Christ - und trotzdem Sünder?
Die Versuchung des Heiligen Antonius

Christ - und trotzdem Sünder?

Kürzlich stellte mir jemand eine naheliegende und doch ärgerliche Frage. Denn er wunderte sich, warum Christen, wenn sie doch gerettet und erlöst sind, immer noch sündigen. Sollten sie nicht durch Gottes Geist komplett erneuert und von aller Macht des Bösen befreit sein? Heißt es nicht auch, in der Taufe würde alle Sünde abgewaschen und der Mensch durch den Glauben wiedergeboren? Ein Christ beginnt doch ein neues Leben, er geht den Weg der Nachfolge! Wie verträgt sich das aber mit der Beobachtung, dass so viele Christen weiterhin sündigen und weiterhin ihren Schwächen erliegen, untreu sind, missgünstig, hartherzig oder jähzornig? Sollten sie nicht „besser“ sein als der Durchschnitt – gütiger, bescheidener und ehrlicher? Sollte jemand, der den Geist Gottes hat, nicht auch seiner Lebensführung nach mit Gott übereinstimmen? Darauf ist nicht leicht zu antworten. Denn es stimmt: Eigentlich sollte unsre sündige Natur, unser „alter Adam“, im Wasser der Taufe ersoffen sein. Aber anscheinend kann er schwimmen! Eigentlich ist der Christ eine „neue Kreatur“ und als neuer Mensch nur zum Guten berufen (2. Kor 5,17). Aber mancher zeigt schon bald dieselben Charakterfehler wie zuvor! Vom Geist Jesu erfüllt sollten wir eigentlich diesem Geist gemäß leben – in Liebe, Güte und Wahrhaftigkeit. Aber wenn wir uns in der Gemeinde umsehen, sind die moralischen Standards drinnen nicht viel höher als draußen. Und in den Augen vieler Menschen macht uns das unglaubwürdig. Denn mit hämischem Grinsen stellen sie fest, dass bei uns Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, und sagen: „Seht her, die Christen sind auch nicht besser“! Aber trifft uns das? Haben wir denn behauptet, wir wären sündlos? Tatsächlich gibt es im Neuen Testament Stellen, die so klingen, als könne ein Christ gar nicht mehr sündigen (1. Joh 3,6; 5,18; Röm 5,8). Denn wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Und wenn Christus einen Menschen befreit, dann ist er wirklich frei (Joh 8,34-36). Durch die Taufe übernimmt Christus die Herrschaft. Die Macht des Bösen ist gebrochen. Und so kann man erwarten, dass ein gläubiger Mensch – mit Gottes Geist beschenkt – auch diesem Geist gemäß lebt. Christus hat uns frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes, damit wir künftig nicht mehr nach dem Fleische leben, sondern nach dem Geist (Röm 8,2-4). Und so sollte, wer zum Guten befreit ist, nichts Schlechtes mehr tun. Denn Jesus kam zwar, weil wir Sünder waren. Er kam aber nicht, damit wir Sünder bleiben, sondern lehrte uns die „bessere Gerechtigkeit“, die durch Liebe Gottes Gesetz erfüllt (Mt 5,20; 22,34-40; Röm 13,10). Nur, wenn wir ins Neue Testament schauen: Wie erfolgreich wurde das von den Jüngern Jesu umgesetzt? Waren sie gute Schüler? Konnten sie (dem Beispiel ihres Herrn folgend) so sündlos leben wie er? Nein. Zum Glück wird es in der Bibel nicht beschönigt, sondern wir erfahren, dass auch Jesu unmittelbare Jünger oft kleingläubig waren, unverständig oder feige, stolz oder rachsüchtig (Mt 8,26; 14,31; 16,23; 20,20ff; 26,56; 26,69ff; Lk 9,54-55). Sie verwandelten sich nicht gleich in „Heilige“! Sie waren keineswegs „vollkommen“! Und auch von den frühen Gemeinden lesen wir in der Bibel allerhand Peinliches über Spaltungen und Streitereien, Unzucht und Lieblosigkeit, Aufgeblasenheit, Egoismus und Heuchelei (1. Kor 1,10ff; 4,6ff; 5,1ff; 11,17ff; Gal 2,11ff; Apg 5,1ff). Genau wie wir waren sie zu etwas Besserem berufen. Und doch – obwohl Gottes Geist bei ihnen wehte – waren ihre Sünden und Fehler nicht gleich verschwunden. Sie hätten sich bestimmt gewünscht, ihrem Herrn mehr Ehre zu machen. Denn eigentlich sollen Christen wie gute Bäume sein, die selbstverständlich gute Früchte tragen (Mt 12,33). Aber damals wie heute machen Christen die Erfahrung, dass sie schlechte Schüler Jesu sind und auf halber Strecke stehen bleiben. Denn das Gute, das wir wollen, das tun wir oft nicht. Aber das Böse, das wir nicht wollen, das tun wir durchaus (vgl. Röm 7,14-25). Und über diesen inneren Widerspruch, über diese Inkonsequenz ärgern wir uns zurecht. Denn während der Kopf sagt, Christus solle Herr sein, steckt uns die Sünde noch mächtig in den Knochen. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Und zuletzt müssen wir beschämt zugeben, dass der 1. Johannesbrief Recht hat: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh 1,8). Martin Luther hat das klar erkannt. Er sah, dass auch „gefestigte Christen“ keineswegs „vollkommen“ sind. Und so sagte er in einer berühmten Formel, der Christ sei ein „Gerechter und ein Sünder zugleich“, er sei „simul iustus et peccator“. Das klingt paradox. Denn wie lässt es sich vereinbaren, dass man einem Christen Gerechtigkeit zuerkennt und sie ihm zugleich aberkennt, dass man ihm Sünde zuschreibt und zugleich auch wieder nicht? Doch Luther bejaht nicht dasselbe, was er verneint. Er meint nicht, wir seien „Gerechte“ und „Sünder“ in derselben Hinsicht. Sondern „Gerechte“ sind wir nach Gottes Urteil, weil Gott allen, die in Christus sind, dieselbe Gerechtigkeit zuerkennt wie Christus selbst. Und „Sünder“ sind wir unserem eigenen Urteil und unserem Verhalten nach. „Gerechte“ sind wir nach Gottes Buchführung, auf die es maßgeblich ankommt. Denn Gott schließt alle, die durch ihren Glauben zu Christus gehören, in sein positives Urteil über Christus mit ein. „Sünder“ sind wir aber, sofern unsere Lebensführung dieser Zusage hinterherhinkt und von Erneuerung noch zu wenig erkennen lässt. Die Sünde hat tatsächlich keine Macht mehr über einen Christen, denn unsere Strafe ist getragen und das verdammende Urteil aufgehoben. Gott hat uns um Christi willen amnestiert – und dabei bleibt es auch. Doch besagt das nicht, dass die uns vergebenen Charakterfehler und Schwächen auch schon verschwunden wären. Sondern es bleibt traurige Erfahrung, dass noch viel Verkehrtes an uns haftet, wie eine schlechte Gewohnheit, die man nicht ablegen kann. Bei dem einen kommen immer wieder der Zorn und der Stolz durch, und bei dem anderen die Liebe zum Geld. Jener kann es nicht lassen, mit fremden Frauen zu flirten, und dieser bleibt einfach nicht bei der Wahrheit. Für Christen gehört sich das nicht – für Jünger Jesu ist so etwas schändlich und ärgerlich! Und doch ist es nicht mehr Sünde im fatalen Sinne. Denn wenn der Christ sein Fehlverhalten bereut, kann es ihn nicht von Gott trennen und führt auch nicht zu seiner Verwerfung, sondern der gnädige Gott behandelt den christlichen Sünder um Christi willen als einen Gerechten – auch wenn er immer wieder versagt und im Prozess der Heiligung nicht gut vorankommt. Seine Sünde ist vergeben und entmachtet, aber sie ist noch nicht verschwunden. Sie ist im Grunde schon besiegt, ist aber noch nicht tot. Sie liegt am Boden, wurde aber aus der Stube noch nicht hinausgefegt. Und so ist man als Christ ein „Gerechter“ und ein „Sünder“ zugleich – ist es aber in ganz verschiedener Hinsicht: Man ist ein „Gerechter“ in den Augen des barmherzigen Gottes, der uns Christi Gerechtigkeit zugute hält. Und man ist ein „Sünder“ auf sich selbst gesehen, weil uns der alte Dreck