Glaube als unaufhörliche Bewegung

Glaube als unaufhörliche Bewegung

Wer nach dem Sinn des Wortes „Glaube“ fragt, bekommt manchmal die Auskunft, „Glaube“ sei ein anderes Wort für die religiösen „Ansichten“ eines Menschen. Das klingt einleuchtend und scheint das Verständnis der Sache zu erleichtern. Denn man kann den Glauben eines Menschen dann einsortieren in das weite Spektrum seiner „Meinungen“: Über moderne Kunst denkt er so. Über Leistungssport denkt er anders. Er hat eine politische Meinung. Und sein „Glaube“ – na, ja – das sind eben seine Ansichten zum Thema „Gott“. Aber stimmt das so? Nein. Und es ist wichtig, das schwere Missverständnis zu bemerken, das hier vorliegt. Denn wirklicher Glaube – das sind nicht bloß Gedanken über Gott. Vielmehr ist Glaube eine Beziehung zu Gott. Glaube ist keine „Ansicht“, die man haben kann, oder auch nicht. Sondern er ist eine Erfahrung, die den Menschen im Innersten erschüttert und ihn prägt, wie das eine „Meinung“ niemals könnte. Denn „Meinungen“ kann der Mensch wechseln wie Hemden – er bleibt dabei derselbe, der er war. Gott aber kann kein Mensch begegnen, ohne dadurch ein anderer zu werden.

Und warum ist das so? Zum Teil liegt es an Gottes schierer Größe und Heiligkeit, deren wir uns nicht bewusst werden können, ohne dass dadurch unser bisheriges Weltbild aus den Fugen gerät. Aber das ist es nicht allein. Was wirklich schockiert, ist das krasse Missverhältnis, das zwischen Gott und uns besteht: Seine Gerechtigkeit und meine Schuld, seine Wahrheit und meine Lüge, seine Dynamik und meine Trägheit – das passt einfach nicht zusammen. Es verträgt sich nicht. Denn als der, der ich bin, bin ich ein Missklang in Gottes Symphonie. Mein egozentrisches Denken und Fühlen kann nicht vor ihm bestehen. Die Schwäche meines Willens steht der Durchsetzung seines Willens im Wege. Das weiß ich. Und vor allem: Ich weiß, dass er es auch weiß. Darum hätte ich allen Grund zu fliehen. Aber wohin fliehen? In welchem Boden soll ich versinken, um Gottes Blick zu entgehen? Wo versteckt man sich vor dem, der allgegenwärtig ist? Vor wilden Tieren könnte man hinter dicke Mauern flüchten. Gegen feindliche Menschen könnte man sich mit anderen Menschen verbünden. Einen irdischen Richter könnte man mit geschickten Lügen täuschen. Aber wenn es Gott ist, der mich angreift, dann bin ich verloren. Denn wohin ich auch fliehen wollte – Gott wäre immer schon da. Mit wem ich mich verbünden wollte – Gott wäre meinem Verbündeten immer überlegen. Und was ich zu meiner Verteidigung auch vorbrächte – es wäre immer schon widerlegt bevor ich es ausspreche.

Was also kann man tun? Wer kann für uns sein, wenn Gott gegen uns ist? Niemand! Jedenfalls niemand – außer ihm selbst. Und in dieser kleinen Einschränkung liegt die Chance verborgen, die zu ergreifen man „Glauben“ nennt. Denn gegen Gott hilft zwar nur Gott. Wenn Gott uns aber gegen Gott hilft, dann ist uns wirklich geholfen. Denn wer könnte vor Gott schützen – außer Gott? Wer könnte Gottes Zorn Einhalt gebieten – wenn nicht Gottes Liebe? Es ist ein sehr seltsamer Gedanke. Und doch stimmt es, was an der Tür der Friedhofskapelle in Bad Arolsen geschrieben steht: „Vor Gott ist keine Flucht als nur zu ihm.“

Eine solche Fluchtbewegung, wenn sie sich im Herzen eines Menschen vollzieht, ist Glaube. Denn Glaube besteht eben darin, vor Gottes Gericht an Gottes Gnade zu appellieren. Wer bemerkt, dass er im Krieg zwischen Gott und dem Bösen bisher auf der falschen Seite stand, wer bemerkt, dass er in einen Kampf verwickelt wurde, der sinnlos und aussichtslos ist, der darf sich Gott ergeben und darf „überlaufen“. Wie ein Soldat, der die Waffe wegwirft und mit einer weißen Fahne in der Hand auf die feindlichen Linien zugeht, so dürfen wir uns Gott „ergeben“ – und dürfen gewiss sein, dass er uns freundlich aufnimmt. Denn in Wahrheit kämpft Gott nicht „gegen“ seine Geschöpfe, sondern er kämpft „um“ seine Geschöpfe. Und er empfängt darum die „Überläufer“ nicht, um Kriegsgefangene und Knechte aus ihnen zu machen. Sondern er schenkt ihnen die Freiheit der Kinder Gottes, weil er sich über jeden Einzelnen freut.

