Das Wunder der Jungfrauengeburt
Die Jungfräulichkeit Mariens gehört zu den Glaubensthemen, die am häufigsten missverstanden werden. Dabei ist gar nicht schwer zu verstehen, was der Sache nach gemeint ist: Wir können den Evangelien entnehmen, dass Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist, sondern dass Gott an Maria das Wunder einer vaterlosen Zeugung vollbracht hat. Das Kind von Bethlehem ist nicht Josefs Kind, es ist überhaupt keines Mannes Kind, sondern Gottes Kind, das Maria lediglich austrug. Das ist es, was wir bekennen, wenn wir im Glaubensbekenntnis sagen „empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“. Aber wer kann mit dieser Aussage wirklich etwas anfangen? Viele Menschen beginnen verständnislos zu grinsen, wenn man sie auf die Jungfrauengeburt anspricht – sie haben keine Meinung dazu. Und bei denen, die eine haben, gerät man leicht zwischen die Fronten, weil von der einen Seite die Jungfräulichkeit Mariens mit schlechten Argumenten behauptet und von der anderen Seite mit ebenso schlechten Argumenten bestritten wird.
Zu dem Plumpsten, was man von Seiten der Bestreiter zu hören bekommt, gehört das Argument, so etwas wie eine jungfräuliche Geburt könne es gar nicht geben. Die so reden, sind offenbar stolz, zu wissen, wie Kinder normalerweise entstehen. Und ihre Aufgeklärtheit gipfelt in der Einsicht, dass es gewöhnlich ohne einen Mann nicht geht. Mit unbefangener Naivität setzen sie voraus, dass das, was bei uns nicht geht, selbstverständlich auch für Gott unmöglich sei. Sie unterstellen, dass Gott in derselben Weise den Naturgesetzen unterworfen sei wie wir, und folgern messerscharf, dass er dann in all seiner Weisheit nicht in der Lage gewesen sein kann, Maria ohne Zutun des Josef schwanger werden zu lassen. „Das geht doch gar nicht!“ sagt man, freut sich, über die vermeintliche Naivität der biblischen Autoren hinausgewachsen zu sein – und hält die Sache für erledigt.
Dass darin freilich ein gewaltiger Denkfehler steckt, macht man sich nicht klar. Denn offenbar hat, wer die Möglichkeit einer jungfräulichen Geburt von vornherein ausschließt, keinen rechten Begriff von Gott. Wüsste er, wer Gott ist, so müsste ihm auch klar sein, dass Gott kein Gefangener der Naturgesetze ist, die er selbst geschaffen hat. Und es müsste ihm einleuchten, dass ein allmächtiger Schöpfer, der aus nichts Himmel und Erde werden ließ, mit einem so kleinen biologischen Kunstgriff kaum Probleme haben dürfte. Wer also darauf beharrt, eine Jungfrauengeburt sei unmöglich, ist bei der Sache, um die es geht, noch gar nicht angekommen. Allerdings: Die Argumente der Gegenseite sind nicht viel besser, wenn die Verteidiger des Glaubenssatzes nur stur auf den biblischen Buchstaben pochen und verkünden, man müsse blind glauben, weil es geschrieben steht. Wer darauf beharrt, verstehen zu wollen, was er glauben soll, wird von den übereifrig Bibeltreuen schnell zum Abtrünnigen gestempelt. Und gewonnen ist natürlich nichts, wenn sich Behaupter und Bestreiter der Jungfrauengeburt weiterhin im Streit über biologisch Mögliches oder Unmögliches verlieren. Solange man über diese Gesprächsebene nicht hinauskommt, haben auch die Verteidiger des Glaubenssatzes eine schwache Position. Denn das biblische Zeugnis ist, was die Jungfrauengeburt betrifft, keineswegs einheitlich. Das Markusevangelium weiß nichts von einer jungfräulichen Geburt. Paulus erwähnt sie nicht. Und auch das Johannesevangelium schweigt zu diesem Thema. Das biblische Fundament ist vergleichsweise schmal. Warum also halten wir fest an einem Satz, der weder zu beweisen noch zu widerlegen ist?
