Menschenwürde

Menschenwürde

Die „Menschenwürde“ ist in aller Munde. Und man trifft auch keinen, der seine Würde gern verlöre. Würdeloses Benehmen stößt uns ab. Und wenn jemand „menschenunwürdig“ behandelt wird, protestieren wir. Das Grundgesetz sagt sogar, die Würde des Menschen sei „unantastbar“, sie dürfe nicht verletzt werden. Und alle sind sich darin einig! Nur worin sie eigentlich besteht, diese Würde, das sagt einem keiner. Und wenn man nachfragt, kommt nur der Hinweis, es habe sehr viel mit Selbstbestimmung zu tun. Man hört, allein selbstbestimmtes Leben sei menschenwürdiges Leben, denn erst der autonome Gebrauch der Freiheit mache den Menschen zum Menschen. Und unsere Gerichte folgern daraus neuerdings, jeder Mensch dürfe sich umbringen, weil der Versuch ihn zu hindern seine Selbstbestimmung und somit seine Würde beschränkte. Ein höheres Gut als Autonomie scheint es gar nicht mehr zu geben. Und viele empfinden auch dementsprechend, dass es für sie ganz unwürdig sei, fremdbestimmt zu werden. Schon wenn sie krankheitsbedingt auf Hilfe angewiesen sind, erleben sie das als schwere Kränkung. Sie meinen, abhängig zu sein, nähme ihnen die Würde. Aber stimmt das? Ist wirklich nur selbstbestimmtes Leben „menschenwürdig“? Mir scheint da ein großes Missverständnis vorzuliegen. Und man kann es leicht durchschauen. Denn einerseits gibt es viel fremdbestimmtes Leben, das in Würde gelebt wird. Und andererseits kann man gerade durch Selbstbestimmung seine Würde verlieren. Der erste Punkt dürfte jedem einleuchten, wenn er an Säuglinge denkt, an geistig schwer Behinderte oder an pflegebedürftige Senioren mit Demenz. Denn mit deren Selbstbestimmung ist es nicht weit her. Und doch spricht ihnen niemand die Würde ab. Ein Säugling ist auf sich gestellt nicht lebensfähig. Die Autonomie eines geistig schwer Behinderten hat sehr enge Grenzen. Und wer am Ende seines Lebens mental abbaut, kann seinen Willen vielleicht nicht mal mehr artikulieren. Andere treffen für ihn Entscheidungen. Und er selbst kann froh sein, wenn er noch seine Ausscheidungen kontrolliert – viel mehr ist es nicht. Und doch: wenn solche Menschen gut und liebevoll gepflegt werden, leidet dann etwa ihre Würde? Und wenn eine Krankheit sie ans Bett fesselt, leben sie dann „würdelos“? Das wird doch wohl niemand behaupten! Der Grad ihrer Autonomie tendiert vielleicht gegen Null – von freier Selbstbestimmung kann keine Rede sein. Und doch: wenn diese Menschen menschlich behandelt werden, bleibt auch ihre Menschenwürde gewahrt. Den umgekehrten Fall gibt’s aber ebenso häufig. Denn wir erleben oft genug, dass sich gesunde Mensch bei voller Selbstbestimmung um die eigene Würde bringen und sich komplett „autonom“ bis auf die Knochen blamieren. Im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte nutzen sie ihre Freiheit, um peinliche und würdelose Dinge zu tun. Doch davon, dass sie „selbstbestimmt“ ihre Würde verspielen, wird’s kein bisschen besser. Stellen wir uns die Frau vor, die einem Mann hinterherläuft und um seine Liebe bettelt, obwohl er sie verachtet, verhöhnt und schlägt. Oder denken wir an den Vater, der sich vor den Augen seiner Kinder betrinkt und sich völlig gehen lässt. Erinnern wir uns an jenen feigen Kapitän, der als erster von seinem havarierten Schiff ins Rettungsboot sprang und die Passagiere zurücklies. Oder betrachten wir eine ältere Frau, die in knappen Kleidern körperliche Reize zur Schau stellt, die sie altersbedingt schon längst nicht mehr hat. Vielleicht fällt uns auch der stolze Moralist ein, der in seinem Hotelzimmer mit Kokain und Prostituierten angetroffen wurde. Sie alle verhalten sich unwürdig! Dass sie dabei