Gott und Mensch in einer Person?

Gott und Mensch in einer Person?

Immer wenn es auf Weihnachten zugeht, steht man als Pfarrer vor dem Problem, dass man, was da zu sagen wäre, eigentlich nicht sagen kann. Denn wie Gott Mensch wurde und wie sich in der Person Jesu Himmlisches und Irdisches miteinander verbinden – wer könnte das beschreiben oder erklären, wo doch eigentlich Göttliches und Menschliches so weit auseinander liegen? Gott ist unendlich und vollkommen, allwissend, allmächtig und heilig. Wir Menschen sind es aber nicht. Gott ist jederzeit überall gegenwärtig auf unsichtbare Weise. Wir sind immer nur hier oder da – und immer an einen materiellen Leib gebunden. Unterscheiden und trennen können wir das recht gut! Aber die Menschwerdung Gottes zwingt uns ja gerade, Göttliches und Menschliches in einer einzigen Person zusammenzudenken. Beides soll in dem Kind von Bethlehem voll und ganz enthalten sein! Und das ist fast unmöglich. Denn wenn Jesus ein richtiger Mensch ist, der Hunger und Zorn kennt, Freude, Trauer und auch körperlichen Schmerz: wie kann er dann zugleich Gott sein, der doch absolut souverän, unveränderlich und vollkommen ist? Wie kann sich der Herr des Himmels so klein zusammenfalten, dass er – als Menschenkind in die Welt hineingeboren – diesen engen Rahmen nicht sofort wieder sprengt? Davon müssten wir reden, wenn wir von Jesus reden, das ist klar. Doch wir können es kaum sagen – oder, wenn wir‘s sagen, können wir uns nichts Rechtes dabei denken. Denn immer scheint es, als müsse das Göttliche das Menschliche verdrängen oder das Menschliche seinerseits das Göttliche ausschließen. Entweder denkt man sich Jesus als „wahren Gott“, der nur äußerlich wirkt, als wäre er ein Mensch. Oder man denkt ihn als einen „wahren Menschen“, der nur so tut, als wäre er Gott. Trifft man aber das Richtige, dass er nämlich beides ganz ist, ohne dass eins das andere aufhebt, kann man sich‘s kaum noch vorstellen. Denn es scheint, als ob Göttliches und Menschliches wie Feuer und Wasser wären, die sich nicht einfach verbinden oder mischen lassen. Und so haben Theologen dann rund um dieses Wunder tausend Fragen aufgeworfen und sie mühsam zu beantworten versucht. Sie haben sich gefragt, ob die göttliche Natur Jesu sich in ihm auch mit einer richtigen menschlichen Seele verbindet – oder ob sie die Seele bei Jesus vielleicht ersetzt. Sie haben gefragt, ob der Mensch Jesus alle Eigenschaften Gottes besitzt – oder ob er einige Eigenschaften für die Zeit seines Erdenlebens vielleicht „ablegt“, sich ihrer „entäußert“ und sie vorübergehend „ruhen lässt“. Sie betonen, dass in Jesus keinesfalls zwei verschiedene Personen „enthalten“ sind, die dann abwechselnd hervortreten, sondern nur eine „ungespaltene“ Person, in der Göttliches und Menschliches weder vermischt noch getrennt sind. Und so ist dann Göttliches und Menschliches in Jesus so verbunden zu denken, dass die beiden Naturen einander ihre Eigenschaften „mitteilen“, ohne dass sich dabei das Göttliche in Menschliches verwandelte oder umgekehrt. Auch in der wechselseitigen Durchdringung bleibt ein jedes, was es ist. Und doch sind Gottheit und Menschheit nicht nur äußerlich zusammen, wie zwei Bretter, die man miteinander verleimt hat, sondern sie sind in Christus wirklich „eins“. Er ist weder ein Gott, der bloß zum Schein in den Kleidern eines Menschen herumläuft, noch ist er ein Mensch, der in den Kleidern Gottes unterwegs wäre. Und folglich kann man auch seine Werke nicht „aufteilen“, so als gingen die leibliche Geburt und das körperliche Leiden nur die menschliche Natur Christi an, während man seine Wundertaten, Lehren und Verheißungen nur der göttlichen Natur zuschreibt. Sondern, woher die jeweilige Eigenheit oder Kraft auch stammen mag, tut doch