Jesus Christus am Tiefpunkt
Nicht nur Menschen haben seltsame Schicksale – auch Begriffe haben manchmal seltsame Schicksale. Zu gewissen Zeiten sind diese Worte in aller Munde. Und zu anderen Zeiten verschwinden sie aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. Mal haben sie Konjunktur, so dass man sie überall hört und liest. Und dann werden sie wieder unüblich, ja werden geradezu gemieden. Ein solches Wort mit seltsamem Schicksal ist das Wort „Hölle“. Für Jesus war die Existenz der Hölle eine Selbstverständlichkeit. Der Bibel folgend sprach die Kirche des Mittelalters viel von der Hölle. Und die Reformatoren taten es auch. In den alten Liedern unseres Gesangbuches stoßen wir häufig auf dieses Thema. Nur in der Theologie der Gegenwart wird die „Hölle“ schamhaft verschwiegen. Und in den Predigten der Gegenwart hört man höchst selten davon. Denn das Wort „Hölle“ ist dabei, aus der Kirchensprache der Gegenwart zu verschwinden. Es hat bei modernen Pfarrern keine Konjunktur, weil es zu oft missbraucht worden ist, um Menschen Angst einzujagen. Aber komischerweise – das von den Theologen gemiedene Wort verschwindet nicht einfach, sondern macht in der Alltagswelt Kariere. Jenseits der Kirchenmauern hat man sich nämlich des Wortes angenommen. Da werden in der Werbung Autos angepriesen mit dem Hinweis, sie seien „höllisch schnell“ oder sogar „teuflisch gut“. Und oft genug sieht man dabei lustige kleine Teufel mit roten Hörnern auf dem Kopf und dreigezackten Spießen in der Hand. Motorradfahrer schreiben sich auf die Jacke, sie seien „Hells Angels“ – „Höllenengel“. Actionfilme tragen den Titel „Die durch die Hölle gehen...“. Und wenn Jugendliche sich streiten, hört man schon mal den Fluch „Fahr‘ zur Hölle...“.
Dabei ist natürlich viel Gedankenlosigkeit im Spiel. Und doch hat das Ganze einen ernsten Hintergrund. Denn es hat heute den Anschein, als sei die Hölle aus der Vorstellungswelt der Religion ausgewandert und sei eingewandert in den Erfahrungshorizont des Alltags. Es scheint, als werde sie nicht erst jenseits erwartet, sondern schon diesseits erfahren. Denn mancher, der gar nicht besonders religiös ist, spricht heute von der Hölle wie von etwas, das er aus eigener Erfahrung kennt. Von Kriegsteilnehmern, die den Russlandfeldzug mitgemacht haben, kann man den Satz hören: „Das war die Hölle damals“. Und von Entführungsopfern liest man in der Zeitung, sie hätten in der Hand ihrer Entführer „Höllenqualen“ durchgemacht. Ist so etwas dann nur eine unangemessen-übertriebene Ausdrucksweise?
Nein. Ich meine, bei mancher Schreckensnachricht, die uns erreicht, kann man wirklich auf den Gedanken kommen, die alten Grenzen hätten sich verwischt, und die Hölle rage an vielen Stellen schon in unsere Welt hinein. Es scheint, dass sie uns nicht erst jenseits erwartet, sondern uns schon in diesem Leben sehr konkret auf den Leib rücken will. Das biblische Zeugnis wird dadurch nicht einmal in Frage gestellt! Es gibt jene Hölle, von der Jesus spricht. Es gibt die Hölle als Ort der Verwerfung und der Gottferne. Es gibt die Unterwelt, die uns nach dem Tod erwarten könnte. Aber im Grunde hat unsere politische Gegenwart die jenseitige Hölle verblassen lassen, und hat sie durch menschliche Grausamkeiten in den Schatten gestellt. Denn die diesseitige Hölle, die Menschen einander bereiten, übertrifft alle Vorstellungen, die die Gläubigen sich einst von der jenseitigen Hölle machten. Wir brauchen heute gar keine Teufel mit Hörnern, mit Dreizack, mit Bratrost und Feuer mehr. Wir haben Geheimdienste, die über feinere Folterwerkzeuge verfügen. Wir haben Folterkeller und Arbeitslager auf der ganzen Welt, wir haben die chinesischen Gefängnisse und die afrikanischen Hungergebiete. Es gibt die Slums von Südamerika und die Kinderbordelle in Thailand. Wir haben Auschwitz hervorgebracht und Hiroshima, wir haben Napalmbomben auf Vietnam geworfen, haben die Welt mit Minen übersäht und haben den Giftgaskrieg erfunden. Ja du liebe Zeit, könnte man denken, was brauchen wir da noch eine Hölle: Wir haben doch uns!
