Das konsequente Vertrauen Christi

Das konsequente Vertrauen Christi

Waren unglückliche Umstände schuld an seinem Tod?  

Die Medien kümmern sich normalerweise nicht viel um Glaubensfragen. Doch wenn es auf Karfreitag zugeht, fühlt man sich doch in mancher Zeitung und in mancher Talkshow bemüßigt, über das Kreuz Jesu Christi zu diskutieren. Da geht es manchmal um einen neuen Jesus–Film, manchmal auch um ein Buch oder einen archäologischen Fund. Oft aber debattiert man über die Frage, wer denn eigentlich am Tode Jesu schuld sei. Waren es die Römer? Oder waren es doch vorwiegend die Juden? Hat der Verräter Judas allein die Verantwortung zu tragen? War es eine große Verschwörung? Oder war es einfach ein Justizirrtum, dem Jesus zum Opfer fiel?

Interessante Fragen sind das an sich. Um so ärgerlicher aber ist es, dass man sie behandelt, ohne den inneren Zusammenhang zwischen Jesu Leben und Jesu Sterben zu berücksichtigen. Das Todesurteil sei ein schrecklicher Fehler gewesen, kann man hören. Diese oder jene Partei sei schuld. Von einer Tragödie ist die Rede. Von einer Verkettung unglücklicher Umstände. Und am Ende entsteht der Eindruck, die Menschen damals hätten Jesus bloß missverstanden – und nur deshalb hätte dieser „gute“ Mensch ein so „böses“ Ende genommen. Doch ist das großer Unsinn. Und es stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Denn Jesu Leben ist genauso wenig wie das unsere ein Lotteriespiel gewesen. Und es sind auch nicht Zufälle gewesen, die seinem Leben die Richtung gaben. Sondern es war eine innere Notwendigkeit, dass dieser Mann in der Wahrnehmung seiner Lebensaufgabe bewusst und willentlich auf dieses Ende zugehen musste. Es war bei Jesus nicht anders als bei allen, die wahrhaft von etwas überzeugt sind und wirklich etwas glauben: Dass ihm nämlich seine Überzeugung und sein Glaube selbst zum Schicksal wurden. Jeder Mensch, der überhaupt wahrhaft zu leben begonnen hat, hat seine Sicht der Welt. Diese Sicht bestimmt sein Wesen. Sie bestimmt aber auch seine Entscheidungen. Und aus denen erwächst sein Lebensweg, sein Erfolg und sein Scheitern. Wer in dieser Welt ernstlich Position bezieht, der steht und fällt mit dieser Position. Und wenn er um ihretwillen gekreuzigt wird, dann ist das kein Missverständnis, sondern es ist der Preis, den er dafür zahlt, der zu sein, der er ist.

Ein Arzt, der ein neues Medikament entwickelt und von diesem Medikament überzeugt ist, muss auch bereit sein, es als Erster zu schlucken. Er macht den Selbstversuch – und das, wovon er überzeugt ist, wird ihm zum Schicksal. Ein Offizier, der seine Soldaten durch ein Minenfeld führen will und überzeugt ist, dass er den Weg kennt, geht als erster voran. Er macht den Selbstversuch – und das, wovon er überzeugt ist, wird ihm zum Schicksal. Ein Seefahrer wie Kolumbus, der annimmt, dass hinter dem Ozean Land erreicht werden kann, nimmt sein Schiff und fährt los. Er macht den Selbstversuch – und das, wovon er überzeugt ist, wird ihm zum Schicksal. Mit anderen Worten: Alles bewusste Leben ist ein Wagnis. Und jeder der wirklich für etwas eintritt, schließt damit eine Wette ab, von der sein weiteres Schicksal abhängt. Der Wetteinsatz ist das Leben selbst, das jeder von uns nur einmal zu leben hat! Wenn das aber so stimmt – und wenn es auch für Jesus stimmte –, was war dann Jesu Lebenswette? Was war seine Grundüberzeugung, mit der er lebte und starb?

