Menschwerdung und Liebe Gottes

Menschwerdung und Liebe Gottes

Was gibt es an Weihnachten zu feiern? 

Wenn Christen Weihnachten feiern, denken sie an Geschehnisse, die sich zeitlich und räumlich weit entfernt in Bethlehem ereignet haben. Wir überbrücken dann innerlich 2000 Jahre – und erwarten trotz der großen Entfernung, dass uns das Geschehen nahe kommt. Doch was diese Geburt mit uns zu tun hat – ist das so leicht zu sagen? Das Weihnachtsthema scheint durch gedankenlose Verwendung völlig abgegriffen und banalisiert zu sein. Jeder verbindet damit, was er gerade will. Das Fest wird überlagert von sentimentalen Klischees und Missverständnissen. Und trotzdem meinen viele, sie wüssten ganz genau, was es mit Weihnachten auf sich hat! „Ist doch klar“, sagen sie. „Jesus hat eben Geburtstag. Und was weiter? Gott wurde Mensch? Und was habe ich davon? Er bringt mir Frieden? Und warum merke ich nichts davon? Er kommt aus Liebe zu mir? Und warum erfüllt er dann nicht meine Wünsche?“

Da rauft man sich die Haare – und fragt sich doch vergeblich, wie so viel Unverstand zurechtzurücken wäre. Denn tatsächlich wurde Gottes Sohn ein Mensch, um Probleme zu lösen, von denen die meisten gar nicht mehr wissen, dass sie sie haben. Jesus kommt, um den Kindern Adams und Evas unter Einsatz seines Lebens aus einer verzweifelten Lage zu helfen. Und wäre es einfacher möglich gewesen, so hätte er sich den Weg von der Krippe bis zum Kreuz gewiss erspart. Aber wenn der Mensch meint, er sei doch ganz „o.k.“, und nur die Welt sei schlecht, wenn er meint, sein Hauptproblem sei die Wirtschaftskrise oder die schmerzende Bandscheibe, wenn seine Gedanken nur um die Heizölpreise kreisen oder um das Fernsehprogramm – wird er dann mit dem Kind von Bethlehem viel anfangen können? Das ist sehr unwahrscheinlich! Denn Jesu Geburt ist Gottes Antwort auf eine Frage, die wir gar nicht mehr stellen. Und um sie recht zu verstehen und ihr Gewicht von ferne zu ermessen, müsste der Mensch sich erst einmal über seine Situation klar werden. Die weihnachtliche Feierlaune müsste ihm vergehen, und er müsste seine Verlorenheit spüren. Die Fassade seines Lebens müsste zerbrechen, so dass er seiner Not angesichtig würde, seiner Schuld, seiner Angst und seiner Vergänglichkeit. Der Mensch müsste erkennen, welch bodenloser Abgrund, welche tiefe Schlucht ihn von Gott trennt. Und erst angesichts dieser Entfernung, angesichts des Höllenschlunds unter seinen Füßen, könnte er dann ermessen, was da an Weihnachten geschieht, wenn Gott über den tiefen Abgrund hinübergreift, um den Verlorenen auf der anderen Seite hilfreich nahe zu sein.

