Hingabe

Hingabe

Sind sie ein „hingebungsvoller“ Mensch? Gibt es Dinge, die sie „voller Hingabe“ tun – also unter freudigem Einsatz all ihrer Kräfte? Gibt es Tätigkeiten, in die sie ihre ganze Leidenschaft hineinlegen? Haben sie ein Ziel, für das sie gern Zeit und Mühe opfern, weil’s ihnen eine „Herzensangelegenheit“ ist? Etwas mit Hingabe zu tun heißt, es nicht mit halber Aufmerksamkeit notdürftig zu erledigen, sondern sich selbst ganz „hineinzugeben“ und von der Sache „absorbiert“ zu werden. Der Hingegebene investiert nicht bloß „etwas“, sondern sich selbst. Er ist selbstvergessen „voll dabei“ ohne lang zu fragen, was er davon hat. Er „brennt“ für seine Sache und verzehrt sich dafür, macht „sein Ding“, geht ganz darin auf. Und doch, obwohl das so positiv nach „Enthusiasmus“ klingt, gibt es Menschen, die im Alter recht bitter von ihrer einstigen Hingabe reden, weil sie in jungen Jahren alles gaben, was sie hatten, und es ihnen heute keiner mehr dankt. „Ach,“ sagen sie, „was habe ich nicht alles für meine Firma getan – und heute kennt mich da keiner mehr.“ „Was habe ich nicht alles für meine Kinder getan – und nun besuchen sie mich nicht.“ „Was habe ich nicht alles dem Verein geopfert – und was ist der Dank?“ Mancher, der Zeit und Kraft gibt, erwartet offenbar, später etwas zurückzubekommen. Wenn das aber ausbleibt, ist er bitter enttäuscht und wünscht, er hätte einst weniger Mühe investiert und besser für sich selbst gesorgt. So kann man Hingabe dann bereuen. Aber die hingegebene Kraft holt man damit nicht zurück. Und wer wirklich an der falschen Stelle Lebenszeit vergeudete, kann einem leidtun. Doch andererseits: Hat nicht jeder selbst entschieden, was er mit Herzblut und vollem Einsatz betreiben wollte? Hätte es nicht Alternativen gegeben? Und liegt die Verantwortung für verschwendete Lebenszeit dann nicht bei jedem selbst? Dass einer seine Kraft investieren muss, liegt in der Natur des Lebens. In dem Punkt haben wir keine Wahl. Und wer sich dem Leben verweigern wollte, würde darüber trotzdem alt. Die Jahre mit „nichts“ zuzubringen, ist also keine Option. Man kann sich nicht für später „aufsparen“, man muss sich „ausgeben“ und „verausgaben“, solange das Zeitfenster offen ist! Aber mit welchem Streben wir unsere Zeit füllen und wofür wir uns hergeben – entscheiden wir das nicht selbst, indem wir dies oder das lieben, schätzen und der Mühe wert erachten? In der Jugend wollen wir so und so werden, dies und jenes haben, wollen vielleicht eine Familie, den Wunschberuf oder eine Weltreise. Der Preis dafür ist aber immer Hingabe. Die erstrebten Dinge scheinen uns der Hingabe wert zu sein. Und so prägt die Richtung unsres Strebens dann unsere Identität, formt unser Denken und dokumentiert durch unsere Handlungen, wer wir sind. Denn, bitte – was wäre ein Mensch ohne seinen persönlichen Traum und ohne „auf etwas aus zu sein“? Will man ein Vater sein, ein Handwerksmeister, ein erfolgreicher Sportler, ein toller Musiker oder ein guter Freund, so kostet das immer Hingabe. Und zu solcher Hingabe gibt es keine Alternative. Denn nur, wer sich einsetzt und handelt, hinterlässt auch Spuren. Und nur wer bereit ist, eine Rolle zu übernehmen, kann auch für andere eine Rolle spielen. Niemand wird je „Vater“ sein, wenn er‘s nur auf dem Papier ist. Und keiner soll sich „Feuerwehrmann“ nennen, der nie einen Brand gerochen hat. Zum Seemann wird man durch überstandenen Stürme. Und zum Politiker durch Verantwortung in einem Amt. Den Wissenschaftler formt sein jahrelanges akribisches und geduldiges Forschen. Und ohne sich mit Patienten herumzuschlagen, wird auch keiner zum Arzt. Denn nichts von alledem wird man ohne Hingabe. Man investiert dafür Lebenszeit, die man nur einmal opfern kann – und dann nicht