Gottvertrauen

Gottvertrauen

Ich möchte ihnen eine Frage stellen, die sie vielleicht befremden wird. Denn ich möchte sie fragen, ob sie „cool“ sind. Sind sie „cool“? Wären sie‘s gerne? Oder wissen sie vielleicht gar nicht genau, was das ist? Nun, Jugendliche und Kinder jeden Alters gehen heute sehr selbstverständlich mit dem Wort um. Schon denen im Kindergarten ist der Begriff geläufig: sie finden alles „cool“, was ihnen gefällt. Und obwohl es schon eine Weile her ist, erinnere ich mich gut, dass auch ich als Jugendlicher unbedingt „cool“ sein wollte. Das Wort stand für etwas, das mich und meine Altersgenossen sehr faszinierte, nämlich für Gelassenheit, Souveränität und Distanziertheit. Wer cool ist, den bringt nichts aus der Fassung, er zeigt sich unbeeindruckt und desinteressiert. Wer cool ist, hat die Ruhe weg, er schwebt über den Dingen und zeigt keine Emotionen. Wer cool ist, hat nur ein müdes Lächeln für das, was andere aufregt. Und genau dies ist für viele Jugendliche ein Ideal. Oder vielleicht nicht nur für Jugendliche? Ja, ich vermute, diese besondere Form der Gemütsruhe hat auch für Ältere eine große Anziehungskraft. Sie würden vielleicht nicht von „Coolness“ sprechen, sondern von „Gelassenheit“, von „Unerschütterlichkeit“ oder „Nervenstärke“. Aber die Begriffe macht keinen Unterschied, wenn der Traum derselbe ist – nämlich der Traum, etwas mehr „über“ den Dingen zu stehen. Freilich, oft gelingt uns das nicht. Sondern im Gegenteil: An einem Tag verwöhnt uns das Schicksal und baut uns auf – und am nächsten schlägt es uns wieder zu Boden. Mal sind wir himmelhoch-jauchzend und mal zu Tode betrübt. Wir haben Glück und haben Pech, wir hoffen und bangen, wir zittern und zagen, wir lassen uns von Wünschen vorantreiben, von Sorgen zerfressen und von Misserfolgen niederdrücken. Wir stünden viel lieber wie ein Fels in der Brandung! In Wahrheit sind wir aber eher ein Blatt im Wind und ein schwankendes Schilfrohr, das fremden Kräften ausgeliefert ist und vom Wind mal hierhin und mal dorthin gebogen wird. Statt souverän über den Dingen zu stehen, haben wir den Eindruck, dass das Schicksal mit unserer Seele Ping-Pong spielt. Denn jederzeit kann etwas geschehen, das uns aus dem inneren Gleichgewicht bringt. Und ich weiß nicht, wie sie es empfinden – ich jedenfalls finde diesen Mangel an Stabilität sehr ärgerlich. Cool müsste man sein! „Drüber stehen“ müsste man! Aber wie schafft man das? Als ich ein nach „Coolness“ strebender Jugendlicher war, bekam ich ein Büchlein des römischen Philosophen Seneca in die Hände, das den Anspruch erhob, dem Leser zur großen Gelassenheit zu verhelfen. Und natürlich habe ich es mit Neugier gelesen. Seneca war ein sogenannter Stoiker, also ein Vertreter jener Philosophenschule, nach der die „stoische Ruhe“ benannt ist. Und dementsprechend bestand seine Anleitung zur Coolness hauptsächlich darin, dass er diese „stoische Ruhe“ empfiehlt. Die Wurzel allen Übels, las ich bei Seneca, liege darin, dass der Mensch von Lust und Schmerz, von Freud und Leid als von zwei schwankenden und maßlosen Gebietern beherrscht und hin- und hergeworfen werde. Der gewöhnliche Mensch sei ein Spielball zufälliger Dinge, die ihn abwechselnd stolz und niederschlagen machen. Die stoische Philosophie aber befreie von dieser Knechtschaft, indem sie den Menschen lehre, seinem Schicksal mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Seneca empfiehlt dementsprechend, nichts zu sehr zu lieben und nichts zu hassen, sondern alles, was geschieht, als unabänderlich hinzunehmen. Dann nämlich, wenn man