ich bin mir da nicht so sicher. Wenn ich mir vorstelle, eine hässliche Krankheit hätte mich um viele Lebensjahre betrogen, und die Ansteckungsgefahr hätte mich von aller Geselligkeit, von meiner Familie und allem Schönen ausgeschlossen – wäre da im Moment der Heilung nicht mein einziger Gedanke, loszulaufen und alles nachzuholen, was ich als Aussätziger nicht durfte? Wollte ich nicht als erstes meine Lieben wieder in die Arme schließen, damit sie meine Freude teilen? „Danke“ zu sagen, hätte vielleicht nicht die oberste Priorität! Und je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich ganz allgemein nicht gern „Danke“ sage. Sie vermuten vielleicht, da sei in meiner Erziehung etwas schiefgelaufen. Ich aber kann ohne Umschweife bestätigen, dass dem so ist. Denn ich erinnere mich, dass ich als Kind von diversen Tanten, die ich nicht mochte, Geschenke bekam, die ich nicht wollte – und doch genötigt wurde, Dank zu bekunden. „Wie sagt man...? Sei ein braver Junge, geh zur Tante und bedanke dich! Freue dich, sonst ist die Tante traurig! Sag „Dankeschön“ und gib ihr einen dicken Kuss!“ Mir war‘s zuwider, ein Gefühl zu heucheln, das ich nicht empfand. Und doch sollte ich so tun, als hätte man mir einen Herzenswunsch erfüllt! Man ließ mich spüren, ich sei auch für unerbetene Geschenke zu Dank verpflichtet und stünde nun in der Schuld jener Tante. Doch hat der Druck nur das Gegenteil erreicht. Denn Dankbarkeit ist eine Pflanze, die verdorrt, wenn man ihr Wachstum erzwingen will (Jeremias Gotthelf). Und wer oft genug gezwungen wurde, reagiert irgendwann allergisch auf das manipulative Spiel mit der Dankesschuld. „Wie denn, dein Essen schmeckt dir nicht? Denk mal an die Kinder in Afrika, die Hunger leiden, sei dankbar und iss dein Gemüse auf!“ „Wie, deine Eltern haben vor lauter Arbeit nie Zeit für dich? Sei dankbar, denn sie schuften, damit du es mal besser hast!“ „Wie, du hast keine Lust deine Hausaufgaben zu machen? Sei froh, dass du überhaupt zur Schule gehen und etwas lernen darfst!“ So legt man jemandem Dankesschuld als moralische Last auf die Seele oder als Schlinge um seinen Hals. Und wer sich auf diese Kunst versteht, macht sein Gegenüber durch erwiesene „Gefälligkeiten“ gefügig. Denn hat der andere etwas von mir angenommen, das des Dankes wert ist – wie könnte er sich anschließend nicht erkenntlich zeigen? So mancher verteilt Wohltaten wie billige Kredite, um sie im geeigneten Moment wieder zurückzufordern. Denn Dank „schuldet“ man. Und wer dem anderen erst mal verschuldet und verpflichtet ist, muss gute Miene machen. Dankend muss er anerkennen, dass er empfing, was er nicht entbehren wollte – und sich auch nicht nehmen konnte. Indem er dankt, gibt er zu, dass ihm eine Wohltat nicht als verdienter Lohn, sondern „gnadenhalber“ zuteil wurde. Dankend bekundet er, dass er auf diesen Gunsterweis weder Recht noch Anspruch hatte. Er steht also künftig in der Schuld des Überlegenen, von dessen Wohlwollen er profitieren durfte. Und in diese Lage zu kommen – darüber soll man sich freuen? Dankend gestehe ich, dass ich gebraucht habe, worüber ich nicht verfügte. Ich war auf Hilfe angewiesen – und das soll ein gutes Gefühl sein? Der andere war so frei, dass er mir nichts hätte geben müssen. Ich aber war nicht so frei, seine Gabe abzulehnen – und diese abhängige Stellung im Dank auszudrücken, soll mir ein inneres Bedürfnis sein? Nennen sie es ruhig „schlechte Erziehung“. Aber an diesem Punkt verstehe ich den „Undank“ der Welt sehr gut und will mich lieber mit dem bescheiden, was ich habe und womit ich mich selbst versorgen kann, um dann im Zustand der Autarkie aller Notwendigkeit zum Bitten und Danken enthoben zu sein! Kennen wir nicht Eltern, die ihre Kinder mit dem Hinweis quälen, sie müssten ihnen ewig dankbar sein? „Denk dran, was wir alles für dich getan haben!“ Und tun das nicht auch Ehepaare untereinander? „Denk nur, was ich alles für dich aufgegeben habe! Wo wärst du ohne mich?