wieder. Wer seine Zeit aber für „nichts“ hingeben will, stellt infolgedessen auch „nichts“ dar und bleibt ein unbeschriebenes Blatt. Man muss sein Leben verlieren, um es zu behalten, muss es für etwas hergeben, um etwas draus zu machen, denn ohne sich hinzugeben kann man nichts sein. Wer nie für etwas brennt, verpasst sein Leben. Wer seine Kraft investiert hat, weiß später aber wenigstens, wo sie geblieben ist. Und wenn sein Leben endet, wissen auch die anderen, wofür dieser Mensch gestanden hat. Denn darin liegt das Geheimnis der Hingabe, dass wir an dem Anteil gewinnen, wofür wir uns hingeben, und nie anders daran teilhaben können als durch Hingabe, Opfer und Schmerz. Erst durch harte Arbeit wird der Erfolg einer Sache zu meinem Erfolg. Und gleichzeitig werde ich zu dem, der sich diese Sache alles hat kosten lassen. Denn worauf einer aus ist, das liebt er. Was er liebt, das ist sein höchstes Gut, sein eigentlicher Schatz. Und da, wo sein Schatz ist, wird immer auch sein Herz sein und der Fokus seiner Aufmerksamkeit. Dahin wandern seine Gedanken, da ist er zuhause, da vergisst er alles um sich herum und finde zu sich. Das Ziel des Menschen bestimmt seine Identität. Und wenn er bereit ist, einem Ideal mit ganzer Kraft zu dienen, macht dieses Engagement sein Wesen aus. An dem Ideal, dem er sich verschreibt, gewinnt der Mensch Anteil und wird somit ein Teil des Guten, für das er kämpft. Doch erfolgt diese Aneignung nicht anders als durch Hingabe und Leiden. Denn eben darin zeigt sich Hingabe, dass einer die Sache höher achtet als die Mühen, die Zeit und die Schmerzen, die sie ihn kostet. Er gibt sich in das hinein und geht in dem auf, was ihm wichtiger erscheint als er selbst. Das ist zweifellos riskant. Doch gewinnt sein Dasein so an Bedeutung. Und ohne Hingabe könnte es keine Bedeutung haben. Ist es also wirklich ein Unglück, wenn wir „hingegeben“ leben? Ist es nicht vor allem die Chance, unserem Dasein Inhalt und Tiefe zu verleihen? Können wir nicht sogar froh sein, wenn Hingabe uns teilhaben lässt an den wirklich großen Dingen, für die wir bereit sind, uns zu verbrauchen? Ist es nicht ein Privileg, wenn wir Gelegenheit haben, in dieser Welt zu etwas gut zu sein? Nicht die scheinen mir bedauernswert, die leidenschaftlich gelebt haben, sondern die, die es versäumten. Und nicht die tun mir leid, die Opfer gebracht haben, sondern die, die nie etwas kannten, das ihnen eines großen Opfers wert erschien. Doch – warum gehört das hierher? Es ist schnell erklärt. Denn niemand hat sich so restlos für etwas hingegeben wie Jesus Christus, der sich nicht nur im Leben, sondern auch im Sterben ganz für seine Jünger gab – und dabei von seiner Kraft und seinem Segen nicht das Geringste zurückbehielt, dass er nicht bereitwillig für unsre Erlösung hergegeben und geopfert hätte. Christus hat wirklich alles „gegeben“ – es wurde ihm nicht etwa „genommen“. Und ich hielte es für einen Fehler, ihn wegen seiner Leiden zu bedauern. Denn es ist ihm kein „Unfall“ zugestoßen. Sondern er wählte seinen Weg der Hingabe ganz bewusst und ließ es sich am Kreuz alles kosten, uns Nichtswürdigen eine neue Würde und ein neues Leben zu schenken. Kein Judas, kein Pilatus, kein römischer Soldat hätte Christus etwas nehmen können, wenn er‘s nicht aus freien Stücken zu geben bereit gewesen wäre. Ihm unterlief kein Fehler als er gefangen, geschlagen und angespuckt wurde, sondern es war die vorhersehbare Folge seiner Entscheidungen. Und in der Kreuzigung erfüllte sich auch viel eher Christi Plan als der seiner Feinde. Denn das hatte er bei sich beschlossen, Gottes Zorn und den Hass der Welt in einem einzigen großen Gewitter über sich niedergehen zu lassen, auf dass beides entkräftet würde und uns keins mehr zum Verhängnis