Er weiß – und wir wissen –, dass wir etwas anderes verdient hätten. Wir können auch keine Bedingungen stellen, wenn wir vor Gott kapitulieren. Aber Christus ist für uns gestorben, um den Fluch, der auf uns lastet, in Segen zu verwandeln. Gott selbst hat dafür gesorgt, dass wir bei ihm Asyl finden können. Darum heißt „glauben“, sich bei Christus in Sicherheit zu bringen. Wer glaubt, der bringt sich hinter dem Kreuz Christi in Deckung. Er kriecht bei Christus unter. Und er findet bei ihm Schutz. Denn Christus hat unsere Strafe getragen. Er hat damit einen Raum der Gnade eröffnet. Und „glauben“ heißt nichts anderes, als sich mit einem beherzten Sprung in diesen schützenden Raum hinein zu retten. Die Glaubenshaltung, in der das geschieht, hat Martin Luther einmal sehr prägnant zum Ausdruck gebracht:

 

„Mir ist es bisher wegen angeborener Bosheit und Schwachheit unmöglich gewesen, den Forderungen Gottes zu genügen. Wenn ich nicht glauben darf, dass Gott mir um Christi willen dies täglich beweinte Zurückbleiben vergebe, so ist’s aus mit mir. Ich muss verzweifeln. Aber das lass‘ ich bleiben. Wie Judas an den Baum hängen, das tu‘ ich nicht. Ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi wie die Sünderin. Ob ich auch schlechter bin als diese, ich halte meinen Herrn fest. Dann spricht er zum Vater: Dieses Anhängsel muss auch durch. Es hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten. Vater, aber er hängt sich an mich. Was will’s! Ich starb auch für ihn. Lass ihn durchschlupfen. Das soll mein Glaube sein.“

 

Ein stolzer Mensch wird hier die Nase rümpfen. Denn dieser Weg ist weder „männlich“ noch „heldenhaft“. Der Glaube, den Luther beschreibt, erinnert eher an ein Kind, das sich an den Rockzipfel der Mutter hängt. Der Mensch, der sich hier an Christus klammert, um sozusagen als „blinder Passagier“ in Gottes Reich mit hineinzuschlüpfen, ist kein Siegertyp. Er ist einer, der vor Gott zu Gott flieht. Er ist bloß ein „Anhängsel“ Christi. Er steht nicht für sich selber gerade. Sondern er versteckt sich hinter einem anderen. Er reist nicht auf eigene Rechnung, sondern auf Christi Rechnung. Er empfängt keinen verdienten Lohn. Sondern er rettet seine Haut. Er pocht nicht auf vermeintliches Recht. Sondern er schwenkt die weiße Fahne und bittet um Asyl. Einem stolzen Menschen kann dieser Weg nicht gefallen. Und doch ist es der einzige, der zum Ziel führt. Denn vor Gott ist keine Flucht als nur zu ihm. Nur Gottes Liebe vermag uns vor Gottes Zorn zu schützen. Und Jesus Christus ist Gottes Liebe in Person. Darum hängt sich der Glaube an Christus mit Haut und Haar. Er geht in Christus ein. Er geht in Christus auf. Und er verbindet sich dabei so eng mit ihm, dass beide vor Gott und der Welt „eins“ sind. Den Eigensinn, mit dem der Mensch sich zu behaupten strebt, muss er dabei aufgeben. Aber eben dadurch wird er gerettet. Denn bin ich eins mit Christus – wer könnte mich dann von Gottes Liebe trennen? Bin ich eins mit dem Auferstandenen – was kann mir der Tod dann noch tun? Bin ich eins mit Christi Gerechtigkeit – wie sollte mir meine Schuld da noch zum Verhängnis werden? Nein – da gibt es kein Vertun: Wer durch seine Taufe und seinen Glauben ein „Anhängsel“ Christi geworden ist, wird dorthin gelangen, wo auch Christus ist. Er wird das Kreuz Christi mit ihm teilen und sterben. Aber er wird am Ende auch Christi Auferstehung mit ihm teilen und in Gottes Reich eingehen. Darum heißt „glauben“ eben dies: Sich Gott „ergeben“, die weiße Fahne schwenken, sich mit aller Kraft an Christus klammern – und „durchschlupfen“…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Thomas Gerlach (privat)