aber „selbstbestimmt“ handeln, macht es nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Sie blamieren sich ganz ohne fremde Hilfe und müssen sich trotzdem schämen. Was also hat Selbstbestimmung mit Würde zu tun? Offenbar doch recht wenig! Denn beides stimmt: Man kann weitgehend fremdbestimmt dennoch in Würde leben. Und man kann durch freie Selbstbestimmung seine Würde verspielen. An der Autonomie liegt‘s also nicht. Und das ist gut so. Denn wenn die menschliche Würde daran hinge, dass einer frei über sich selbst verfügt und ihm alle Menschenrechte vollumfänglich gewährt werden – dann hätten in der Vergangenheit all die leibeigenen Knechte und Mägde dieser Welt nie in Würde gelebt. Vor der Emanzipation hätte überhaupt nie eine Frau in Würde gelebt. Und solange Könige herrschten, auch kein einziger ihrer Untertanen. Die mental Zurückgebliebenen hätten dann allesamt unwürdig gelebt. Und die, die unfreiwillig starben, wären auch alle würdelos gestorben. Denn wenn uns jede Abhängigkeit die Würde raubte, kämen wir zu solchen Folgerungen! Doch, mal im Ernst: Kann man nicht auch in Würde abhängig sein und seine Selbstachtung dabei wahren? Nur Gott allein ist „autonom“! Dem Menschen hingegen sind Grenzen gesetzt. Seine Selbstbestimmung endet spätestens dort, wo die des Nachbarn anfängt. Und es ist keine gute Idee, das gleich als Kränkung aufzufassen. Ich schlage darum vor, noch einmal neu anzusetzen und den Begriff der Würde anders zu verstehen. Denn ursprünglich hat er mit Selbstbestimmung gar nichts zu tun. Sondern sprachgeschichtlich hängt die „Würde“ mit dem Begriff des „Wertes“ zusammen. Es ist sprachlich dieselbe Wurzel. Und das macht Sinn. Denn ein „Wert“ ist eben das, was „gewürdigt“ werden will. Und was immer man „würdigt“, würdigt man um seines „Wertes“ willen. „Würdigen“ heißt, einen Wert anzuerkennen und jedes Ding mit der seinem Wert entsprechenden „Wertschätzung“ zu behandeln. Mehr ist also nicht gemeint als Ehre zu geben, wem Ehre gebührt, und keine Ehre dem, dem keine gebührt. Auf einen anderen Menschen bezogen folgt daraus, dass man seine Würde wahrt, wenn man ihn als das behandelt, was er ist: indem man nämlich den Menschen „menschlich“ behandelt. Und seine Würde verletzt man, wenn man ihn stattdessen wie ein Ding, wie ein Tier oder einen bloßen Kostenfaktor, wie ein Lustobjekt, wie Menschenmaterial oder Kanonenfutter behandelt. Auf die eigene Würde bezogen folgt aber, dass man auch den eigenen Wert nicht in Wort oder Tat dementieren darf, indem man sich für etwas hergibt, wofür sich der Mensch „zu schade“ sein sollte. Denn ganz allgemein geht Würde verloren, wo man das Wertvolle in der eigenen oder in einer fremden Person niederen Zwecken unterwirft. Man stellt die Person damit auf eine Stufe, auf die sie nicht gehört. Man benutzt sie, wie ein Vergewaltiger sein Opfer benutzt – nämlich als bloßes Mittel zum Zweck. Und wo ein Mensch sich selbst dazu bereit findet, benutzt zu werden, käuflich zu sein oder unterwürfig wie ein Wurm, da erniedrigt er sich selbst. Denn leider kann man die eigene Person nachhaltiger entehren, als es ein anderer je vermöchte. Ein Mensch kann weniger in sich sehen, als er ist, und dann einwilligen, sich und seine Gaben unwürdigen Zielen zu unterwerfen. Als Betrachter fragt man sich, ob der denn keine Selbstachtung hat! Wenn sie ihm aber wirklich fehlt, ist das nicht nur traurig und schändlich. Sondern es berührt auch direkt sein Verhältnis zu Gott. Denn woher hat der Mensch denn jenen Wert, den es zu würdigen gilt? Woraus leitet er sich ab? Tatsächlich können wir ihn nicht auf die menschliche Vernunft oder Freiheit zurückführen, denn beide sind (und