“ Manch einer gewährt großzügig Vorteile und weiß schon im selben Moment, in welcher Währung er sich das demnächst vergelten lässt. Mancher verpflichtet sich durch sein Entgegenkommen Mitarbeiter und Kollegen, weil niemand seinem Freund und Gönner auf die Finger schaut. Und mancher ergötzt sich auch am bloßen Gefühl seiner Macht, weil andere zu arm sind, um seine Geschenke ablehnen zu können. „Du meine Güte“, werden sie nun sagen, „der wittert ja überall Hintergedanken! Gibt‘s nicht auch Wohltaten ohne Berechnung?“ Ich will das nicht leugnen. Aber jener tiefe Argwohn, jener Vorbehalt gegen Dank und Dankesschuld, hat sich nicht nur bei mir festgesetzt. In dieser Hinsicht sind viele „gebrannte Kinder“. Sie möchten lieber niemandem zu Dank verpflichtet sein! Und daran lässt sich ablesen, wie sehr die sündige Menschheit den Dank – der ursprünglich etwas Gutes und Schönes war –  durch manipulativen Gebrauch verdorben hat. Spontaner Dank ist eine fröhliche und unschuldige Sache – na klar! Wir nutzen ihn aber auf berechnende Weise, um Abhängigkeit zu schaffen, und machen so aus Gunsterweis und Dank eine Währung, mit der wir Handel treiben. Was Gott gut geschaffen hat, wird bösen Zwecken unterworfen, wird verdorben und beschmutzt – bis man in jeder Freundlichkeit einen versteckten Widerhaken vermutet, den man erst spürt, wenn man den Köder geschluckt hat. Solcher Argwohn ist allzu oft begründet. Und vielleicht erklärt das sogar, warum von den zehn Aussätzigen nur einer zurückgeht, um Jesus zu danken. Vielleicht waren die anderen in Sorge, Jesus könnte von ihnen doch noch eine Gegenleistung fordern! Vielleicht haben sie allzu menschlich von ihm gedacht und sind darum mit ihrer Gesundheit weggelaufen wie mit einer Beute! Die Bibel erklärt uns das nicht. Sie lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass jene neun Männer Jesus Unrecht taten. Denn der hatte es gewiss auf keine Gegenleistung abgesehen. Jesus tut das Gute bloß, weil er will, dass es geschieht. Er handelt so uneigennützig wie der himmlische Vater, der die Sonne scheinen lässt über Gute und Böse. Und wir lesen darum auch nicht, dass Jesus die neun Undankbaren zurückgerufen oder gestraft hätte. Er hängt ihnen die Krankheit nicht wieder an den Hals, sondern lässt sie ihrer Wege ziehen. Denn wenn er sie erst ans Danken erinnern müsste, kann er auf diesen Dank gut verzichten. Jesus geht wenig verloren, wenn die Geheilten seine Wohltat nicht würdigen. Denn in erster Linie wollte er, dass sie gesund, und nicht, dass sie dankbar würden. Aber geht nicht den Undankbaren durch ihren Undank etwas verloren? Ihre Beziehung zu Jesus ist offenbar gestört. Sie bricht dort ab, wo sie hätte beginnen können. Und jenen Männern entgeht damit viel. Denn Jesus hätte nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Seele heilen können. Aber es kam ja nur der eine zurück, der das Danken noch nicht verlernt hatte. Der kam offenbar nicht, weil‘s ihm eine Pflicht, sondern weil’s ihm ein Bedürfnis war. Und nur zu ihm sagt Jesus: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Der Dankbare findet mehr als Heilung. Er findet sein Heil – und ist so gleich doppelt gesegnet. Die Undankbaren aber schaden weniger Jesus als sich selbst. Denn sie nehmen nur den zeitlichen Vorteil der Gesundung mit – und lassen den ewigen Vorteil liegen. Von einer Beziehung zu Jesus hätten sie langfristig viel mehr gehabt. Sie verpassen eine große Chance. Und das zwingt uns, in Sachen Dankbarkeit noch einmal neu anzusetzen. Denn wenn sie auch vielen durch manipulativen Missbrauch vergällt und verleidet ist, geht doch dem, der nicht mehr dankt, eine Menge verloren. Und wenn ich es auch nach wir vor hasse, irgendwem danken zu „müssen“, kann doch eine Chance darin liegen, wenn ich danken „darf“, weil das sowohl im Dankenden als auch im Bedankten gute Kräfte freisetzt. Wer dankt, hat erkannt, dass ihm ein anderer etwas Gutes tat, zu dem er nicht verpflichtet gewesen wäre (1.) und wendet sich dieser Person mit einem positiven Gefühl der Verbundenheit zu (2.), um seiner Wertschätzung Ausdruck zu verleihen (3.). Das ist aber für den Dankenden hilfreich, weil‘s ihm vor Augen führt, dass in dieser bösen Welt das Gute noch nicht ganz erstorben ist (1.). Es ist für beide Seiten hilfreich, weil es sie aus Fremdheit und Distanz in eine