Das Wort ward Fleisch
Wenn jemand die weihnachtliche Botschaft auf den Punkt bringen will, tut er das oft mit dem Vers Joh 1,14: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ Das klingt vertraut, und jeder hat’s schon mal gehört. Aber verstehen wir’s auch? Wessen „Wort“ ist überhaupt gemeint? Wessen Wort „ward Fleisch“? Und was soll daran „herrlich“ sein? Natürlich geht es um Gottes Wort – sein schöpferisches Wort nämlich, das ganz am Anfang die Welt (und später auch uns selbst) ins Dasein rief. „Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht“ (1. Mose 1,3). Und von eben diesem mächtigen Wort aus dem Schöpfungsbericht ist die Rede. Wenn Gott spricht, so geschieht’s. Wenn er gebietet, so steht‘s da (Ps 33,9). Und dementsprechend ist dieses mit höchster Autorität aufgeladene Wort vom folgenlosen Gerede der Menschen zu unterscheiden. Denn Gottes Wort schafft Fakten. Und wie Johannes sagt, wurde auch das Wort selbst zum greifbaren Faktum, denn dieses Wort ward Fleisch. Gottes Wort schafft nicht nur Menschen, sondern nimmt auch selbst die leibliche Gestalt eines Mensch an. Das schöpferische Wort des Schöpfers erscheint inmitten seiner Schöpfung als eine Kreatur unter anderen. Und so mischt sich der Schöpfer selbst in seinem Wort unter die Geschöpfe. Er verleiblicht sich und eignet sich die menschlichen Natur an, samt all ihren Schwächen – nur die Sünde ausgenommen. Der Himmel kommt zur Erde, bleibt dabei aber Himmel. Das Göttliche, obwohl es in irdischer Gestalt erscheint, hört nicht auf göttlich zu sein. Zu Bethlehem in der Krippe liegt die zweite Person des dreifaltigen Gottes. Und schon das ist höchst seltsam und schwer zu denken. Denn Gottes Wort ist ja von Gott gar nicht verschieden, sondern Gott selbst ist sein Wort (Joh 1,1). Der Allmächtige, der es spricht, ist in seinem Wort enthalten. Gott selbst ist das Wort, das er redet. Es in die Welt hinein redend mischt er sich in sein Wort. Mit dem Wort mischt er sich in die Welt. Und sein Wort (als Selbstmitteilung) teilt dabei nicht weniger mit als ihn selbst. Sein Wort ist also nicht bloß „Transportmittel“, sondern ist auch die transportierte Sache – und zugleich ihr Absender. Und wird das Wort dann Fleisch, Leib und Person, so wird Gott Mensch und wechselt die Seiten, um künftig nicht nur ganz „bei sich“, sondern auch ganz „bei uns“ zu sein. Und trotzdem lässt er den Himmel nicht etwa leer zurück. Das Kind von Bethlehem ist Gottes Liebe in Person. Der Herr des Himmels erscheint als Säugling. Er legt sich in den Dreck eines Stalles. Und man könnte sagen, er sähe sich so gar nicht ähnlich. Und doch sieht es einem guten Vater durchaus ähnlich, seine verirrten Kinder nicht in Ruhe zu lassen, sondern ihnen nachzugehen und dafür mancherlei Beschwernis auf sich zu nehmen. Gott hat das eigentlich nicht nötig. Denn er hat ja uns nicht nötig. Die Engel singen schöner und machen weniger Ärger. Und doch kann’s der Vater nicht lassen, uns in Gestalt des Sohnes in unsrer Finsternis aufzusuchen und den Stall unsres Lebens mit seinem Licht zu erleuchten. Wohnt Gott aber mitten unter uns in menschlicher Gestalt – wie sollten wir seine Herrlichkeit dann nicht auch sehen und drüber staunen? Gottes Wort redet uns in unser Leben hinein, indem Gottes Sohn uns zum menschlichen Bruder wird. Er repräsentiert und bezeugt uns den Vater, den wir aus unserem Leben herausgedrängt und fast schon vergessen hatten. Und in der Form war Gottes Zugriff wirklich nicht zu erwarten. Denn schließlich hatten wir uns im Streit mit dem Vater überworfen und die Tür laut genug hinter uns zugeschlagen. Wir wollten auch ohne Gott etwas sein, wollten so autonom sein wie er! Und doch geht er uns nach. Und seine Anrede durch den Sohn ist so unerwartet freundlich, dass der Zuspruch durch