Gottes Führung

Gottes Führung

Gottes Führung ist in der Bibel ein zentrales Thema. Denn Gott hat Pläne. Und den Menschen, die darin eine Rolle spielen, fehlt der nötigen Überblick. Sie bedürfen der Führung – Gott muss sie leiten. Und er tut das auf sehr verschiede Weise. Manchmal redet er sie einfach an, so wie er mit Abraham und Mose sprach. Oder er führt sie durch die Wüste, indem er eine Feuersäule vorangehen lässt. Gott lenkt und leitet durch die Proklamation seiner Gebote. Er tut es durch Propheten, die sein Wort übermitteln. Manchmal geschieht Führung durch ein Losverfahren (2. Mose 28,30; 1. Sam 10,20ff). Und oft durch Träume oder Visionen. So oder so – das Verhältnis Gottes zu den Seinen entspricht dem Verhältnis eines Hirten zu seiner Herde (Ps 23). Ohne vom Hirten geführt zu werden und seine Stimme zu hören, könnten die Tiere nicht zusammenbleiben, sondern würden sich zerstreuen und – jedes für sich – irgendwo zugrunde gehen. Darum verspricht Jesus auch, seinen Jüngern ein guter Hirte zu sein (Joh 10,1-30). Er will keine einzige Seele verlieren, die ihm der Vater anvertraut hat (Joh 17,12; 18,9). Seine Jünger sollen sicher in Gottes Reich ankommen. Und so lässt er sie bei der Himmelfahrt nicht orientierungslos zurück, sondern verspricht ganz fürsorglich, ihnen den Heiligen Geist zu senden, der sie weiter in seinem Sinne führen wird (Joh 16,13; 14,26). Das ist gut und ist nötig. Denn die christliche Gemeinde kann sich nicht selbst leiten. Sie ist kein demokratisches Gebilde, das über sich selbst bestimmt. Sie hat einen Herrn und kann seinem Ruf nur folgen, wenn er vorangeht und entsprechende Signale gibt. Verschwände der Hirte im Nebel, könnte ihm niemand mehr folgen. Er muss durch sein Vorbild führen, durch seine Stimme, durch Pfiffe, Rufe oder Gesten, durch Träume und Zeichen – oder durch seinen Geist. Vieles wäre denkbar. Aber nur das Letzte, nur die Führung durch Gottes Geist, hat Christus versprochen. Und die Frage ist nun, wie das konkret vor sich geht, dass wir seine Signale empfangen und unter vielen möglichen Wegen den richtigen erkennen. „Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige!“ So bitten schon die Psalmen (Ps 25,4; vgl. Ps 27,11; 86,11; 139,24; 143,10). Und wir können es nachvollziehen. Denn unser Leben nimmt oft einen seltsamen Verlauf, so dass wir nicht mehr wissen, was Gott von uns will. Wir müssen ihn bitten, dass er uns darüber aufklärt. Nur – welche Reaktion erwarten wir dann? Und wie bekommen wir Antwort? Rechnen wir mit Träumen und Visionen, mit Himmelsstimmen oder wegweisenden Engeln, mit eindeutigen „Gefühlen“ oder einer „höheren Eingebung“? In der Bibel scheint das oft ganz einfach zu sein. Gideon etwa erbittet von Gott ein wunderbares Zeichen – und bekommt es prompt. Und weil es ihm nicht genügt, erbittet er zur Bestätigung noch ein zweites Zeichen – und erhält auch das (Ri 6,36-40). Propheten und Apostel stellen Gott direkte Fragen und empfangen klare Anweisungen (vgl. z.B. Apg 9,10-19). Und auch Paulus auf seinen Missionsreisen weiß zuverlässig, was von ihm erwartet wird. Da heißt es einmal, der Heilige Geist habe ihm verwehrt, in der Provinz Asien zu predigen. Der Heilige Geist habe auch nicht zugelassen, dass er nach Bithynien reist. Paulus sei dann aber durch eine nächtliche Erscheinung nach Mazedonien gerufen worden (Apg 16,6-8). Und zu gern würde man ihn fragen, wie er das konkret erlebte. Hat der Apostel einfach „gespürt“, dass er nicht nach Bithynien gehen soll? Gab es ungünstige „Vorzeichen“? War‘s eine plötzliche „Eingebung“? Oder hat er sich mit anderen beraten, so dass auch ganz normale Vernunftgründe eine Rolle spielten? In der Bibel scheint es so einfach, den Willen Gottes zu erfahren! Bei der Nachwahl des 12. Apostels hat man zwei Kandidaten ausgesucht, die Judas, den Verräter, ersetzen konnten. Dann hat man zwischen den beiden gelost – und das Ergebnis als Gottes Entscheidung angesehen (Apg 1,23-26). Aber kann