Die Selbstdurchsetzung der Liebe
Wurde Gottes Liebe am Kreuz erkauft – oder zahlte sie den Preis?
Die Christenheit gedenkt am Karfreitag des Kreuzestodes Jesu und versteht ihn dabei als ein sinnvolles und zur Erlösung der Sünder notwendiges Opfer: Jesus trug am Kreuz nicht seine Strafe, sondern unsere, er litt, was wir verdient hatten, er trat als Unschuldiger an die Stelle der Schuldigen und opferte sein Leben, erwirkte damit aber für uns vollkommene Vergebung, löste den Konflikt, den wir mit Gott hatten, und schenkte uns die Freiheit, trotz all unserer Fehler doch Kinder Gottes sein zu dürfen. Allerdings werden oft Stimmen laut, die eben diese Botschaft in Zweifel ziehen und damit nicht wenige Christen verwirren, weil sie behaupten, der Tod Jesu sei zur Erlösung gar nicht nötig gewesen. Man kann dann hören, Gott sei kein blutrünstiger Despot und er brauche darum auch kein Menschenopfer, um Sündern ihre Sünden vergeben zu können. Vielmehr sei Gott schon immer ein Gott der Liebe gewesen, der „einfach so“ aus Freundlichkeit vergeben kann – und die Vorstellung, Gottes Sohn habe durch das blutige Opfer der Kreuzigung die Liebe Gottes erst erkaufen und herbeiführen müssen, sei darum ganz abwegig. Denn eigentlich, sagen diese Stimmen, gäbe es in dieser Sache nur zwei Möglichkeiten: Entweder glaubt man an einen tyrannischen Gott, der zornig und hasserfüllt auf seine Geschöpfe schaut, und durch ein blutiges Opfer umgestimmt und besänftigt werden muss. Jesus muss ihm die Vergebungsbereitschaft dann quasi um den Preis seines Lebens abkaufen und damit bei Gott eine Liebe erwirken, die vorher nicht da war. Oder man glaubt an einen liebevollen Gott, der von Anfang an barmherzig und gnädig ist, und der eben darum – weil er nichts als Liebe ist und jedem einfach so vergibt – auch die Kreuzigung seines Sohnes nicht gebraucht und nicht gewollt hat. Im ersten Fall würde der Zorn unser Bild von Gott beherrschen. Im zweiten Fall eine selbstverständliche Liebe. Und weil wir das Letztere viel sympathischer finden, neigen wir dazu, die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod Jesu als ein Relikt düsterer, mittelalterlicher Theologie abzulehnen. Selbst hochrangige Kirchenvertreter tun das heute!
Doch wenn diese Stimmen Recht hätten, was wollten wir dann mit dem Neuen Testament machen? Wollen wir etwa annehmen, Johannes der Täufer habe sich geirrt, als er Jesus traf und sagte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“? (Joh 1,29) Oder hat Jesus etwa selbst geirrt, als er beim Abendmahl sprach: „Das ist mein Blut…, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“? (Mt 26,27–28) Nein. Natürlich hat Jesus sich nicht geirrt. Und es wäre eine Lästerung, anzunehmen, der Tod, den Jesus bewusst auf sich nahm, sei überflüssig gewesen. Darum lassen wir uns besser nicht auf’s Glatteis führen, sondern machen uns klar, wie die Liebe Gottes mit dem Sühnetod Jesu tatsächlich zusammenhängt. Es ist nämlich weder so, dass ein liebloser und zorniger Gott durch das Kreuz erst Liebe lernen musste, noch verhält es sich so, dass Vergebung und Erlösung ohne das Kreuz möglich gewesen wären. Sondern nur so können wir den Zusammenhang begreifen, dass Gottes Liebe – die natürlich von Anfang an da war! – im stellvertretenden Tod Jesu den einzig möglichen Weg gefunden hat, um Gottes liebevollen Willen zur Versöhnung gegen seinen sehr berechtigten und sehr realen Zorn durchzusetzen. Dabei ist unbedingt festzuhalten, dass die Liebe Gottes von Anfang an da war! Denn was hätte Gottes Motiv sein sollen, Mensch zu werden und für die Sünder zu sterben, wenn nicht die Liebe zu diesen Sündern? Was hätte wohl Gott zu diesem Schritt bewegen können, wenn in ihm nichts als Zorn gewesen wäre?
Natürlich war die Liebe schon vor dem Kreuz da. Sie verdankt sich nicht dem Kreuz. Sie ist nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung des Heilswerkes. Nur, wie hätte diese Liebe zum Zuge kommen können – ohne das Kreuz? Wie hätte Gottes Liebe den verlorenen Menschen erreichen sollen, wenn sie keine Lösung gefunden hätte für das Problem der menschlichen Sünde und des göttlichen Zornes? Gottes Liebe war natürlich da! Sie war nicht aus Gott verschwunden – wie auch wir einen Menschen sehr wohl lieben können, während wir mit ihm zerstritten sind. Aber was nützt diese Liebe, wenn ihr ein wahrhaft abgründiger und berechtigter Zorn unbewältigt gegenübersteht? Was nützt so eine Liebe „aus der Distanz“, wenn sie ein bloßes Gefühl bleibt, wenn sie keinen Ausdruck findet und die zerbrochene Beziehung nicht heilen kann?
So war auch Gottes Liebe längst vorhanden vor dem Kreuzesgeschehen. Aber durch den Konflikt, den der menschliche Ungehorsam heraufbeschworen hatte, kam sie nicht zum Zuge und hätte uns rein gar nichts genützt, wenn das Gefühl nicht zur Tat geworden wäre: Gottes Liebe musste erst in Christus den Weg des Kreuzes gehen, um den Fluch zu brechen, der auf uns lag. Gottes Liebe musste erst unsere Schuld sühnen und unsere Rechnung begleichen, bevor sie sich als Liebe gegen alle Hindernisse durchsetzen konnte. Und einfacher wäre es nicht gegangen. Denn die Schuld Adams wog viel zu schwer, als dass man mit einem Federstrich hätte darüber hinweggehen können. Bei aller Liebe musste auch Gottes Gerechtigkeit Genüge geschehen. Doch war’s kein anderer als Gott selbst, der den Preis dafür bezahlte.
Gott verhängte über sich selbst die Strafe, die wir verdient hatten, und litt lieber selbst, als uns leiden zu sehen. Weil aber nur so – und nicht anders – seine Liebe zum Zuge kommen konnte, darum war das Kreuz Christi notwendig als ein Akt der Selbstdurchsetzung der Liebe. Und darum hat Gott das Kreuz auch gewollt. Nicht weil er es für sich selbst gebraucht hätte, sondern weil er es für uns brauchte, um uns Frieden zu schenken, Vergebung und Versöhnung. Kurz gesagt: Gottes Wille zur Vergebung machte das Kreuz nicht überflüssig, sondern gerade der Wille zur Vergebung machte das Kreuz nötig. Jene Theologen aber, die heute den stellvertretenden Tod Jesu in seiner Heilsnotwendigkeit leugnen, verwirren damit die Gläubigen und leisten ihrem Herrn einen schlechten Dienst…
Bild am Seitenanfang: Christ Crowned with Thorns
Hieronymus Bosch, Public domain, via Wikimedia Commons