Es war die radikale Überzeugung, dass der, der sich Gott in die Arme wirft, von Gott aufgefangen wird, dass der, der auf Gottes Reich hin lebt, in Gottes Reich ankommt, und dass der, der den Weg der Liebe geht, von der Liebe getragen wird. Nicht auf Moral und Sitte hat Jesus gesetzt, wie die Pharisäer. Nicht rückwärtsgewandt hat er gelebt, wie die Schriftgelehrten und die Wächter der Tradition. Nicht nach irdischer Macht hat er gegriffen, wie die Römer und die jüdischen Nationalisten seiner Zeit. Vielmehr hat er die Menschen gelehrt, überhaupt nichts von sich selbst und nichts von der Welt zu erwarten, sich auch nicht an das zu hängen, was die Welt für groß und wichtig hält, sondern in vorbehaltslosem Vertrauen alles von Gott zu erwarten. Ohne Netz und doppelten Boden soll der Mensch auf Gott hin leben. Demütig und in kindlicher Zuversicht soll er sich dem Urteil Gottes beugen. Statt sich mit religiösen Übungen und guten Werken gegen Gott abzusichern, soll er sich ihm ausliefern, soll nichts mehr fürchten, als Gottes Zorn, und nichts mehr begehren als Gottes Nähe. Eine radikale Lehre ist das – ein kompromissloses Programm mit hohem Anspruch. Doch was hätte es bedeutet, wenn Jesus das nur verkündet und nicht auch gelebt hätte? Nichts natürlich!

Ein Arzt, der ein Medikament empfiehlt, es aber selbst nicht nimmt, ist unglaubwürdig. Ein Entdecker, der von fernen Ländern schwärmt, sich aber nicht auf den Weg macht, ist eine lächerliche Figur. Ein Offizier, der im Minenfeld nicht vorangeht, ist ein schlechter Führer. Und so einer war Jesus nicht. Er ging den Weg, den er empfahl. Er lebte das Programm, das er verkündete. Er hat es nicht verwässert, um den Halbherzigen entgegenzukommen. Er hat sie nicht geschont – und er hat sich nicht geschont. Er hat die Trägen träge genannt und die Heuchler Heuchler. Er hat uns allen die unbequeme Wahrheit zugemutet, die allein uns retten kann. Und eben deshalb führte sein Weg ans Kreuz. Nicht etwa, weil man ihn missverstanden hätte, sondern weil ihn die religiösen Führer seiner Zeit nur zu gut verstanden. Nicht weil die Welt ihn verkannte wollte sie ihn loswerden, sondern weil sie ihn erkannte. Denn Jesus war geradlinig. Er war eindeutig. Und er war gerade darum schwer zu ertragen. Für die, die im Dunkel bleiben wollten, war er ein zu helles Licht. Für die Unentschlossenen war er zu entschieden. Und den religiös Distanzierten kam er viel zu nah. Wäre er in Galiläa geblieben, in der Provinz – da hätte man ihn gewähren lassen. Aber Jesus zog nach Jerusalem. Er ging in die Höhle des Löwen. Er legte sich mit dem Teufel selber an. Er konnte nicht anders. Er wollte es so. Die Reaktion aber war absehbar. Und sie hat Jesus gewiss nicht überrascht.

Warum aber hat er sie dann nicht vermieden? Warum ist er dem nicht ausgewichen, was er kommen sah? Nun, der Offizier, der seine Leute retten will, muss ihnen zeigen, dass der Weg durchs Minenfeld gegangen werden kann. Der Arzt, der die Patienten heilen will, muss sie von der Verträglichkeit des Medikamentes überzeugen. Der Entdecker, der Neuland besiedeln will, muss beweisen, dass es das Land hinter dem Ozean gibt. Und auch Jesus, der seine Jünger lehrte, vorbehaltlos auf Gott zu vertrauen, tat genau das, was er von ihnen forderte. Er lebte seine Überzeugung, er machte den Selbstversuch, ob ihn die Brücke seines Gottvertrauens tragen würde. Und er erprobte das dort, wo es am schwersten war. Nämlich in der Finsternis des Karfreitages, im Leid, im Tod und in der Gottverlassenheit.

