Gottesbeziehung und Autonomiestreben

Gottesbeziehung und Autonomiestreben

Kann man abhängig sein – und glücklich?  

Ich möchte sie einladen, über den Mond nachzudenken – und über die merkwürdigen Umstände seines Daseins. Denn der Mond ist uns zwar ebenso vertraut wie die Sonne. Seit wir denken können ist der Mond zuständig für die Nacht, und die Sonne für den Tag. Wenn wir die beiden aber ernsthaft vergleichen, dann sind sie doch ein sehr ungleiches Paar. Natürlich haben sie es gemeinsam, dass sie beide über den Himmel wandern, beide rund sind und beide leuchten. Vordergründig betrachtet, scheinen sie sich darin ähnlich zu sein. Und dass der Mond nicht so hell ist, stört uns wenig, weil wir sonst nicht schlafen könnten. Aber haben sie sich einmal gefragt, ob der Mond nicht in Wahrheit zu bedauern ist, weil er ja aus sich selbst heraus gar nicht zu leuchten vermag? Tatsächlich ist es doch nicht sein eigener Glanz, in dem er leuchtet, sondern es ist bloß das Sonnenlicht, das er reflektierend weitergibt! Und immer, wenn der Schatten der Erde auf ihn fällt, wird es auf’s Peinlichste sichtbar, dass der gute Mond, wenn er nicht von außen angestrahlt wird, aus sich selbst heraus gar nichts kann und vermag.

Wie anders ist da die stolze Sonne – dieses gigantische Kraftwerk! Sie leuchtet aus eigener Kraft wie ein riesiger himmlischer Ofen, und das Licht ihrer Feuersglut erhellt das ganze Universum! Die Sonne leuchtet immer, sie scheint unerschöpflich, und sie ist dazu auch auf keinen anderen Himmelskörper angewiesen. Der Mond hingegen wäre ohne die Sonne bloß ein grauer Klumpen aus Stein und Staub. Er trägt keine eigene Energie in sich und glänzt nur, weil ihn der mächtige Schweinwerfer der Sonne anstrahlt. Selbst wenn unten auf der Erde jemand sagt: „Schau, wie schön der Mond leuchtet“ – selbst dann ist diese Schönheit immer nur geliehen und ist nicht seine eigene, sondern allein der Widerschein der Sonne. Das Beste, was unser staubige Mond vermag, ist die Herrlichkeit eines anderen Himmelskörpers zu reflektieren – zu mehr taugt er nicht. Und als sollte er an dies schmerzliche Unvermögen stets erinnert werden, muss er auch noch ständig abnehmen und zunehmen, abnehmen und zunehmen. Es ist immer nur sein beleuchteter Teil zu sehen, die größere oder kleinere Sichel des Mondes, und manchmal ist auch gar nichts von ihm zu sehen. Die Sonne aber, die muss keine Pausen machen, sondern steht immer unverrückt und strahlend in der Mitte. Sie wird um ihrer selbst willen bewundert, während alles andere sich um sie herum dreht. Ist der Mond da nicht zu bedauern?

Oder sollten wir versuchen, sein so unselbständiges Dasein positiver zu sehen? Der Mond kann selbst nicht leuchten – das ist und bleibt wahr. Aber andererseits muss er es auch nicht! Wenn er scheint, ist sein Glanz von der Sonne geliehen – aber dennoch finden ihn die Menschen schön! Und wenn er auch nicht besonders hell ist, so reicht es doch allemal, um den Liebespaaren den Weg zu beleuchten. Wohl ist der Mond abhängig vom Leuchten der Sonne. Aber was macht das schon, wenn doch auf die Sonne und ihr freigiebiges Strahlen Verlass ist? Und wenn der Mond unaufhörlich abnimmt und zunimmt, dann muss ihn das eigentlich auch nicht stören, weil es ja doch immer wieder Vollmond wird, und ihm die Bewunderung dann sicher ist. Genau genommen ist der Mond sogar in einer recht komfortablen Lage, denn er muss sich nicht anstrengen, aus sich selbst heraus schön zu sein, und muss sich keinerlei Mühe geben, sondern wird von der Sonne in ihren Glanz getaucht – und wird ganz umsonst mit Licht bekleidet, wie mit einem strahlenden Gewand. Der Mond ist absolut passiv dabei, es kostet ihn weder Kraft noch Arbeit, und trotzdem darf er sich als Himmelskörper besonders nützlich vorkommen, weil er all den Menschen auf der Erde, die gerade keine Sonne sehen, ein wenig vom Sonnenlicht hinunterspiegelt. Als ein Klumpen aus Staub und Steinen kommt er auf diese Weise zu nicht geringen Ehren und gibt in mancher lauen Nacht einen herrlichen Anblick ab. Hat er also Grund, sich zu beschweren?