waren immer) sehr begrenzt. Vielmehr ist der Schöpfer die Quelle unseres Wertes, weil er uns dazu bestimmt, seine Ebenbilder zu sein. Und das eines Menschen nicht würdige Gebaren kollidiert mit diesem von Gott verliehenen Wert. Es ist Gottes Setzung, die man da mit Füßen tritt! Denn ob’s einer nun weiß oder nicht: der Schöpfer beruft ihn dazu, Gottes geliebtes Kind zu sein. Das ist eines jeden Menschen wahre Bestimmung. Und die gilt es in der eigenen wie in der fremden Person zu würdigen, auch wenn vielleicht von geistiger Gesundheit oder äußerer Freiheit keine Rede sein kann. Es ist nicht erst die Autonomie, die den Menschen zum Menschen macht. Sondern es ist Gottes Absicht, mit ihm einen Dialog zu führen. Der Höchste schuf den Menschen zum vertrauten Umgang mit dem Höchsten – der Würdigste verlieh uns diese Würde! Denn Gott will mit uns eine Beziehung pflegen, die er so mit Pflanzen oder Tieren nicht haben kann. Und selbst wenn der Mensch diese seine Würde mit Füßen tritt, bleibt sie der gottgegebene Maßstab, an dem er gemessen wird. Denn die Berufung zum Ebenbild Gottes schütteln wir niemals ab. Und wenn’s uns auch genügte, auf einer niederen Stufe zu existieren (wie die „Made im Speck“ vielleicht), so genügte es Gott noch lange nicht. Denn er sieht mehr in uns. Und schon um seinetwillen sollte es uns fern liegen, Leib oder Seele zu prostituieren, sondern ganz im Gegenteil: weil wir wissen, dass Gott uns liebevoll an sein Herz drücken will, sollten wir uns beizeiten ein sauberes Hemd überziehen. Und weil wir zugleich wissen, dass Gott unsere Mitmenschen in dieselbe innige Gemeinschaft beruft, können wir natürlich auch sie nicht niederen Interessen unterwerfen. Denn in jedem Menschen, den wir verachten, schänden wir, was unserem Erlöser kostbar ist. Der sagt im Neuen Testament: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Und muss man sich da schon wundern, dass Gott uns kleine Menschen so wichtig nimmt, staunt man umso mehr über das, was der 1. Petrusbrief der Gemeinde sagt: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht“ (1. Petr 2,9; vgl. auch Mt 19,28; 1. Kor 6,2; Ps 8,5-7). Das ist eine wahrhaft schwindelnde Höhe in die uns Gott erheben will! Und wir kommen uns überhaupt nicht geeignet vor. Doch Gott sieht mehr in uns, als wir momentan sehen. Und wenn es sein Plan ist, mit uns Gemeinschaft zu haben – wie könnten wir da einwilligen, auf einer tieferen Stufe stehen zu bleiben, für die Gott uns nicht vorgesehen hat? Da würden wir tatsächlich „unter Niveau“ leben! Denn dafür, dass wir dem eigenen Bauch dienen, Besitz anhäufen und vor dem Fernseher verblöden, hätte uns Gott nicht so besonders begaben müssen. In Wahrheit schenkte er uns Bewusstsein, damit wir ihn erkennen und verstehen. Er schenkte uns Verstand, damit wir sein Wort hören und begreifen. Und er schenkte uns die Sprache, damit wir seinem Ruf in Lob und Dank antworten können! Wenn wir die kostbaren Gaben aber zweckentfremden, dann ist das, wie wenn man eine Perlenkette benutzt, um einen Müllsack zuzubinden, oder einen massiv goldenen Topf nimmt, um faules Gemüse drin zu kochen. So gibt sich der Mensch für das Falsche her und vergeudet sich an Banales. So kitzelt er bloß seine eigenen Gelüste – und niedere Impulse, über die er herrschen sollte, herrschen über ihn. So verkennt er die Würde, zu der er geschaffen ist! Doch Gott sei Dank wird sie dadurch nicht verloren, sondern nur verschüttet. Man kann sie jederzeit wieder ausgraben und bewusst machen. Denn der zu würdigende Wert des Menschen kam ja von Anfang an nicht vom Menschen her, sondern von dem Gott, der ihn schuf. Und folglich beruht die Menschenwürde