Gottes Wort die Hörenden in eine neue Wirklichkeit versetzt. Denn wenn Gottes Wort nicht bloß in den Ohren kitzelt, sondern von den Ohren bis ins Herz hinunterdringt, ist nichts mehr wie zuvor. Das schöpferische Wort weckt dann in uns den Glauben, der eben diesem Wort vertraut. Und selbst unser vergängliches Fleisch und Blut wandelt sich, weil Gottes Wort „Fleisch“ wurde von eben dieser, ganz gewöhnlichen, leiblichen Art. Wenn aber mit Christus Gottes Gnade in der Welt ist – wie kann die Düsternis der Welt dann noch düster sein? Muss die Welt nicht (ein so großes Licht in sich beherbergend) selbst hell werden? Schon klar – man sieht es ihr nicht gleich an. Dem Augenschein nach ist es immernoch unsre alte Welt, die krumm ist, ungewaschen und fragwürdig. Äußerlich merkt man ihr nicht an, dass Gott in ihr Mensch wurde. Doch ist die Welt seither nicht mehr mit sich allein. Und das Bei-Sein Christi verändert unser Da-Sein. Denn Christi Gesundheit hat uns angesteckt. Seit seiner Geburt haben wir einen Helfer zur Seite, dessen Gegenwart der Welt ein neues Vorzeichen gibt. Seit Christus das Verlorene gefunden und sich der Welt angenommen hat, ist sie nicht mehr dieselbe. Und mag es in unsrem Leben auch noch unflätig und gemein zugehen, mag unser Herz immernoch zerrissen, verletzt, verbittert und verängstigt sein, hat sich doch etwas getan. Seit Christus in den Raum trat, ist die Abscheu dem Erbarmen gewichen, und alles erscheint in dem neuen Licht, das Gottes Sohn auf die Dinge wirft. Denn mit ihm hat nun Gott seinen Fuß in jeder Tür. Vielleicht denkt jemand: „Der macht‘s aber kompliziert! Warum erzählt er nicht von Hirten und Schäfchen, von Engeln und Weisen aus dem Morgenland?“ Doch liegt es an der Sache selbst. So vertraut uns die Weihnachtsgeschichte auch ist – sie bleibt derart paradox und staunenswert, dass wir sie hundertmal durchbuchstabieren können und ihr Geheimnis doch nicht zum Verschwinden bringen. Denn „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ Begriffen haben wir diesen Vorgang nie, sind aber dennoch darin einbegriffen! Erfasst haben wir’s nicht, sondern wurden erfasst! Gott hat uns weit über Wissen und Verstehen beschenkt, bevor wir auch nur ahnten, dass wir‘s nötig hätten. Doch sollen wir erklären, womit er uns beschenkt, kommen wir gleich wieder ins Stammeln. Denn es wäre zwar richtig zu sagen, Gott habe uns mit sich selbst beschenkt – der Geber sei zugleich auch das Geschenk und der Überbringer. Doch wie das geht, wissen wir nicht zu sagen, und haben im Grunde keine Ahnung. Wie kann der Allmächtige, der doch alles geschaffen hat, seinerseits von einer Frau geboren werden? Und wie kann der Ewige einen Anfang haben mitten in der irdischen Zeit? Der die Erde mit Pflanzen schmückt und den Himmel mit Sternen bekleidet – der kommt nackt zur Welt, so dass man ihn in Windeln wickeln muss. Und obwohl ihn Himmel und Erde nicht fassen können, wird er zu Bethlehem von den engen Brettern einer Krippe umschlossen. Gottes Sohn ernährt und erhält die ganze Welt – und liegt doch hungrig und bedürftig an seiner Mutter Brust. Er ist allwissend und weise wie der himmlische Vater – und wird in Nazareth doch aufgezogen und unterrichtet wie jedes andere Kind. Er nimmt an Alter zu – so als ob er nicht ewig wäre. Und bei den Erwachsenen findet er Wohlwollen und Gnade – der doch selbst Quelle und Ursprung aller Gnaden ist. Er gehorcht brav seinen irdischen Eltern – obwohl er zugleich über die himmlischen Heere befiehlt. Und obwohl er als vollkommen Gerechter weit über jedem Sünder steht, lässt er sich wie ein armer Sünder von Johannes im Jordan taufen. Nichts Böses ist an dem Nazarener. Und doch wird er vom Teufel ganz ernsthaft in Versuchung geführt. Er, der das Brot ist, hungert. Er, der die Quelle