die göttliche Natur nichts ohne das Zutun der menschlichen oder umgekehrt, so dass letztlich alles Tun und Erleiden Christi seiner ganzen Person zuzuordnen ist und nichts davon bloß einem „Teil“ derselben. Gelehrte Männer der Kirche haben unendliche Mühe drauf verwandt, das möglichst präzise auszudrücken. Und an den Büchern zu diesem Thema hätte man ein Leben lang zu studieren. Doch – wird‘s davon wirklich anschaulich? Oder hilft es dem Glauben? Bleibt es nicht trotzdem ein Geheimnis, wie Gott Mensch wurde? Ich empfinde Hochachtung für die theologischen Lehrer, die es so klar wie möglich durchdenken wollten. Aber so recht einleuchtend beschreiben können sie’s doch nicht. Und ich für meinen Teil kann mit einem unerklärlichen Rest ganz gut leben. Denn ich lege zwar größten Wert darauf, dass Gott durch Christus verbindlich handelt und redet – daran lasse ich nicht wackeln! Doch „wie“ er das genau anstellt, dass er Mensch wird und dabei nicht aufhört, Gott zu sein – dieses Geheimnis muss ich nicht ergründen. Denn es ist ja nicht der einzige Fall, in dem die menschliche Sprache (die sonst für alles treffende Worte findet) vor Gottes Tun verstummt. Man wird das der Sprache nicht vorwerfen – und Gott noch viel weniger. Aber dass unser Vorstellungsvermögen mit der Beschreibung des Göttlichen überfordert ist: muss uns das wundern? Vielleicht scheint es ihnen ein gedanklicher Sprung zu sein. Aber mir fällt bei solchen Gelegenheiten immer die Sache mit den Windrichtungen ein. Überlegen sie mal: Gibt es einen Ort auf der Welt, wo der Wind immer von Norden kommt? Vielleicht würden sie das nicht ganz ausschließen. Ich behaupte aber zugleich, dass an diesem Ort der Wind auch immer in Richtung Norden weht! Na, das ist aber doch Unfug, werden sie sagen. Wenn der Wind aus dem Norden kommt, weht er zwangsläufig nach Süden – das kann nicht anders sein! Derselbe Wind, der aus Norden kommt, weht gewiss nicht nach Norden! Doch ich behaupte, dass an jenem Ort der Nordwind, selbst wenn er sich dreht, immernoch aus dem Norden weht, und – wie weit er sich auch drehen mag – doch niemals nach Süden weht. Denn der Ort, von dem ich spreche, und an dem es sich wirklich so verhält, ist der Südpol. Wenn man am Südpol steht, kann man sich um die eigene Achse drehen so viel man will: da ist in jeder Richtung Norden! Darum kommt auch jeder Wind, der den Südpol erreicht, aus dem Norden. Und jeder Wind, der über den Südpol hinweggestrichen ist, geht auch nach Norden – wie übrigens auch jeder Wind, der den Nordpol erreicht, aus dem Süden kommt und vom Nordpol aus nach Süden weht. So paradox es aber klingen mag, bedeutet das doch nicht, dass mit dem Wind etwas nicht stimmte, dass er irgendwie „anders“ wäre als anderswo oder dass es diesen Wind gar nicht gäbe. Sondern es besagt nur, dass unser übliches System, wie wir Windrichtungen beschreiben, an diesen beiden Standorten nicht zu gebrauchen ist. Überall sonst funktioniert es wunderbar und macht eindeutige Angaben, weil ein Wind, der von Westen kommt, garantiert nach Osten bläst. Nur an den beiden Polen gilt das nicht – und da versagt das Beschreibungssystem, weil es anscheinend behauptet, der Wind wehe dorthin, woher er kommt. Am Nordpol ist in jeder Richtung Süden, und am Südpol ist in jeder Richtung Norden. Der Kompass bestätigt das und zwingt damit den Nutzer zu scheinbar widersprüchlichen Aussagen. Doch was besagt das schon? Dürfte ich folgern, dass ein Nordwind, der nach Norden weht, ein logischer Widerspruch ist und es ihn daher gar nicht gibt? Oder dürfte ich folgern, das übliche System zur Beschreibung von Windrichtungen tauge generell nichts und sei zu verwerfen, nur weil es an den Polkappen nicht taugt? Beides wäre falsch und überzogen! Denn der Wind am Südpol ist