gereichte. Christus nahm den Kreuzestod auf sich, damit wir neues Leben empfingen, ließ sich verneinen, um uns zu bejahen, lieferte sich aus, um uns zu schützen, litt lieber selbst als uns leiden zu sehen und gab dafür alles hin, was er hatte. Er entäußerte sich seiner Kraft, Macht und Herrlichkeit und verließ den sicheren Himmel, um Mensch zu werden (Phil 2,6-8). Obwohl er der Herr aller Herren war, erschien er niedrig wie ein Knecht und lieferte sich voller Demut der menschlichen Gemeinheit aus, von der er schon vorher wusste, dass sie ihn töten würde. Er allein war niemandem etwas schuldig und trug doch unsere Strafe, er hätte befehlen können und ward doch gehorsam, er bezahlte mit seiner Demut für unseren dummen Stolz und gab buchstäblich alles, um unsre verdammten Seelen doch noch für den Himmel zu gewinnen. In dieses Projekt legte Christus seinen ganzen Ehrgeiz, nur um uns Verlorenen auf seine Kosten die Gemeinschaft mit Gott zurückzugewinnen. Dieses Engagement machte er zur Signatur seines Lebens und zum Inhalt seiner Sendung, dass er sich hergab, um uns freizukaufen. Er gab sich hin aus unbegreiflicher Liebe zu denen, die keine Liebe verdienten, war dabei jeweils Geber und Gabe zugleich – und sagte noch beim letzten Abendmahl: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird“ (Lk 22,19-20; vgl. Joh 3,16; Joh 4,10; Gal 1,4; 1 Tim 2,6; Mk 10,45). Sich hingebend und hergebend wusste Jesus aber genau, was er tat. Denn das hatte er seine Jünger zuvor gelehrt. Wer sein Leben unbedingt erhalten möchte, der verliert es. Wer es aber um des guten Zieles willen verliert, der findet und bewahrt es (Mt 16,25). Der Bauer, der sich vom Saatgut nicht trennen mag, legt es in den Schrank, wo es niemandem nützt. Doch wenn er‘s hergibt, auf den Acker streut und dort in der Erde begräbt, bringt es Frucht (Joh 12,24). Eben so ist der Mensch nicht dazu geschaffen, seine Kräfte zu konservieren, sondern um sich für gute Ziele zu verausgaben und mit den anvertrauten Pfunden zu wuchern (Lk 19,11-27). Der Mensch erlangt Bedeutung, indem er anderen etwas bedeutet, indem er also gerade nicht sich, sondern andere im Fokus hat. Und dementsprechend hat Jesus mit voller Hingabe gewirkt, hat sein Leben verloren, um uns den Himmel zu gewinnen – und war sich dafür nicht zu schade. In ihm zeigte sich eine Liebe, die sich selbst nicht schont. Weil der Sohn aber „eines Wesens“ mit dem Vater ist, erlaubt uns die Hingabe Christi einen unverstellten Blick in Gottes Herz hinein. Christus ist der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit und das Ebenbild des unsichtbaren Gottes – das wird im Neuen Testament mehrfach betont (Hebr 1,3; Kol 1,15; 2. Kor 4,4). Und darum dürfen wir direkt vom Sohn auf den Vater schließen. Den Sohn aber kennzeichnet jene Hingabe, die bereit ist, das eigene Leben zu verlieren, um das Heil der Sünder zu gewinnen. Ihn kennzeichnet jene Liebe, die sich die Rettung des Geliebten alles kosten lässt. Und da wir vom Sohn auf den Vater schließen dürfen (Joh 10,30), muss der genauso empfinden. Gott ist also keineswegs starr und kalt, sondern warmherzig und engagiert in seiner Leidenschaft für uns. Der Heilige und Höchste sucht nach uns mitten im irdischen Dreck – und hat kein Problem, sich dabei um unsertwillen schmutzig zu machen. Er mutet sich Blut, Schweiß und Tränen zu, um uns Schlimmeres zu ersparen. Er schwebt nicht „über den Dingen“, sondern ist leidenschaftlich unterwegs. Gottes Liebe ist Tat, und im Zupacken offenbart sich sein Wesen – wir sind für ihn wirklich eine „Herzensangelegenheit“! Wenn das aber stimmt: Wär‘s dann nicht angemessen, Gottes Hingabe mit gleicher Hingabe zu beantworten? Ist das nicht die einzig sinnvolle Reaktion? Ja, und genau darin besteht unser