Gott tut, was wir niemals könnten, und was wir auch dann nicht täten, wenn wir es könnten. Denn Gott tut, was er nicht nötig hat, verbindet sich mit der Menschheit auf’s innigste – und macht damit unsere Probleme zu seinen. Gott ergreift unsere Partei und teilt unser Schicksal, er wird einer von uns, er tritt an unsere Seite und beugt mit uns den Rücken unter die Last, die wir uns aufgeladen haben. Gott sieht die Menschheit in ihrer ewigen Gier nach Lust, in ihrer Gleichgültigkeit und Schuld, in ihrer Oberflächlichkeit und Brutalität – und er hätte hundert Gründe, sich angeekelt abzuwenden. Er hätte tausend Gründe, uns einen Tritt zu geben, der uns endgültig ins „Aus“ befördert! Doch stattdessen tut er etwas wunderbar Verblüffendes und antwortet auf die Ablehnung durch seine Geschöpfe mit einer geradezu zärtlichen Geste. Denn Gott schlüpft in unsere Haut, um an unserer ausweglosen Situation teilzuhaben. Er sieht uns auf verlorenem Posten und könnte sich angewidert umdrehen. Er hätte es nicht nötig, sich länger mit uns zu beschäftigen. Er könnte uns einfach den Folgen unseres Eigensinns überlassen. Aber er entschließt sich, unser Bruder zu werden. Statt sich zu distanzieren, will er an unserem Schicksal teilhaben. Er umgeht unsere Abwehr und wechselt überraschend die Seite. Er stellt sich vor die, die für sich selbst nicht geradestehen können. Und er tut das alles in dem vollen Bewusstsein, dass er wenig später auf Golgatha den Kopf für uns hinhalten wird. Denn vor der Krippe gähnt schon das Grab. „Mitgefangen – mitgehangen“ werden bald die Spötter rufen. „Das hat er nun davon, dass er Mensch wurde!“ Das hat Gott davon, dass er nicht mehr unterscheiden wollte zwischen unserer Not und seiner Not. Das hat er davon, dass er unser Bruder wurde! Er aber wusste das von Anfang an – und wollte es trotzdem. Denn was ihn trieb, war herzliche Liebe und großes Erbarmen.

Aber versteht das ein jeder? Wird es nicht immer mehr zum Geheimnis in dieser materialistischen und selbstgefälligen Welt? Vermutlich lässt sich Weihnachten noch am ehesten begreifen, wenn man für das himmlisch-große Geschehen irdisch-kleine Gleichnissen findet. Und darum bin ich froh, dass mir bei Meister Eckhart, einem Mystiker des Mittelalters, eine Geschichte begegnet ist, die den Kern der Sache trifft.

Meister Eckhart erzählt von einem Ehepaar, das sich von Herzen liebt. Und wie es sein soll, ist der Mann sehr stolz auf seine schöne Frau, und die Frau ist stolz auf ihren stattlichen Mann. Doch eines Tages geschieht der Frau ein Unfall, bei dem sie ein Auge verliert. Und darüber ist sie sehr traurig. Der Mann kommt zu ihr und sagt: „Meine Liebe, warum bist du so schrecklich traurig? Mit etwas Hilfe kommen wir doch zurecht. Du sollst nicht so traurig und verzweifelt sein, weil du ein Auge verloren hast!“ Doch die Frau spricht: „Mein lieber Mann, ich bin nicht traurig, weil ich das Auge verloren habe. Aber ich bin verzweifelt, weil ich dir so einäugig nicht mehr gefallen kann, und du mich nun gewiss weniger lieb hast als früher.“

Er widerspricht und ruft: „Aber, nein! Ich habe dich deswegen doch nicht weniger lieb!“ Sie hört das auch gern, lächelt aber traurig. Denn tief in ihrem Herzen kann sie es nicht glauben, und so oft er auch seine Liebe beteuert, verbirgt sie sich doch vor ihm, schließt sich ein, schämt sich ihr Gesicht zu zeigen und versinkt immer mehr in ihrem Kummer. Ihr Mann jedoch, der das irgendwann nicht mehr ertragen kann, denkt nach, fasst sich eines Tages ein Herz, und sticht sich selbst ein Auge aus. Er geht zu seiner Frau und sagt: „Meine Liebe, damit du nun glaubst, dass ich dich liebe, habe ich mich dir gleich gemacht. Schau her, ich bin jetzt ganz wie du und habe auch nur noch ein Auge, und es ist kein Unterschied mehr, der uns trennen könnte.“

„So ist der Mensch“ schließt Meister Eckhart seine Geschichte. „Denn auch der Mensch konnte nicht glauben, dass Gott ihn lieb habe, bis dass Gott sich selbst ein Auge ausstach und menschliche Natur annahm zu Bethlehem...“