freundliche Beziehung bringt, aus der noch mehr Gutes erwachsen kann (2.). Und es ist für den Bedankten hilfreich, weil ihm der Erfolg seines guten Impulses rückgemeldet und dieser damit anerkannt und verstärkt wird (3.). Er kann sich darüber freuen, dem anderen eine Freude gemacht zu haben. Er bekommt bestätigt, dass er zu etwas gut ist in der Welt. Und er kann sich trösten, bei so manchem Fehlgriff doch auch mal etwas richtig gemacht zu haben. All diese positiven Effekte lassen wir uns entgehen, wenn wir nicht danken! Und überdies richten wir bei unserem wohlwollenden Gegenüber Schaden an. Denn jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr mangelnde Anerkennung einen Menschen verletzt, und wie ihm der Undank die Motivation zu weiteren guten Taten raubt. Wenn wir uns Mühe geben jemandem zu helfen, der es nicht wertschätzt, erleben wir das als Kränkung und Enttäuschung. Wir wollten Freude bereiten, ernten nicht mal ein Lächeln – und schon ist die schwache Flamme unserer Nächstenliebe wieder erloschen. Wir rufen „Undank ist der Welt Lohn, dem helfe ich nie wieder!“ – und schon versiegen die guten Kräfte, die mit etwas Ansporn noch weit getragen hätten. Mein Undank verbittert also und frustriert. Ich gönne dem anderen nicht die Genugtuung, dass er zu etwas gut ist in der Welt. Ich ignoriere die Begabungen, mit denen er mir aus freien Stücken dienen wollte. Ich ersticke die gute Beziehung, die daraus hätte erwachsen können, im Keim. Und das alles nur aus Sorge, ich könnte ihm anschließend verpflichtet sein – oder weil ich zu stolz bin, fremde Hilfe anzunehmen? Das einer ungezwungen dem anderen beisteht, ist selten genug! Und wir sollten es mit Schweigen übergehen? An uns allen ist genug zu tadeln! Und ein verdientes Lob sollte unter den Tisch fallen? Undank vergiftet und zerstört Beziehungen! Und wir sollten erlauben, dass er zur Gewohnheit wird? Die eingangs genannten Vorbehalte gegen das Danken sind damit nicht aus der Welt. Und wenn einer behauptet, er wolle mir „gratis“ etwas ganz Tolles schenken, werde ich weiterhin misstrauisch sein. Aber der Missbrauch des Dankens darf doch den rechten, gottgewollten Gebrauch nicht verhindern. Denn schließlich ist wechselseitige Hilfe zwischen den Geschöpfen von Gott gewollt. Einer soll dem andern zum Segen sein! Und darum müssen wir wieder lernen, auf eine spontane und unschuldige Weise „Bitte“ und „Danke“ zu sagen. Seien wir deshalb nicht naiv – das ist nicht gemeint! Aber bemühen wir uns, nicht in jeder Wohltat gleich eine Falle zu vermuten. Und versuchen wir auch unsererseits, Wohltäter ohne Hintergedanken zu sein. Tun wir Gutes, um des Guten willen, ohne dafür große Resonanz zu erhoffen. Und seien wir gerade dort großzügig, wo keine Gegenleistung zu erwarten ist. Fordern oder erzwingen wir keinen Dank, wenn er nicht von selbst kommt. Und kritteln wir an unseren Mitmenschen auch nicht ständig herum, sondern bestätigen wir‘s ihnen fröhlich, wenn sie etwas Gutes getan haben. Seien wir nicht sparsam mit der Anerkennung, nach der wir uns doch selbst sehnen. Und nehmen wir uns Gott zum Vorbild, der seinen Segen jeden Tag aufs Neue mit beiden Händen ausstreut, obwohl er wahrlich wenig Resonanz bekommt. Versuchen wir nicht undankbar zu sein, denn der Undank verstopft Brunnen der Güte, die sonst milde fließen könnten. Wenn wir aber selbst Undank erfahren, soll uns das nicht beirren. Sondern so, wie wir um des Dankes willen nicht anfangen Gutes zu tun, sollten wir um des Undanks willen nicht damit aufhören. Nicht dass man uns dankt, ist entscheidend, sondern dass wir Gutes bewirken können. Wird uns aber reicher Dank zu teil, soll er uns nicht stolz machen, sondern am besten reichen wir diesen Dank gleich weiter an unseren Gott, dem zuletzt aller Dank gebührt. Er hat uns nie etwas geschuldet, und obwohl wir tausendmal undankbar waren, hat er uns doch alles geben, was wir haben. Er befreie uns nun auch von aller Bitterkeit und Berechnung und gebe unserem Dank die Unschuld zurück!

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Zesłaniec - prawa część tryptyku

Jacek Malczewski, Public domain, via Wikimedia Commons