Christentum, dass wir Gottes Hingabe an uns freudig beantworten durch unserer Hingabe an ihn. Denn wir haben allen Grund, Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (Mt 22,37-39; 5. Mose 6,5). Und es ist die angemessenste Reaktion auf Gottes große Hingabe, dass wir unsererseits seinen Namen heiligen, seinen Willen tun und für sein Reich alles drangeben. Als Christen verlieren wir unser Leben durch die Hingabe an Gott, um unser Leben gerade so zu gewinnen. Wie Paulus sagt, geben wir unsre Leiber hin als Gott wohlgefällige Opfer und unsre Glieder als Waffen der Gerechtigkeit (Röm 12,1; 6,13). Die Hingabe an den Höchsten lohnt aber unsere höchste Hingabe. Denn in ihr vollendet sich die Gottesgemeinschaft, zu der wir als Menschen geschaffen sind. In dieser Gottesgemeinschaft liegt des Menschen Bestimmung – und der Glaube kann sie verwirklichen! Doch, herrje, was tun die Leute stattdessen? Wofür verschwenden sie ihre Fähigkeit zur Hingabe? Einer zerrt seinen Nachbarn vor Gericht, um Recht zu behalten in Kleinigkeiten. Und der andere hat keinen besseren Traum als seine Konkurrenten auszustechen. Dieser zeigt überhaupt nur Leidenschaft, wenn’s um Frauen oder Autos geht. Und jener will in seinem Sport allen anderen überlegen sein. Der eine ist stolz auf sein Aquarium. Und der andere will’s immer seiner Mutter recht machen. Dieser jagt dem Glück hinterher, und jener einer verpassten Karriere. Da sind sie mit Herzblut dabei! Aber, ist es das wert? Gott fragt nach uns – und wir sammeln Bierdeckel? Der Allmächtige will uns die Hand reichen – und wir sortieren Gartenzwerge? Er will uns Weisheit lehren – wir aber spielen Lotto? Werden wir‘s nicht mal bitter bereuen, das eigene Dasein banalisiert zu haben, indem wir Banales ins Zentrum stellten? „Ich konnte mich nicht Gott hingeben, ich musste das Haus abbezahlen, das mir nun gepfändet wird!“ „Ich hatte keine Zeit, ich musste Körperkult betreiben und meine Schönheit pflegen, die nun leider doch verfallen ist!“ Ja, herzlichen Glückwunsch! So gewinnt man Anteil am Nichtigen und verplempert seine Leidenschaft an das, was doch nur Leiden schafft. Der Eifer für das falsche Ziel bleibt aber nicht ohne Folgen. Denn wie einer liebt, so lebt er. Wie er lebt, so stirbt er. Wie er stirbt, so fährt er. Und wohin er fährt, da bleibt er. Worauf der Mensch aus ist, das bestimmt bis zuletzt seinen Weg. Das Ziel seiner Hingabe wird auch dann zur Signatur seines Daseins, wenn’s ein kindisches und dummes Ziel ist. Und die Reue im Alter kommt regelmäßig zu spät. Doch immerhin – wer’s bei anderen erlebt, kann vorbeugen und kann für sich selbst beschließen, künftig nur noch auf das Beste und Lohnendste aus zu sein. Er kann Gottes Hingabe an den Menschen beantworten mit seiner Hingabe an Gott. Und diese Chance sollte jeder nutzen. Denn ohne uns hinzugeben, werden wir gar nichts sein. Wer sein Leben festhält, wird’s trotzdem verlieren. Wer es aber an Gott verliert, hat es damit auf ewig gewonnen. Es gibt tausend Wege, sich unter Wert zu verkaufen. Es gibt aber auch den Weg des Glaubens, sich durch Hingabe in Gott hinein zu investieren – und damit Anteil zu gewinnen an seinem Reich. Warum sollten wir uns also behalten, wenn wir uns Gott schenken können? Ist es nicht Gnade, wenn wir Vergängliches eintauschen dürfen gegen Ewiges – und somit Glasperlen tauschen dürfen gegen Diamanten? Wir gewinnen uns nicht anders, als indem wir uns an etwas verlieren. Seien wir also froh, dass wir uns verlieren dürfen an Gott! Denn das ist große Gnade, die uns widerfährt, wenn wir uns ebenso entschlossen hingeben an ihn, wie er sich hingab für uns.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: La Solitude du Christ

Alphonse Osbert, Public domain, via Wikimedia Commons