noch an den Schuhen klebt. Gott lässt uns gelten, als wären wir wunderbar rein und hätten nie etwas Schäbiges getan. Aber an der menschlichen Natur haften doch noch hässliche Überbleibsel, die den alten Gestank an sich tragen, und also noch abzuwaschen und zu beseitigen sind. Und so ist die Gerechtigkeit eines Christen durchaus keine Eigenschaft seiner Person, keine überlegene moralische Qualität und kein empirischer Sachverhalt, sondern sie besteht gänzlich in der Nachsicht seines barmherzigen Gottes. Und abgesehen von seiner Gottesbeziehung könnte man einem Christen keine Gerechtigkeit attestieren. Denn „gerecht“ ist er nur dank seiner Beziehung zu Christus. Er ist es nur „in“ dieser Beziehung, wenn man sie also mit in Betracht zieht. Und abgesehen von der Beziehung zu Christus – allein „auf sich selbst gesehen“ – ist der Christ durchaus noch sündig und offenkundig verwerflich, schwach und mit Fehlern behaftet. Wenn man das aber erkennt, ist es dann ein Freibrief weiterhin zu sündigen, weil‘s doch „normal“ ist? Fühlen wir uns dann berechtigt Sünder zu bleiben, weil’s doch sowieso keiner vermeiden kann? Nein. Das wäre die falsche Spur! Denn wenn uns die Sünde auch nicht mehr verdammt, bleibt sie doch ein Ärgernis und hindert uns, Gott hingegeben zu leben. Es bleibt skandalös, dass wir zur Reinheit berufen sind und trotzdem immer wieder mit beiden Händen in den Schmutz greifen. Was sollen wir aber tun? Müssen wir uns damit abfinden, dass wir bis ans Ende unserer Tage Sünder bleiben? Oder ist es gerade das, womit wir uns niemals abfinden dürfen? Nun – die Spannung zwischen Sollen und Sein wird uns lebenslang erhalten bleiben. Doch gibt es eine Unterscheidung, die hilft, damit umzugehen. Denn wer mit sich hadert, weil er hinter seiner Berufung zurückbleibt, darf einen Unterschied machen zwischen dem, was er willentlich, und dem, was er unwillentlich tut. Und bei aller nötigen Selbstkritik liegt darin etwas Trost. Denn es ist eine Sache, wenn der Christ von einer plötzlichen Versuchung übereilt und mitgerissen wird, so dass er aus Schwäche sündigt. Und es ist eine ganz andere Sache, wenn jemand dasselbe mit innerer Zustimmung, mit Vorsatz und Absicht tut. Ein vorsätzliche Sünde, bei der man frech bejaht, was Gott verneint, muss den Menschen von Gott trennen, denn sie ist ein mutwilliger Schlag in Gottes Angesicht! Das unwillentliche Sündigen dagegen, dem ein Christ aus Schwäche erliegt, weil er nicht aufgepasst hat, trennt ihn nicht von Gott. Wer mit Vorsatz sündigt, spürt bald keine Reue mehr – und das ist mit dem Glauben unvereinbar. Doch das unwillentliche Sündigen macht uns meist schon im Vollzug unglücklich (es plagt unser Gewissen) – und wenn wir‘s unmittelbar bereuen, dürfen wir auf Vergebung hoffen. Das soll nicht etwa heißen, dass es „lässliche Sünden“ gäbe, die man nicht ernst nehmen müsste. Nein, jede ist ernst zu nehmen! Aber es gibt doch Fehltritte, in die der Christ unfreiwillig hineingerät. Und wenn er sich dessen schämt und verabscheut, was er getan hat, wird es ihn nicht gleich sein Seelenheil kosten. Denn so einer missfällt sich ja selbst. Statt seine Sünde zu verharmlosen, hasst er sie, schämt sich seiner Niederlage und bringt sie traurig vor Gott – während ein Heuchler der Versuchung freudig nachgibt und bald Gelegenheit sucht, das Schändliche zu wiederholen. So einer lebt eindeutig nicht im Glauben. Er sehnt sich nicht, mit Gott übereinzustimmen. Er hungert und dürstet nicht nach Gerechtigkeit und hat keine Vergebung zu erwarten, so dass bei ihm auch die scheinbar „kleinsten“ Sünden „fatal“ und „tödlich“ sind…