Ich meine, wir tun es, weil das Bekenntnis zur jungfräulichen Geburt Christ einen tieferen Sinn hat, der bisher noch gar nicht angesprochen wurde. Es schützt unsere Sicht Jesu Christi nämlich gegen jeden Versuch, Christus aus seinem Volk oder seiner Familie abzuleiten und ihn damit als Produkt einer religiösen Entwicklungsgeschichte zu begreifen. Gewöhnliche Menschen sind das Resultat von Erbanlagen, von Erziehung, von gesellschaftlichen Einflüssen und prägenden Erfahrungen. Jesus aber nicht. Josef hat ihn nicht hervorgebracht, und auch das Judentum als Ganzes hat ihn nicht hervorgebracht, sondern Gott hat ihn gesandt. Und das ist es, was der Satz von der Jungfrauengeburt eigentlich festhalten und aussagen will: Dass nämlich das Dasein des Erlösers nicht zu erklären ist aus menschlichen Genen, aus menschlichem Höherstreben oder Fortschreiten. Jesu Botschaft ist nicht herzuleiten aus menschlichem Nachdenken, und sein Werk ist nicht zu verstehen als Gipfelpunkt menschlichen Heldenmutes. Denn in diesem Falle hätte die Menschheit ihren Erlöser selbst hervorgebracht – und hätte sich damit selbst erlöst. Eben das aber stellte das Evangelium gänzlich auf den Kopf. Denn das Evangelium besagt gerade nicht, dass die Menschheit sich in Christus auf ihre höchste Höhe hinaufgeschwungen habe, sondern dass Gott sich in Christus in die tiefste Tiefe hinabgebeugt hat. Christus ist nicht der erste Mensch, dem es gelang, Adams Sünde abzuschütteln und sich aus der Barbarei des Unglaubens emporzuarbeiten. Er ist kein „Spitzenprodukt“ menschlicher Religionsgeschichte, das Gelehrsamkeit und Erziehungskunst eines schönen Tages hervorgebracht haben, sondern er ist Gottes Wunder allein.
Und weil das die eigentliche Pointe unseres Bekenntnisses zur Jungfrauengeburt ist, darum ist dieses Bekenntnis hochaktuell. Denn es setzt allen Versuchen eine Grenze, Christus aus den religiösen Strömungen seiner Zeit zu „erklären“. Viele stoßen sich ja daran, dass Christen ihn „Gottes Sohn“ nennen. Viele möchten ihn lieber einreihen in die lange Liste der jüdischen Propheten, Lehrer und Sektengründer – und möchten ihn damit relativieren. Sie möchten uns Christus präsentieren als einen Menschen, der Gott besonders nahe kam. Unser Bekenntnis lautet aber, dass er Gott war und den Menschen besonders nahe kam. Das ist ein gravierender Unterschied! Denn wäre der Erlöser ein Produkt der Menschheit, so müsste in der Bibel stehen, in Christus habe sich die Menschheit mit Gott versöhnt. Es heißt dort aber, dass Gott sich in Christus mit den Menschen versöhnte.
Das eine wäre der triumphale Aufstieg der Menschheit zu Gott. Das andere ist das barmherzige Herabsteigen Gottes zu den Menschen. Und nur dies letztere ist Grundsatz des Glaubens. Zu Recht wird also in den Weihnachtsliedern die Jungfrauengeburt besungen und verkündigt. Zu Recht halten wir an ihr als einem Bestandteil unseres Glaubensbekenntnisses fest. Nur, dass man sich dabei nicht aufs Glatteis begeben sollte, so als ob es um gynäkologische Besonderheiten Marias ginge. Nein. Das eigentliche Wunder ist nicht die Jungfrauengeburt als solche, sondern das eigentliche Wunder ist Gottes Entschlossenheit, sich mit der Menschheit zu verbinden. Sein Motiv war Liebe, sein Weg führte durch den Schoß der Maria, sein Ziel aber waren wir, die wir seine Nähe nötig haben…
Bild am Seitenanfang: The Annunciation
Henry Ossawa Tanner, Public domain, via Wikimedia Commons