ein Christ das heute nachmachen, wenn er nicht weiß, ob er Petra oder Monika heiraten soll – dass er dann ein Gebet spricht, eine Münze wirft und das Ergebnis als Gottes Entscheidung akzeptiert? Die Apostel hatten einen direkten „Draht nach oben“! Ich aber weiß längst nicht immer, was Gott von mir will. „Führung durch den Heiligen Geist“ wurde der Christenheit zugesagt. Und trotzdem ist die Kirche in ihrer Geschichte auf schreckliche Weise fehlgegangen. Führung ist dem einzelnen Christen versprochen. Doch gibt es neben der Führung auch die Verführung. Und der Frömmste ist nicht sicher davor, eins mit dem andern zu verwechseln. Führung ist zugesagt. Doch in nichts ist der Mensch so geschickt wie im Selbstbetrug. Führung ist versprochen. Aber weil unser Verstand eine Gabe Gottes ist, soll Führung gewiss nicht alles Nachdenken ersetzen. Wie ist das also? Wovon reden wir? Wir reden nicht davon, dass Gottes Vorsehung unser Schicksal lenkt. Denn das tut er bei allen Menschen – mögen sie nun Gläubige sein oder Heiden. Wir reden auch nicht davon, dass Gott Menschen zum Glauben erwählt – Prädestination ist ein eigenes Thema. Sondern wir reden von denen, die bereits im Glauben stehen, und denen der Heilige Geist hilft, ihr Leben so zu führen, dass sie in der Nachfolge Christi an ihrem Hirten „dranbleiben“ und von seinen Wegen nicht abirren. „Führung ist ununterbrochene Liebesleitung Gottes dem Ziel der herrlichsten Bestimmung entgegen“ (Krummacher). Und sie hat es einzig darauf abgesehen, den alten Menschen abzubauen und den neuen Menschen aufzubauen, damit er das Ziel der Erlösung sicher erreicht. Menschen, die zum Heil bestimmt sind, werden vom Heiligen Geist zum Glauben erweckt, werden mit Christus eng verbunden und in dieser rettenden Beziehung so erhalten, dass sie durch alle Höhen und Tiefen des Lebens stets ihrer Vollendung in Gottes Reich entgegengehen. Wenn sie das Schicksal dabei aber ordentlich durchrüttelt, dürfen sie wissen, dass auch das Harte und Schwere zu Gottes Plan gehört – und keinesfalls böse gemeint ist. Ein alter Theologe sagt: „Wenn er dich demütigen wird (...), so geschieht es sicher, weil du zum Hochmut neigst. Wenn er dich arm macht, so zweifle nicht, dass Reichtum dir zu Strick und Falle geworden wäre. Wenn er dir Krankheit sendet, so ist sie nur ein ärztlicher Messerschnitt, der dein Herz von der Welt lösen soll (...). Ja, sei versichert, dass hinter alledem nur der treuste Wille, nur die mütterlichste Fürsorge um dich verborgen ist“ (Krummacher). Wenn‘s aber gar nicht um das „äußere“ Schicksal geht, sondern um Entscheidungen, die wir erst noch treffen müssen – wie steht es dann mit der „inneren“ Führung? Wie hilft uns Gott bei der Wahl des richtigen Weges, wenn wir die Option haben, links oder rechts zu gehen – einen Beruf zu wählen oder einen Lebenspartner, einen neuen Wohnort, einen Job, eine Partei oder eine Therapie? Sollten wir da auf ein „Zeichen“ Gottes warten? Berühmt ist der Fall Augustins, der in einer tiefen Lebenskrise steckte und eines Tages aus dem Nachbarsgarten eine Kinderstimme hörte, die rief „Nimm und lies!“. Augustin verstand das als ein Zeichen des Himmels, lief zu seiner Bibel, schlug eine beliebige Seite auf, tippte mit dem Finger hinein – und fand genau den Vers, der all seine Fragen beantwortete. So etwas kommt vor! Manchen Menschen gibt Gott einen unerwarteten „Schubs“ in die richtige Richtung. Manchmal brennt ein Dornbusch! Und trotzdem würde ich niemandem raten, passiv herumzusitzen und auf ein solches „Zeichen“ zu warten. Denn in der Regel geschieht „Führung durch den Heiligen Geist“ auf weniger spektakuläre Weise. Nämlich, wie? Ich meine, dass uns der Heilige Geist mit Gott tief innerlich vertraut macht und uns nach und nach dahin führt, dass wir uns den Willen Gottes willig aneignen. Wir lesen Gottes Wort und verstehen immer besser, was er möchte. Wir hören Gottes Gesetz und entnehmen daraus, was er verabscheut. Wir begreifen