Seine Jünger sahen es mit Schaudern. Denn Jesus ging bewusst auf diesen Abgrund zu. Der Weg, den er im Namen Gottes ging, führte direkt in die Katastrophe. Doch obwohl Jesus hundert mal hätte ausweichen können, blieb er auf Kurs. Er ging nicht rechts und nicht links, sondern geradewegs in seinen Untergang. Und als auch die treusten Jünger nicht mehr mitgehen wollten, ging er allein weiter und warf sich Gott in die Arme. Die Jünger sahen ihn leiden, sie sahen ihn sterben – und es schien, als sei er ins Bodenlose gefallen. Sein schmachvoller und qualvoller Tod schien das Programm seines Lebens zu widerlegen. Das Kreuz schien zu beweisen, dass Jesu Gottvertrauen ein schrecklicher Irrtum war. Und die, die es schon immer gewusst hatten, konnten sich bestätigt fühlen: „Da sieht man, wohin so etwas führt! Wir haben’s ja gleich gesagt. Selbst schuld. Zuviel Glaube schadet nur. Das hat er nun davon…“

Doch es wurde Ostern. Jesus stand auf. Er kam zurück. Sein Vertrauen wurde belohnt. Sein Glaube wurde bestätigt. Und Gott stellte sich unübersehbar auf seine Seite. Deutlicher konnte nicht demonstriert werden, wer hier die Wette seines Lebens gewonnen, und wer sie verloren hatte. Denn durch die Auferstehung wurde Christus all seinen Spöttern und Kritikern gegenüber ins Recht gesetzt. Er trat ihnen gegenüber als der lebende Beweis für das Recht seiner Überzeugung. Und in welche Situation kamen dadurch seine Zeitgenossen? In welche Situation kommen wir? Ganz einfach: Der Offizier, der lebend durch das Minenfeld geschritten ist, hat den Beweis erbracht, dass es möglich ist. Und er kann von seinen Soldaten erwarten, dass sie seinen Fußspuren folgen. Der Arzt, der sein Medikament im Selbstversuch erprobt hat, hat den Beweis erbracht, dass es heilsam wirkt. Und er kann von den Patienten erwarten, dass nun auch sie das Mittel nehmen. Der Seefahrer, der hinter dem Ozean neues Land entdeckt und mit greifbaren Beweisen zurückkehrt, kann erwarten, dass man seinen Karten und Wegweisungen glaubt. Und Jesus sollte nicht von uns das Gleiche erwarten dürfen?

Ja. Da gilt nun keine Ausrede mehr. Denn der Weg ist gebahnt, und der Beweis erbracht. Auf Gott hin leben, sich ihm ganz überlassen und seiner Führung trauen – das geht. Das ist nicht Wahnsinn. Es ist Weisheit. Es führt nicht nur in den Tod. Es führt auch durch den Tod hindurch. Die Brücke, über die Jesus gegangen ist, trägt. Und Jesus, der längst auf der anderen Seite angekommen ist, winkt uns, ihm zu folgen. Sehen wir ihn nicht? Doch wir sehen ihn. Können wir nicht folgen? Doch wir können. Aber wollen wir vielleicht nicht? Das ist die einzige Frage, die noch bleibt. Und sie ist es, die wir beantworten müssen. Sie ist es, die über unser Leben entscheidet. Und darum sollten wir nicht länger zögern. Denn Jesu Hand ist ausgestreckt. Und an seinem Tisch ist ein Platz für uns bereitet. Ergreifen wir also die Hand des Gekreuzigten. Gehen wir mit ihm seinen Weg – durch das Kreuz ins Leben. Treten wir herzu, um sein Geschick teilend auch seine Freude zu teilen. Und danken wir ihm von Herzen, dass wir das dürfen. Denn er hat uns einen Weg gewiesen, den wir allein niemals gefunden hätten…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Christ with Singing Angels

Hans Memling, Public domain, via Wikimedia Commons