gelernt habe, den Schmerz ebenso zu verachten wie die Freude und das Leben ebenso zu verachten wie den Tod – dann werde die Seele gleichgültig gegen ihr Schicksal und fände dadurch zur Ruhe, zur inneren Ausgeglichenheit und Stabilität. Nachdem ich Senecas Buch gelesen hatte, habe ich seine Ratschläge erprobt, so weit ich sie verstand – und hatte guten Erfolg. Denn manche meiner Freunde und Mitschüler waren tief beeindruckt von der philosophischen Variante der „Coolness“, die ich zur Schau trug. Ich übte mich erfolgreich in der Kunst, alles „egal“ zu finden. Doch leider musste ich feststellen, dass die Kunst, über den Dingen zu stehen, einen Haken hat. Man zahlt dafür einen hohen Preis. Denn die große Ruhe des Gemüts erwächst ja nur daraus, dass man nichts allzu sehr liebt – weder Menschen noch Güter oder Ideale. Der Trick ist einfach: wer nichts liebt, dem kann auch nicht genommen werden, was er liebt. Er ist vor den größten Schmerzen sicher. Denn wer nichts liebt, dem ist alles entbehrlich. Und er kann jederzeit ungerührt bleiben, denn er bietet dem Schicksal keine Angriffsfläche. Das klingt toll. Und das Rezept funktioniert. Aber bei Lichte besehen ist der Preis für die Gemütsruhe doch recht hoch. Denn wenn man nichts liebt, wenn nichts unser Herz höherschlagen lässt, was macht das Leben dann lebenswert? Der coole Rückzug aus den emotionalen Bindungen ist in Wirklichkeit ein Rückzug aus dem Leben – er ist eine Flucht. Denn Coolness bedeutet oft nichts anderes, als dass jemand aus Angst, seine Gefühle könnten verletzt werden, diese Gefühle gar nicht erst zulässt. Um den Wechselfällen des Lebens nicht ausgeliefert zu sein, versteckt er sich hinter einer Mauer aus Gleichgültigkeit. Aus Angst vor der Trennung nimmt er die Trennung innerlich vorweg. Doch das ist eine Art vorzeitiger Abschied aus dem Leben. Es ist ein Rückzug in das Schneckenhaus emotionaler Kälte. Und um es hart zu sagen: Der höchste Grad dieser Coolness sieht der Leichenstarre zum Verwechseln ähnlich. Die wird wohl niemand erstrebenswert finden. Es fragt sich nur, ob es eine Alternative gibt. Denn was kann man tun, wenn man weder ein schwankendes Rohr im Wind des Lebens noch ein stoisch-ruhiger Eisblock sein will? Bleibt nur der laue Mittelweg? Nein. Es gibt eine echte Alternative. Und zwar eine, mit der uns die Bibel bekannt macht hat. Wir müssen nur an Jesus denken, wie er mit seinen Jüngern über den See Genezareth fährt und in den Sturm gerät (Mt 8,23-27). War das nicht unendlich „cool“, wie er inmitten dieser hochdramatischen Situation schlief? War das nicht der Inbegriff souveräner Gelassenheit, wie er seinen panischen Jüngern gegenübertrat? Vielleicht hat er sich erst noch mal gestreckt und gegähnt, als sie ihn weckten. Dann befiehlt er dem Sturm, sich zu beruhigen. Er schüttelt den Kopf über den Kleinglauben seiner Jünger und mahnt sie, doch etwas mehr Gottvertrauen zu haben. Und wer weiß – vielleicht hat er sich danach wieder hingelegt und sein Nickerchen fortgesetzt. Na, wenn das nicht Coolness ist! Tatsächlich steht Jesu abgeklärte Gelassenheit in so krassem Gegensatz zur Dramatik der Situation, dass die Szene etwas Groteskes hat. Doch zeigt sie in der Überspitzung, dass es einen dritten Weg gibt. Denn einerseits ist Jesus nicht so aus dem Häuschen wie seine Jünger, die um ihr Leben fürchten. Jesus zeigt keine Hysterie, ja nicht einmal Nervosität. Andererseits aber ist seine Ruhe nicht die des Stoikers, der versuchen würde die Anschläge des Schicksals mit Verachtung zu strafen. Sondern Jesus geht einen dritten Weg, den