Wir haben es geschafft, dass die Hölle nur noch ein paar Flugstunden entfernt ist. Aber man muss nicht einmal reisen. Gehen sie nur mal in die Psychiatrie – da hat mancher die Hölle im Kopf. Gehen sie auf die Krebsstation – da hat mancher die Hölle in den Knochen. Gehen sie nur zwei Häuser weiter, da hat mancher die Hölle in der Familie, weil Eheleute sich gegenseitig zerfleischen. Und wenn man sich das lang genug anschaut, ist man geneigt, Jean Paul Sartre recht zu geben, der sagte: „Kein Rost ist erforderlich, die Hölle, das sind die anderen.“
Wenn das aber schon die Philosophen gemerkt haben, was sagen wir dann als Christen dazu? Mir persönlich ist an diesem Punkt eine alte, halbvergessene christliche Lehre wichtig. Nämlich die Lehre von der Höllenfahrt Christi. „Davon habe ich noch nie gehört“ werden viele sagen. Aber sie täuschen sich. Denn da, wo es im modernisierten Text unseres Glaubensbekenntnisses heißt, Christus sei „gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes...“, da hieß es früher: Christus ist „niedergefahren zur Höllen...“. Gemeint ist, dass Jesus Christus nach der Kreuzigung nicht einfach tot im Grab gelegen hat. Sondern in der Zeit zwischen Karfreitag und dem Ostermorgen ist Christus hinabgefahren an den Ort der Toten und der Verdammten. Er ist in der Hölle gewesen. Er ist durch die Hölle gegangen. Nach dem Zeugnis des 1. Petrusbriefes hat er „gepredigt den Geistern im Gefängnis“ und hat „auch den Toten das Evangelium verkündigt“. Und erst dann – als diese unterste Talsohle der Passion durchschritten war – ist Christus auferstanden von den Toten und ist aufgefahren zum Himmel, um zur Rechten des Vaters zu sitzen. Von dieser Höllenfahrt Christi wissen die meisten Christen nichts mehr, obwohl unser Glaubensbekenntnis davon spricht. Ich halte das aber für einen großen Verlust.
Denn erst die Höllenfahrt Christi macht ganz deutlich, dass Christus den Weg seiner Passion wirklich bis in die tiefste Tiefe gegangen ist. Er ist nicht nur ein bisschen gestorben, nicht nur zum Schein, sondern richtig. Aus großer Liebe zu uns hat er auch diese Konsequenz seiner Menschwerdung auf sich genommen. Und als Juden und Römer ihn zur Hölle schicken wollten, hat er sich nicht verweigert, sondern ist zur Hölle gegangen, um auch unsere Verdammnis stellvertretend für uns zu tragen und auch hier den Fluch zu brechen, der auf uns lastete. Er wollte auch diese Plage zu seiner Plage machen, um die Fackel seines Lichtes noch in die äußerste Finsternis hineinzutragen. Er ist heruntergekommen bis an den Ort der Verdammten, damit selbst sie ihn als Bruder an ihrer Seite erfahren könnten. Und das ist besonders tröstlich im Blick auf die Toten, die zu ihren Lebzeiten nichts von Gottes Gnade erfahren haben. Denn das hat sich sicher jeder schon einmal gefragt: Was ist mit den abertausend Menschen, die vor Christus lebten und darum keine Chance hatten, ihn kennenzulernen? Was ist mit denen, die auch heute nicht das Evangelium hören, weil sie irgendwo leben, wo die Mission nicht hinkommt? Sind die alle verloren?