ganz normaler Wind. Er weht nicht wirklich in die Richtung, aus der er kommt. Und auch unser übliches Beschreibungssystem für Windrichtungen ist prima. Überall sonst auf der Welt macht es eindeutige Angaben. Nur an den Polen darf man nicht erwarten, dass es funktioniert. Und wenn sie mir erlauben, wieder zurückzuspringen: ich meine, dass es sich mit Gott und den Begriffen unserer Sprache ganz ähnlich verhält, dass nämlich unsere Art des Verstehens und Beschreibens völlig in Ordnung ist und nur im Falle Gottes (bei diesem besonderen Gegenstand) versagt, so dass man Dinge widersprüchlich ausdrückt, die für Gott keineswegs widersprüchlich sind. Dass Gott Mensch werden und dabei Gott bleiben kann, klingt erst mal genauso unsinnig, wie dass ein Südwind von Süden kommend nach Süden weht – und nach einer Drehung um 90 Grad immer noch von Süd nach Süden weht. Doch was absurd klingt und sonst nirgends auf der Welt vorkommen kann, ist am Nordpol real. Und was unser Alltagsverstand sich nicht denken kann, vermag Gott trotzdem zu tun. Wir bekommen das zwar im Kopf nicht sortiert. Da scheinen uns Göttliches und Menschliches unvereinbar wie Feuer und Wasser. Und wenn wir erklären sollen, wie Gottes Wort „Fleisch“ wird in einer Krippe zu Bethlehem, stottern wir hilflos herum. Doch besagt das weder etwas gegen die Menschwerdung Gottes, noch besagt es viel gegen unseren Verstand, sondern besagt eben nur, dass die zwei nicht gut zusammenpassen. Menschliche Begriffe und Vorstellungen sind normalerweise ein verlässlicher Kompass. Aber wenn Gott Verblüffendes tut, versagen sie. Und das Versagen in solch einem Sonderfall werfe ich auch meinem Kompass nicht vor. Auf der ganzen Welt ist er zuverlässig. Nur am Südpol behauptet er, überall sei Norden, und am Nordpol sagt er, überall sei Süden. Er lügt ja auch nicht! Und wenn er an diesen speziellen Standorten trotzdem nutzlos wird, ist es nicht seine Schuld. Dasselbe lasse ich aber gelten für die menschliche Logik in Bezug auf Jesus Christus. Denn da steht unser Verstand „wie der Ochs vorm Scheunentor“ und wird nie verstehen, wie das Unendliche im Endlichen enthalten sein kann. Doch muss ich das auch nicht verstehen – und halte trotzdem daran fest, dass ich es in Jesu Worten mit Gottes Worten und in Jesu Taten mit Gottes Taten zu tun haben. „Wie“ Himmel und Erde in einer Person zusammengehen, mag ein Betriebsgeheimnis Gottes bleiben. Denn als Mensch kann ich damit leben, dass meine Vorstellungskraft Grenzen hat. Wenn Gott es für nötig hielte, würde er uns das Innenleben Jesu sicher restlos erklären. Hält er’s aber nicht für nötig, können wir uns damit begnügen, das Wunder der Menschwerdung fröhlich zu bezeugen. Denn dessen Pointe liegt ganz woanders: Gott hat es geschafft, auf wunderliche Weise unser irdischer Bruder zu werden, und hat in Jesus Christus Gegensätze überbrückt, die wir nicht mal gedanklich verbinden können. Gott steht uns nun menschlich zur Seite! Und das ist genug, um uns Frieden zu schenken. Wenn aber der Versuch, die himmlischen Wege mit irdischen Gedanken nachzuvollziehen, nur dazu führt, dass wir uns in den eigenen Begriffen verheddern, dürfen wir herzlich drüber lachen und dürfen sagen: Gott sei Dank! Was für ein Glück, dass unsere Erlösung nicht davon abhängt, dass wir sie restlos verstehen. Und Gott sei Dank, dass die Grenzen unserer Vorstellung nicht die Grenzen seines Erbarmens sind! Gottes Gnade reicht weiter als unsere Gedanken. Seine Gedanken sind auch viel höher. Aber es sind Gedanken des Friedens. Und das ist gut zu wissen.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Christ Acheiropoietos

A 12th-century Novgorod icon from the Assumption Cathedral in the Moscow Kremlin

Tretjakow-Galerie, Public domain, via Wikimedia Commons