Was tun wir also? Wir bemühen uns, gottgefällig zu leben. Wir wissen dabei, dass wir Sünder bleiben. Und dieser Zwiespalt hat insofern etwas Gutes, als er uns Demut lehrt und in der Demut hält. Selbst die Glaubensstarken müssen täglich darum bitten, Gott möge ihre Verfehlungen nicht ansehen (vgl. Ps 19,13; 25,11; 32,1-5; 38,5.19; 51,1-11; 69,2; 79,9; 103,10; 130,3). Denn wenn es sich anders verhielte – warum ermahnte uns das Neue Testament dann ständig zur Heiligung (z.B. 1. Thess 4,1-7; Röm 12,9-21; Eph 5,1-20)? Das Mahnen und Drängen ist nur nötig, weil wir nach wie vor sündigen. Doch zum Glück tun wir’s nicht so, dass es uns von Gott trennen müsste, nicht so, dass wir darum verdammt würden. Denn wir stehen unter dem Schutz der Gnade. Wir sündigen – und das bleibt ein Ärgernis. Aber auch das andere steht fest, dass unsere Zugehörigkeit zur Heilsgemeinde nicht am Gesetz und an den Werken hängt, sondern allein am Verhältnis zur Person Christi. Und ihm liegen gerade die Versager und die Gescheiterten am Herzen. Wenn wir wegen unseres Fehlverhaltens unglücklich sind, wird er‘s uns nicht anrechnen. Wenn wir uns selbst verdammen, tut er es gewiss nicht. Und unsere Zuversicht in diesem Punkt geht so weit, dass wir einem Menschen, der aus Angst vor den eigenen Fehlern erstarrt, mit Luthers Worten zurufen können: „Sündige tapfer, aber glaube und freue dich in Christo um so tapferer!“ Über diesen Appell haben sich schon viele Moralisten empört, denn: „Sündige tapfer!“ – darf ein Theologe so etwas sagen? Doch Luther macht hier aus der Rechtfertigung des Sünders gewiss keine Rechtfertigung der Sünde. Er weiß, dass Gottes Gnade nicht der Tat, sondern dem Täter gilt. Ihm ist aber zugleich bewusst, dass die Gnade in Gott mächtiger ist als die im Christen verbliebene Sünde. Und so gilt der Satz auch für uns, dass wir, wenn wir‘s nicht vermeiden können, „tapfer sündigen“ dürfen, wenn wir dann auch „umso tapferer glauben“. Und unter dieser Voraussetzung wird uns die beweinte Sünde nicht zum Verhängnis. Schauen wir also ruhig unserer Schuld ins Auge. Aber wenden wir den Blick dann gleich wieder zu Gott. Machen wir uns nichts vor, denn unser Schaden ist groß. Aber zweifeln wir auch nicht daran, dass Gottes Gnade größer ist. Leugnen wir nicht unser Versagen. Aber leugnen wir noch viel weniger die Güte Gottes. Denn dann trägt sie uns über den Abgrund unserer Schuld hinweg. Und wenn zuletzt noch einer fragt: „Wo bleibt da die Moral?“, dann antworten wir getrost: „Die Moral mag bleiben, wo sie will, wenn wir nur in Gottes Gnade stehen. Denn die Moral ist nicht für uns am Kreuz gestorben und die Moral hat auch noch keinen erlöst. Aber Christus hat’s getan. Und so halten wir uns an ihn – gerade weil wir Sünder sind.“

 

 

Bild am Seitenanfang: Die Versuchung des heiligen Antonius II

Stanisław Ignacy Witkiewicz, Public domain, via Wikimedia Commons