Gottes Evangelium und merken, worauf er es in seiner Güte abgesehen hat. Gott redet mit uns durch das biblische Wort und auch durch unser Gewissen. Wir bewegen das im Herzen und antworten mit Gebeten. Und aus dem inneren Dialog entsteht mit der Zeit die Vertrautheit eines vom Heiligen Geist vermittelten „Gott-Kennen“ – und der Wunsch, mit Gott ganz einig zu sein. Was für ihn vorrangig und was nachrangig ist, „begreifen“ wir nicht bloß auf theoretische Weise, sondern „verinnerlichen“ es. Wir gewinnen Einsicht, worüber Gott sich freut und worüber er die Stirn runzelt, was für ihn Priorität hat – und was nicht. Wir lernen, die Dinge mit seinen Augen anzusehen und an seinen Maßstäben zu messen. Wir besprechen mit Gott unser Leben und wünschen, dass durch unser Reden und Tun sein Wille geschehe. Der heilige Geist formt – je länger je mehr – unser Empfinden. Und wenn wir dann verschiedene Wege betrachten, die uns offenstehen, wissen wir auch bald, welcher Gott gefallen kann, und welcher nicht. Dass wir uns dabei in Gott „hineinversetzen“ sollten, wäre ein zu hoher Anspruch. Aber anders als der kleine Menschengeist kennt Gottes eigener Geist Gottes tiefste Gedanken (1. Kor 2,10). Und wenn er uns an seiner Perspektive teilhaben lässt, bekommen wir ein Gefühl dafür, auf welchen Wegen Gott uns gern sieht – und auf welchen eher nicht. Wenn aber jemand fragt, ob das dann „höhere Eingebung“ ist oder bloß ein „gewöhnlicher Denkprozess“, ob es dabei „übernatürlich“ zugeht oder „natürlich“, so scheint mir das eine falsche Alternative zu sein. Denn sowohl der göttliche als auch der menschliche Geist sind beteiligt. Und niemand könnte eine Linie ziehen, wo der eine aufhört und der andere beginnt. Sehr deutlich ist das z.B. bei Luthers reformatorischer Entdeckung. Die kam sicher nicht ohne göttliche „Führung“ zustande. Und doch erwuchs sie aus ganz normaler Arbeit, nämlich aus der mühsamen Vorbereitung einer Vorlesung, die Luther halten sollte. Er hat dazu betend die Bibel studiert – und hat, sie studierend, auch immer gebetet. Er hat sich gleichermaßen seinen menschlichen Kopf zerbrochen wie er sich dem göttlichen Geist öffnete. Und am Ende tat sich die befreiende Wahrheit diesem Menschen auf, der gleichermaßen hartnäckig durch sein Nachdenken wie durch sein Beten an Gottes Türen pochte. Natürliches und Übernatürliches waren da untrennbar verwoben. Denn der Durchbruch kam nicht ohne geistige Anstrengung – und kam doch ganz durch Gnade. Die menschliche Psyche war ebenso tätig wie der göttliche Geist – und eins half nicht ohne das andere zum Ziel. Doch am Ende waren Luther die nötigen Lichter aufgegangen. Und mit geklärtem Blick konnte er dann auch gar nicht mehr anders, als der neuen Einsicht entsprechend zu handeln. Genau das scheint mir aber der normale Weg zu sein, wie Gottes Geist uns innerlich führt. Und Zeichen, Mirakel oder Träume spielen dabei eher keine Rolle. Sondern wenn ich – vor eine Entscheidung gestellt – ins Grübeln komme und versuche, meine Optionen mit Gottes Augen zu betrachten, dann entdecke ich, dass mir manche Möglichkeit nur darum lockend erscheint, weil sie mir Ansehen verschafft, Macht oder Geld. Und zugleich entdecke ich, dass andere Optionen zwar weniger schmeichelhaft sind, dass sie mir aber Gelegenheit geben, anderen Menschen hilfreich zu sein. Und das ist dann schon ein deutlicher Hinweis. Denn sobald ich die Dinge mit Gottes Augen sehe, lerne ich meine höheren und niederen Beweggründe zu unterscheiden. Ich lege nicht meinen, sondern Gottes Plan zugrunde, nicht meine, sondern seine Ziele. Und je vertrauter ich mit Gott und seinem Wort bin, umso leichter kann ich sagen, was er wohl von dieser oder jener Entscheidung hält. Ja, wenn sie den profanen Vergleich erlauben: Es geht so ähnlich zu, wie bei sehr vertrauten Menschen, bei denen wir oft gut einschätzen können, wie ihr Urteil lauten würde – auch wenn wir keine Möglichkeiten haben, sie zu fragen. Denken sie nur mal an