nicht auf den Leistungen des Einzelnen, sondern stets auf Gottes liebender Zuwendung zu ihm. Diese Würde kann auch durch große Fehlleistungen nicht verloren gehen. Denn sie gründet nicht in uns, sondern in Gott. Und wer sich das klar macht, versteht auch, wodurch sich echte Würde von Hochmut oder Dünkel unterscheidet. Denn wahre Würde hat nichts damit zu tun, dass einer die Nase hoch trägt und mit ernstem Gesicht herumstolziert – nein! Mit überheblichem Getue fallen bloß die auf, die sich anmaßen, andere Menschen durch irgendwelche Leistungen zu übertreffen. Die wahre Würde dagegen fragt gar nicht nach vermeintlichen Leistungen, sondern ist einfach das Bewusstsein des Wertes, den Gott mir zuerkennt. Da bildet sich der Mensch gerade nicht ein, Gottes Wertschätzung verdient zu haben. Er sieht aber voller Dankbarkeit, dass sie dennoch da ist! Und so kann er sich seiner Würde sehr bewusst und dennoch im besten Sinne demütig sein – während ein dünkelhaft stolzer Narr von Demut nichts wissen will. Tatsächlich kann man viel Würde zeigen, ohne dabei im Geringsten überheblich zu sein, wie man umgekehrt auch sehr überheblich sein kann, ohne Würde zu besitzen. Denn bei der wahrhaft menschlichen Würde geht‘s nicht um das, was wir meinen, aus uns selbst gemacht zu haben, sondern um das, was Gott in uns sieht und aus uns zu machen gedenkt. Der Grund unserer Würde liegt nicht in uns, sondern in Gott! Nur seine besondere Beziehung zu uns ist es, die uns über Stein, Gras und Wurm erhebt. Niemand kann sich etwas drauf einbilden, weil niemand etwas dazu beitrug. Und hinsichtlich der Würde hat auch keiner dem anderen etwas voraus. Wenn einem Menschen aber klar geworden ist, wie liebevoll Gott sich ihm zuwendet, wird er bald versuchen, dieser besonderen Berufung zu entsprechen, und wird ganz von selbst alles unwürdige Gebaren unterlassen, das sich mit seiner Gottesbeziehung nicht verträgt. Weil so einer Gott hat, muss er sein Herz nicht an Irdisches hängen oder seine Seele an irgendwen verkaufen. Und weil Gott mit ihm reden will, füllt er seinen Mund auch nicht mit Lästerei, Bosheit oder Spott. Weil Gott ihn verewigen will, muss er nicht Angst haben, in seinem kurzen Leben etwas zu verpassen. Und weil Gott es gut mit ihm meint, verschwendet er seine Hingabe auch nicht an irdische Güter und Idole. Weil Gott ihn erhebt, hat er‘s nicht nötig, andere unter sich zu treten. Und weil es Gott nicht gefällt, vergiftet er weder sich noch andere mit Hass, Neid oder Gier. Weil Gott die Wahrheit ist, gibt sich dieser Mensch nicht für Lügen her. Und weil er von Gottes Vergebung lebt, gönnt er dieselbe Vergebung auch jedem anderen. Weil Gott für ihn sorgt, muss er sich nicht korrumpieren lassen oder auf Kosten anderer leben. Und weil Gott auf ihn schaut, handelt er jederzeit so, dass er es vor Gott verantworten kann. So findet dieser Mensch dann Frieden in dem Bewusstsein, dass Gott für ihn da ist – und er für Gott. Von Gott begnadet zu sein, macht ihn innerlich ruhig und frei. Und weil Gottes Liebe doch schon da ist, will er sich ihrer wenigstens ansatzweise würdig erweisen, damit sich Gott seines Kindes nicht schämen muss. Das ist ein schönes Ziel! Darum: versuchen wir immer mehr das zu werden, was Gott in uns sieht. Entsprechen wir dem, wozu er uns berufen hat. Lassen wir uns auf die höhere Stufe erheben, auf der Gott uns sehen will. Und achten wir dabei den Wert unseres Mitmenschen genauso wie den eigenen. Denn so gefällt es unserem Gott, der Würde hat und Würde verleiht – und barmherzig auf uns schaut.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Beggar Resting

Giacomo Ceruti, Public domain, via Wikimedia Commons