ist, dürstet. Er, der das Licht ist, wird von Finsternis umfangen. Und ausgerechnet der, dem höchste Ehre gebührt, erleidet den schändlichsten Tod. Obwohl er über die denkbar größte Kraft verfügt, nimmt er es auf sich, schwach zu sein. Der König kommt, um seinen Knechten zu dienen. Der Richter mischt sich unter die Beklagten. Der Heilige wäscht seinen Jüngern die Füße. Der Lebendige teilt unser Sterben. Und wozu das alles? Ist es ein Verwirrspiel, bei dem alle ihre Plätze tauschen – ein seltsamer Maskenball, wo jeder als sein Gegenteil erscheint? Nein. Sondern hier, wo das Wort Fleisch wird, und der König mit dem Bettler die Kleider tauscht, geht es um Teilhabe, Identifikation und Gnade. Denn Gott wollte an unserem Tod teilhaben, damit umgekehrt wir an seinem Leben Anteil gewinnen. Gott verschaffte sich Zugang zu uns, damit wir Zugang hätten zu ihm. Er griff nach uns, damit wir ihn begreifen könnten. Und er ging in unsre Finsternis hinein, um sie von innen zu erleuchten. Gott warf sich in den Tod, damit selbst unser Tod noch voller Leben sei. Und er gab uns eine Antwort, die wir nicht verstanden, damit wir endlich lernten, die richtige Frage zu stellen. Gott umarmte die Schmutzigen, damit sie dadurch sauber würden. Und zur Erde hinab sinkend hob er uns in seinen Himmel hinauf. Er eignete sich unsre Schuld an und zog unsren Hass auf sich, damit wir an seiner Liebe teilhaben könnten. Und d.h.: Gott wollte von uns nicht mehr unterschieden und getrennt sein, sondern wollte Mensch werden, damit wir Menschen durch die Vereinigung mit ihm gerettet würden. Gott öffnet die Schleusen, damit unsre Bosheit in seiner Güte untergeht. Er kompensiert unsre Dummheit mit seiner Weisheit. Um unsren Fluch zu brechen, will er uns segnen. Und die fehlende Gerechtigkeit schenkt er uns. Indem er arm wird, macht er uns reich. Und er geht in unsre Verzweiflung ein, um uns mittendrin durch seine Gegenwart zu trösten. Gott sucht unsre Nähe, die für ihn peinlich und schmerzvoll, für uns aber befreiend und beglückend ist. Er geht mit uns eine Verbindung ein, die ihn viel kostet und uns viel bringt. Und wir? Wenn wir das doch höchstens halb verstehen – was halten wir fest, nachdem uns diese verwirrend gute, viel zu große Wahrheit gestreift hat? Zumindest soviel halten wir fest, dass wir daraus Trost und Zuversicht gewinnen. Denn als Wort im Fleisch hat sich Gott uns Fleischlichen zugewandt. Und wir gehen infolgedessen unter einem guten Stern und haben Zusagen von höchster Stelle, die alles ändern. Ja, zugegeben – der Augenschein sagt noch etwas anderes. Dem Augenschein nach gehen wir immernoch krumme Wege in einer krummen Welt voller Dreck, Leid und Kälte. Wir stolpern in Löcher, wir schlagen uns die Knie auf, wir geraten auf Abwege und fallen in Gräben. All zu gern nisten wir uns im Falschen ein. Aber, hey – im Glauben wach geworden und ausgenüchtert gehen wir dann trotzdem wieder unter einem guten Stern und vergessen nicht die Zusagen von höchster Stelle! Wir werden müde, wanken und fallen. Wir verlieren unser Gepäck und verlieren die Orientierung. Wir verlieren Freunde und Begleiter – und zuletzt sogar das Leben. Aber was soll’s? Wenn doch Gottes guter Stern auch dann noch mit uns geht – sollten wir seine Herrlichkeit dann nicht sehen, oder die Fakten vergessen, die Gottes Wort geschaffen hat? Die Engel haben‘s vom Himmel gerufen – und wir sollten so tun, als hätten wir’s nicht gehört? Nein. Der Höchste hat sich uns verbunden, der niemals fallen kann. Der hat sich uns verbündet, den keiner überwindet. Der hält uns an der Hand, der sich nichts nehmen lässt. Unsren guten Stern holt keiner mehr vom Himmel! Und das gibt uns einen derart starken Sinn, das macht uns so frech und mutig, dass selbst die Hölle nicht genug stinken kann, um