man nur als „Gottvertrauen“ bezeichnen kann. Dieses Gottvertrauen ist von anderen Formen der Gemütsruhe deutlich zu unterscheiden. Denn es hat nichts zu tun mit einer Ruhe, die aus Resignation erwächst. Es ist nicht die Gelassenheit der Naiven, die meinen, es könne ihnen nichts passieren. Und es ist auch nicht die Unerschütterlichkeit der Kalten, die alles kalt lässt, weil sie nichts lieben. Sondern jenes Gottvertrauen, das Jesus auf dem See demonstriert, resultiert einfach daraus, dass er alles in Gottes Hand weiß – und an dessen Treue nicht zweifelt. Das ist etwas ganz anderes als vulgäre „Coolness“, die oft nur auf seelischer Abstumpfung beruht. Und es ist auch etwas ganz anderes als der Zweckoptimismus, den man sich selbst einredet. Vielmehr – im Gegensatz zu alledem ist Gottvertrauen die Kunst, Freud und Leid gleichmütig in Empfang zu nehmen, weil der Absender in jedem Falle Gott ist. Es ist das Vertrauen, dass Gott auch dann, wenn er uns wenig Freude und viel Leid zukommen lässt, es doch nicht böse mit uns meint. Es ist eine Schlussfolgerung, die in zwei schlichten Sätzen besteht, nämlich: 1. Gott hat uns wissen lassen, dass er unser barmherziger Vater ist. Und: 2. Es widerfährt uns im Leben nichts, als nur, was dieser barmherzige Vater uns zugedacht hat. Stehen diese beiden Sätze fest, so setzt das allen anderen Mächten, die unser Leben bestimmen möchten, enge Grenzen. Denn es bedeutet einerseits, dass wir mit all unserer Sorge das uns zugedachte Leid nicht mindern und das uns zugedachte Glück nicht vermehren. Und es bedeutet andererseits, dass keine Kreatur Hand an uns legen kann, ohne dass Gott es will. Wenn‘s aber unausweichlich so kommt, wie‘s der barmherzige Vater mir schickt – warum soll ich‘s dann nicht in Ruhe und Geduld erwarten und annehmen? Sollten Christen nicht die allergelassensten Menschen sein? Wer vermag etwas gegen uns, wenn Gott für uns ist? (Röm 8,31; Ps 118,6). Natürlich bleibt es dabei, dass wir verletzlich sind. Solange wir auf Erden überhaupt etwas lieben und hoffen, werden wir auch sorgen und bangen um dies und jenes. Aber verzehren kann uns die Sorge nicht. Denn wenn wir Gottvertrauen haben, ist alle Sorge umfangen von einer großen Sorglosigkeit, und alle Furcht begrenzt von einer tiefen Furchtlosigkeit. Zu unserem ewigen Heil tut keiner mehr ein Quäntchen hinzu und keiner ein Quäntchen davon. Denn dafür hat Christus gesorgt. Was aber unser zeitliches Hab und Gut betrifft (samt Leib und Leben), sind wir auch nicht im Unklaren. Denn wir haben nichts, das uns nicht von Gott geliehen und ihm eines Tages wieder zu erstatten wäre. Unter dem Geliehenen ist nichts, das wir sterbend nicht zurücklassen müssten. Und zugleich ist nichts darunter, das uns Gott nicht im ewigen Leben wiedergeben könnte, wenn er das für gut hält. Was soll’s also? Hat unser gütiger Vater über alle Dinge volle Kontrolle, was soll dann das unchristliche Hasten und Zappeln? Was soll die heidnische Angst? Unsere Lebensgeschichte ist bereits geschrieben. Gott kennt all ihre Wendungen. Und wenn wir auch nicht wissen, welche düsteren Kapitel sie noch enthalten mag, wissen wir doch, dass Gott für ein „Happy End“ sorgt. Wir können ihm vertrauen und sollten das bedenken, wenn unser Herz mal wieder flattert wie ein aufgeschrecktes Huhn. Beruhigen wir uns um Gottes willen. Und üben wir uns in Gottvertrauen. Denn das ist besser als alle Coolness der Welt. 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Christ in the Storm on the Sea of Galilee

Jan Brueghel the Elder, Public domain, via Wikimedia Commons