Nein. Nur dann müsste der Mond unglücklich sein, wenn er aus irgendeinem Grund lieber die Sonne wäre. Nur dann, wenn er den dummen Ehrgeiz hätte, der Sonne ebenbürtig zu werden und seinerseits die Sonne beleuchten wollte – dann müsste er mit seinem Schicksal hadern. Solch ein Mond, der sich von der Sonne emanzipieren wollte, der wäre in der Tat eine unglückliche Figur. Doch so töricht ist er bestimmt nicht, sondern freut sich wahrscheinlich des geliehenen Lichtes, für das er sich nicht anstrengen muss. Obwohl die Sonne ihm nichts schuldet, verleiht sie ihm Schönheit. Obwohl er nur ein Haufen Staub ist, gibt sie ihm ab von ihrem Glanz. Und in dieser Weise beschenkt und geadelt zu werden – das ist recht besehen ein großes und unverdientes Glück...

Warum aber erzähle ich das? Was hat das hier zu suchen? Sie können sich denken, dass es nicht eigentlich der Mond ist, der mich beschäftigt, und dass ich ihm nicht ernstlich Gefühle zuschreibe. Sondern natürlich ist es der Mensch, der mich interessiert, weil er Gott gegenüber genau so zu stehen kommt, wie der Mond gegenüber der Sonne. Auch der Mensch ist auf sich selbst gesehen nur Staub und Asche, wie der Mond. Und er empfängt alles Leben, allen Glanz und alles Gute von außen her – allein von Gott: „Was hast du, Mensch, was dir nicht Gott gegeben hätte?“ – fragt Paulus einmal. Und die Antwort lautet natürlich: „Nichts!“ Denn alles, was an einem Menschen herrlich sein kann, sei es Schönheit, Klugheit, Kraft, Tapferkeit, Herzlichkeit oder Humor – das alles ist ihm ja gerade so geliehen, wie dem Mond sein Glanz geliehen ist von der Sonne. Auch der Mensch ist ein Klumpen aus Staub, der uns dann am schönsten erscheint, wenn er Gottes Licht widerspiegelt, wenn er Gottes Macht und Güte reflektiert, und wenn Gottes Weisheit an ihm sichtbar wird. Dass es aber Leihgaben sind, die da sichtbar werden, dass es fremde Federn sind, die uns schmücken – das zeigt der Zyklus des Zunehmens und Abnehmens, den wir wiederum mit dem Mond gemeinsam haben, weil wir in der Jugend an Kräften und Fähigkeiten beständig zunehmen, um diese Kräfte und Fähigkeiten im Alter nach und nach wieder zu verlieren. Freilich – wir hören das nicht so gern. Wir wären lieber auf ewig Eigentümer unseres Leibes und Herren unseres Lebens – wir täten’s gern der Sonne gleich und leuchteten aus eigener Kraft! Doch das ist ein törichter Traum, weil ja alles, was an uns schön oder brauchbar ist, nicht uns zugehört, sondern Gott.

Oder ist irgendetwas Brauchbares an mir, von dem ich sagen könnte: Das habe ich mir selbst verschafft – ohne Gottes Hilfe? Nein. Und am allerwenigsten „sind“ und „haben“ wir auf dem Gebiet des Glaubens, denn auch der Glaube ist Gottes Geschenk, und die Gerechtigkeit, mit der wir vor Gott bestehen können, ist eigentlich Jesu Gerechtigkeit, an der wir nur in der Weise teilhaben, wie der Mond teilhat am Licht der Sonne. Von Anbeginn der Welt ist kein Geschöpf „mehr“ oder „Besseres“ gewesen als ein Reflektor und eine Projektionsfläche für Gottes Licht. Was einer von uns am anderen toll und bewundernswert findet, das haftet an dieser Person nur so flüchtig, wie das Licht eines Diaprojektors für kurze Zeit an der Leinwand haftet. Diese Abhängigkeit nun aber nicht als Kränkung zu nehmen, sondern sie gelassen zu bejahen – das macht den Glauben aus.

Der Gläubige hat nicht den Stress, vor anderen die Rolle einer Sonne spielen zu müssen. Er muss nicht aus sich selbst heraus heller oder toller werden, sondern darf sich mit dem Glanz bescheiden, den Gott ihm verliehen hat. Und wenn Christus ihm seine Gerechtigkeit schenkt, weil der Mensch mit seiner eigenen nicht bestehen könnte, muss ihn seine Passivität dabei nicht stören. Denn der Klumpen Staub, der wir sind, kommt dabei zu nicht geringen Ehren. Der Erdenkloß darf zwischendurch immer mal wieder leuchten, als wäre er aus blankem Marmor. Und der Sünder darf im Licht der Gnade glänzen, als wäre er ein großer Heiliger. In dieser Weise aber ein Mond zu sein unter Gottes Sonne, das ist eine durchaus annehmbare Lage. Denn der Mensch, der sie akzeptiert, wird von außen her in Gottes Glanz getaucht und mit Gottes Licht bekleidet, wie mit einem strahlenden Gewand. Sollten wir uns da beklagen, bloß weil wir Monde und nicht selber Sonnen sind? Nein! Denn das Gute war ja immer Gottes – und niemals unser. Es sind immer fremde Federn, die uns schmücken. Gott gebührt die Ehre. Aber das macht nichts. Denn ein Leben lang unter seinem Glanz zu liegen, und immer ein bisschen davon widerzuspiegeln, das ist schön und gar nicht übel – und ist für einen Haufen Staub auch durchaus genug…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Moonlit night on the Dnieper

Arkhip Kuindzhi, Public domain, via Wikimedia Commons