„Nein!“ können wir sagen, wenn wir von der Höllenfahrt Christi wissen. Sie sind nicht zwangsläufig verloren, denn Christus hat im Reich des Todes auch denen gepredigt, die vor seiner Zeit starben. Und wenn er die nicht vergaß, so wird er wohl auch jene nicht ohne Chance lassen, die zeitlebens nichts anderes kennenlernten als heidnische Religionen. Denn auch für sie hat er das Licht des Evangeliums hinuntergetragen in die Unterwelt. Wer das aber zuende denkt, dem geht dabei etwas sehr Schönes auf: Dass nämlich die Höllenfahrt Christi gleichbedeutend ist mit der Zerstörung der Hölle. Gott hat keinen Deal mit dem Teufel – so nach dem Motto: „Du Teufel, kriegst die bösen Menschen für die Hölle – und ich behalte die guten, um mit ihnen den Himmel zu füllen.“ Nein! Sondern als Christus das Tor der Hölle aufbrach und seinen Fuß hineinsetzte, da war klar, dass Gott dem Teufel kein Stückchen dieser Welt überlässt – auch nicht die Unterwelt. Es gibt hier keine abgesteckten Territorien. Und wenn der Teufel auch gemeint haben sollte, dies sei sein Reich, so konnte er den Einbruch in seinen Machtbereich doch nicht verhindern. Christus respektierte die gezogene Grenze nicht, sondern ging mitten hinein in die Höhle des Löwen, um ihm seine Beute wieder zu nehmen. Er nahm alle für sich in Anspruch, die da gefangen lagen – auch die ganz Üblen. Er kam, um alle zu suchen, die verloren sind. Und er machte dem Teufel die Seelen streitig, die er zu besitzen meinte. Als Christus für uns gestorben war, da reichten Gottes Arm und Gottes Liebe plötzlich bis ins unterste Verlies der Hölle. Was aber wird aus der Hölle, wenn da plötzlich Gottes Liebe drinnen wohnt? Was ist das für eine Hölle, in der die Barmherzigkeit Christi erscheint? Wen kann sie noch gefangen halten, wenn Christus die Tür eingetreten hat?
Tatsächlich dürfen wir folgern: Ist Gott selbst in der Hölle, so kann die Hölle nicht mehr Hölle sein. Denn wo Gott ist, ist der Himmel. Und nur wo Gott fern ist, ist die Hölle. Ist Gott aber auch in der Hölle nicht mehr fern, so ist die Hölle nicht mehr, was sie war. Sie ist eine von Christus gestürmte Festung. Die Mauern wackeln, die Feuer verlöschen, der Ofen ist aus – der Teufel ist nicht mehr Herr in seinem Haus. Und ein jeder von uns, der die Hölle vielleicht schon auf Erden erlebt – der die Hölle im Kopf oder die Hölle in den Knochen hat – kann sich damit trösten, dass Christus auch in der Hölle bei uns ist. Leben wir, so ist er da – sterben wir, so ist er da. Fahr‘ ich zum Himmel, so ist er da – fahr‘ ich zur Hölle, so ist er auch da. Ich muss also niemals ohne ihn sein. Denn er, der vom Himmel kam, auf Erden lebte, zur Hölle hinabfuhr, der auferstand und gen Himmel fuhr, hat auf diesem weiten Weg überall die Fahne seiner Herrschaft aufgerichtet. Auch ganz unten an der Talsohle des Weges.
Kein Himmel ist ihm zu hoch und keine Hölle zu tief, als dass er die Seinen dort nicht fände. Was soll also der Kleinmut, was soll das Zittern? Wenn nun aber einer sagt: „Ich sehe ihn doch nicht, ich spür doch nicht Christus bei mir“ – dann muss man ihm das zugestehen. Christi Gegenwart inmitten der irdischen Höllenfeuer will geglaubt sein. Aber man bedenke, dass es uns dabei nicht anders geht, als Christus auch. Auch er ging durch die Hölle, ohne den Beistand seines himmlischen Vaters immer sehen zu können. Er wurde von seinen Gegnern verleumdet und von seinen Jüngern verlassen, er wurde zu Unrecht verurteilt und gefoltert, angespuckt, geschlagen und ermordet. Christus ging wahrhaft durch die Hölle. Und auch er musste glauben, dass der Vater bei ihm war, ohne dass er ihn immer hätte sehen oder spüren können. Auch er musste sein Gottvertrauen gegen den äußeren Augenschein durchhalten. Seien wir also nicht wehleidig, wenn uns Ähnliches zugemutet wird, sondern seien wir froh, dass wir einen Herrn haben, der sich im Himmel, auf der Erde und sogar im Reich des Todes auskennt. Denn mit Christus in der Hölle zu sein, wäre immernoch besser, als mit dem Teufel die Welt zu regieren. Wir werden die Macht Christi erfahren! Sie wird eines Tages sichtbar werden vor aller Augen! Dass wir uns bis dahin aber wappnen mit Geduld und Zuversicht und Treue – dazu helfe uns Gott…
Bild am Seitenanfang: The Harrowing of Hell
Nachahmer von Hieronymus Bosch, Public domain, via Wikimedia Commons