unsren Geist zu beugen. Ja, Weihnachten ist nicht Zuckerguss, Engelshaar und sanfte Gefühligkeit, sondern es macht renitente Leute mit unverwüstlicher Zuversicht und aufrechtem Sinn! Denn wir wissen zwar auch nicht, was Gott an uns findet. Und wenn uns einer als verdammlich schelten will, müssen wir ihm Recht geben. Aber dennoch hat Gott sein Wort gesprochen, dass er nicht von uns lassen will. Und dieses Wort war kein kurzer Hauch, der schnell verhallt, sondern es ward Fleisch und kam, um zu bleiben. Gottes Sohn wurde unser Bruder. Er begnadigte uns im Namen des Vaters. Er versprach, unser Fürsprecher und Verteidiger zu sein vor jedem Gericht. Und den will ich sehen, der Gott nun Lügen straft, nachdem er solche Zusagen gab! Denn das ist undenkbar. Gott gab uns sein Wort. Er nimmt es nicht zurück. Und wir unsrerseits nehmen ihn beim Wort und behaften ihn dabei, weil er’s genau so haben will. Gott hat den Weg zu uns gesucht – und ist sogar einer von uns geworden. Er hat sich der menschlichen Natur dauerhaft verbunden, damit wir an ihm teilhaben. Er ist nicht bei allen gut angekommen, aber bei uns. Und seine Ankunft bei uns nehmen wir ganz und gar persönlich, weil er sonst enttäuscht wäre. Gottes Wort meint, was es sagt. Wir aber, als die Begünstigten, dürfen künftig der Hölle spotten und dem Teufel eine Nase drehen. Denn wir gehen zwar noch durch ein miefiges Erdenleben und sehen stark nach Verlierern aus. Doch das Ende der Geschichte wird uns bei Christus auf der Siegerseite finden. Und wir freuen uns schon heute dieses Herrn, bei dem wir so viel mehr Liebe erfahren, als wir verdienen. Wenn wir sein Erbarmen aber nicht verstehen und unser Glück nicht fassen können – was soll’s? Wird’s davon etwa geringer? Gott selbst fand es gut, uns mit Gott zu beschenken. Er wird wissen, warum. Wir aber fragen nicht lang, sondern greifen zu, weil wir nichts nötiger haben als ihn. Er schenkt uns einem Mantel, der unsre Blöße bedeckt. Er schenkt uns ein Licht, das unsre Gedanken erhellt. Er wärmt unsre kalten Herzen. Er wäscht unsre wunden Füße. Und wenn uns die Welt endgültig krank macht, öffnet er die Tür, damit wir im himmlischen Hospital genesen können. Die Welt braucht uns nicht. Aber, ätsch – wir brauchen sie auch nicht. Denn wir haben Heimatrecht im Himmel. Und das zu wissen, schenkt uns Gelassenheit, Zuversicht und großen Trotz – ja, das gibt uns eine Stirn, härter als ein Kieselstein (Hes 3,8-9). Denn keiner kann uns nehmen, was wir in Christus haben. Und keiner kann verhindern, dass wir den Rest unsres irdischen Weges unter diesem guten Stern gehen: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Aktuell wohnt es unter uns in Christi Wort und Sakrament. Wer aber sieht seine Herrlichkeit? Die sieht natürlich nur, wer glaubt. Der Unglaube sieht vor lauter Fleisch kein göttliches Wort. Der Unglaube schaut auf Christus, und das Menschliche an ihm verdeckt ihm die Gottheit. Das fleischliche Auge vermag überall nur Fleisch zu sehen. Der Glaube hingegen sieht in Marias Sohn zugleich den Gottessohn. Er erkennt in Jesu Taten Gottes Handschrift. Er sieht in Jesu Wundern Gottes befreiende Macht. Und er hört Jesus reden mit der Autorität des Vaters. Denn Geistliches wird auf geistlichem Wege erkannt (1. Kor 2,6-16). Dem Glauben verbirgt die menschliche Gestalt nicht die göttliche Herrlichkeit, sondern dem Glauben ist gerade sie die Manifestation dieser Herrlichkeit, und in Christus den Heiland erkennend ist der Glaube des Heils auch schon teilhaftig und hat allen Grund zu jubeln. „Christus im Fleisch ist die Leiter zum Vater“ sagt Luther. Dem Himmel aber sei’s gedankt, dass wir davon wissen und so großen Segens teilhaftig sind.
Bild am Seitenanfang: Star of Bethlehem
Elihu Vedder, Public domain, via Wikimedia Commons