Ob es jenes Ehepaar wirklich gegeben hat, weiß niemand – und es ist auch ganz egal. Denn so oder so ist die Geschichte ein treffendes Gleichnis für das Wunder von Bethlehem. Auch wir sind nämlich entstellt und sind einäugig. Je besser wir uns selbst kennen, um so weniger können wir glauben, dass Gott uns liebt. Nichts spräche dafür, dass Gott, dem wir die Treue brachen, uns die Treue halten sollte, wenn Gott sich uns nicht ganz gleich gemacht und sich durch die Menschwerdung unser klägliches Leben angeeignet hätte. Wie in Eckharts Geschichte, konnte das niemand erwarten. Aber jener Ehemann brachte ein großes Opfer, um seiner Frau wieder nahe zu sein. Und auch Gott brachte ein solches Opfer, als er sich mit uns auf eine Ebene begab. Es war ihm lieber, unsere Not mit uns zu teilen, als getrennt von uns in Herrlichkeit zu leben. Denn eine andere, eine schmerzfreie Lösung, hätte es nicht gegeben. Wir Kinder Adams und Evas hatten unser Leben verwirkt. Wir waren ausgegrenzt und verächtlich, waren nicht, wie wir sein sollten, und trugen das Kainsmal an der Stirn. Gott hätte sich mit Fug und Recht abwenden können – und Satan, der nur darauf wartete, rieb sich die Hände! Doch unter dem Stern von Bethlehem geschah das Wunderbare, das seine Pläne durchkreuzt. Denn Gott selbst wurde Mensch, überwand den tiefen Graben, wurde einer von uns und zeigte damit ein Maß an Liebe und Opferbereitschaft, mit dem niemand gerechnet hätte.

Gott wollte nicht von uns unterschieden werden, sondern wollte unser Schicksal teilen – und indem er es mit uns teilte, hat er das Schicksal gewendet. Denn wenn Gott die Gestalt eines Menschen annimmt und sich bewusst unter die Menschen mischt, ist dann das Menschsein noch wie zuvor ein Zeichen der Verlorenheit? Wenn unter den Verdammten plötzlich der Allmächtige steht, wenn er mit seiner Gerechtigkeit unser Unrecht aufwiegt, wenn er für uns kämpft, der doch unüberwindlich ist, wenn unsere Finsternis überstrahlt wird von seinem Licht, wenn er das Seine und das Unsere einfach zusammenwirft – wird uns die Hölle dann weiterhin für sich reklamieren können? Wird der Feind noch Rechte an uns haben, wenn da einer unter uns ist und für uns einsteht, an dem er definitiv kein Recht hat?

Weil das nicht sein kann, darum ist alles anders geworden, seit Christus an unserer Seite geht. Gott selbst ist den Entstellten ein Entstellter, und den Mühseligen ein Mühseliger geworden. Und unser Leben ist nicht mehr dasselbe, seit er es mit uns teilt. Denn Gott atmet nun unsere Luft. Er fühlt, was wir fühlen, und sieht, was wir sehen. Er geht in unseren Schuhen und leidet unser Leiden. Gott ist mittendrin in unserem Leben – und er spürt wenn’s eng wird. Aber er lässt uns gerade dann nicht allein, sondern führt uns an der Hand. Ja, Christus kam hinein in unsere verfahrene Situation, und man hätte denken können, das sei tragisch für ihn – in Wahrheit aber war’s tragisch für die Situation. Denn sie konnte nun nicht bleiben, wie sie war. Als Christus unsere Not auf sich nahm, da war es das Ende dieser Not. Als er unsere Angst auf sich nahm, da war es das Ende dieser Angst. Und als er für uns durch die Hölle ging, da war das zwar schlimm für ihn, war aber noch viel schlimmer für die Hölle, denn für sie war es recht eigentlich das Ende ihrer Macht. Christus geht dort jetzt ein und aus wie es ihm gefällt, geht ein und geht aus, lässt gern die Türen hinter sich offen und nimmt mit, wen immer er will.

Freilich: Der Versuch zu erklären, was letztlich nicht erklärt werden kann, gerät an Grenzen. Doch das Kind in der Krippe lächelt auch darüber und freut sich vielleicht sogar, wenn wir mit ihm nicht fertig werden, sondern immer wieder neu anfangen müssen, nach ihm zu fragen und zu stammeln von dem Wunder seiner Liebe, das so unergründlich ist, unerschöpflich, herrlich, bestürzend und beseligend…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Sainte Famille

Maître de saint Barthélemy, vers 1500, Public domain, via Wikimedia Commons