einen lieben verstorbenen Menschen, einen langjährigen guten Freund oder die eigene Mutter. Wüssten wir nicht in vielen Dingen recht genau, was sie uns raten, was sie wollen und an unsrer Stelle tun würden? Wir wissen, welche Entscheidung „in ihrem Sinne“ wäre – und bei welcher sie sich „im Grabe rumdrehen“. Etwas Ähnliches geschieht aber auf höherer Ebene, wenn der Geist Gottes mit dem Geist eines Menschen Umgang pflegt und ihm dabei seinen Stempel aufdrückt. Denn da wird dieser Mensch bald selbst nicht mehr mögen, was Gott zuwider ist. Er wird sich aber an allem freuen, was Gott gefällt, weil das inzwischen auch seinem Empfinden entspricht. So einer hat sich Gottes Ziele, Prioritäten und Maßstäbe zu Eigen gemacht. Und weil die eigennützigen Motive zurücktreten, findet er nur noch wichtig, was auch Gott wichtig ist. Steht der Mensch aber auf diese Weise mit Gott in Einklang – wird er da nicht auch im Sinne Gottes entscheiden? Und ist das nicht schon „Führung durch Gottes Geist“? Den Geist „haben“ und „vom Geist geleitet entscheiden“ ist dann im Grunde dasselbe. Denn da kommt nicht erst der Glaube – und hinterher als „Zugabe“ auch noch die Führung, sondern mit dem Glauben ist Führung schon gegeben. Da wird einer nicht erst in Gott gegründet – und später auch noch geleitet, sondern die Eingründung in Gott bringt das mit sich, dass er auch neu orientiert ist. Der Heilige Geist führt schon allein dadurch, dass er uns mit Gott vertraut macht. Und einmal mit ihm in Gleichklang gebracht, werden wir die Dinge auch annähernd so sehen wie Gott und im seinem Sinne handeln. Wir wissen dann nicht bloß, was wir von Rechtswegen wollen sollten (das wäre reine „Kopfsache“). Sondern wir beginnen tatsächlich von Herzen zu wollen, was wir (von Gott her) wollen sollen. Der Heilige Geist lässt uns das Gute um seiner selbst willen begehren. Und im verständigen Begehren des von Gott Gewollten liegt dann die Führung, die Christus versprach. Denn echter Glaube bewirkt so etwas wie eine „seelische Verwandtschaft“ mit Gott. Glaube ist die wirksame Gegenwart des Hl. Geistes in unsren psychischen Prozessen. Er lässt uns in jeder Entscheidung Gottes Nähe suchen und vor allem zurückschrecken, was uns von Gott trennen könnte. So bedarf göttliche Führung nicht dessen, dass wir eine Münze werfen, dass wir Engeln begegnen, einem Stern folgen oder Kinderstimmen aus Nachbars Garten hören. Sondern nur das ist nötig, dass wir die Verwirrungen unseres Lebens vor Gott ausbreiten, Gottes Wort zu Rate ziehen und – geduldig mit Gottes Augen draufschauend – all das Für und Wider hin- und herbewegen, bis uns Klarheit darüber geschenkt wird, was Gottes Gefallen, und was sein Missfallen erregt. Freilich wird das nicht gelingen, wenn man Gottes Führung unter dem Vorbehalt erbittet, sie müsse mit anderen Zielen vereinbar sein. Wer mit der Bedingung an Gott herantritt, die Nachfolge Jesu Christi dürfe ihn nicht zu viel kosten, kann lange drauf warten, „geführt“ zu werden. Und wenn einer in naiver Schwärmerei das eigene „Bauchgefühl“ mit der Stimme des Heiligen Geistes gleichsetzt, wird es auch nicht klappen. Man muss seinen „inneren Stimmen“ misstrauen, denn sie können aus sehr trüben Quellen aufsteigen! Und man darf den Aufwand nicht scheuen, dass man nachdenklich betet und betend auch nachdenkt, dass man geduldig die Bibel befragt und vielleicht auch glaubenserfahrene Schwestern und Brüder. Doch wer sich darum ehrlich und selbstkritisch bemüht, so dass er Gott immer wieder bittet, im Falle eines Irrtums deutlich korrigiert zu werden – der muss dann auch nicht mehr zweifeln, dass der Geist ihn bereitwillig lenken und führen wird. Denn Christus hat es versprochen. Und sein Wort täuscht ganz sicher niemanden: „Ich bin der gute Hirte“, sagt er. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,11.27-28). 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Mystical Bride

Marianne von Werefkin, Public domain, via Wikimedia Commons