Fröhliche Selbstvergessenheit

Fröhliche Selbstvergessenheit

Muss ein Christ „fromm“ sein?  

Es gibt Fragen, die klingen harmlos – und bringen uns doch in Verlegenheit, weil wir nicht wissen, ob wir „ja“ oder „nein“ sagen sollen. Und ganz oben auf der Liste steht da die Frage nach dem „Fromm-Sein“. „Ach, sie sind Pfarrer?“ sagen manche Leute. „Da sind sie wohl sehr fromm?“. Ich aber weiß darauf nichts Rechtes zu antworten. Denn das Wort „fromm“ hat heutzutage einen doppeldeutigen Klang – eine gute und eine schlechte Bedeutung. Im guten Sinne, so wie es eigentlich gemeint ist, heißt „fromm sein“, dass ein Mensch vom Glauben durchdrungen ist und alle Bereiche seines Lebens vom Glauben bestimmen lässt. In diesem Sinne ist es eine hohe Auszeichnung, wenn man jemanden „fromm“ nennt. Und eben deshalb wäre es sehr hochmütig, von sich selbst zu sagen: „Ja, ich bin fromm“. Da müsste man wohl eher den Kopf schütteln und sagen: „Nein, ich bin längst nicht so fromm, wie ich sein sollte.“

Auf der anderen Seite hat der Begriff „fromm“ aber auch den negativen Klang von „Frömmelei“ und „Bigotterie“, von übertriebener und verbohrter Religiosität. Und in diesem Sinne ist er fast ein Schimpfwort geworden. Denn man meint damit Leute, die aus lauter Moralismus sich und anderen den Spaß am Leben verderben, die verklemmt und engherzig sind, weltfremd, altmodisch in ihren Ansichten – und dazu noch schrecklich langweilig. In diesem negativen Sinne will wohl keiner „fromm“ genannt werden, und man müsste darum „nein“ sagen. Wenn aber die Frage „Bist du fromm?“ nur bedeutet „Bist du Christ? Glaubst du an Gott?“, dann sieht die Sache schon wieder anders aus. Kurz gesagt: Frömmigkeit ist heute ein schillernder, mit vielen Missverständnissen belasteter Begriff. Weil uns aber in Wahrheit nichts mehr fehlt als eine echte, tiefe und lebendige Frömmigkeit, will ich versuchen, die ursprüngliche, überaus positive Bedeutung dieses Wortes darzustellen. Und ich will das tun anhand eines im besten Sinne „frommen“ Gedichtes, das der Liederdichter Gerhard Tersteegen geschrieben hat:

 

Du aller Geister Ruh, / Erhöre mein Verlangen; /

Wann wird mein Geist in dir / Zu deiner Ruh gelangen? /

Ich bin ein treibend Rad; / In dir ist Stille nur; /

Ach zeuch mich aus mir selbst / Und aller Kreatur!

 

Jehova, wann wirst du, / Und nicht ich in mir leben? /

Nimm hin, ich bin für dich, / Ich will mich dir ergeben. /

Wann wird die Eigenheit / Einst ganz ertötet sein? /

Wann wird die Seele sein / In deiner Liebe rein?

 

Ach wer nur einen Strahl / Von dir, mein Gott, erblicket, /

In Ehrfurcht billig wird / Von deinem Glanz entzücket; /

Wer einen Funken nur / Von deiner Liebe spürt, /

Sich selbst ganz willig ganz / In solchem Meer verliert.

 

Ach ja, mein Gott, in dir / Verlieren alles Eigen! /

Lass, was du selbst nicht bist, / In mir vergehn und schweigen. /

Ach alles ist gar nichts, / Du bist es all allein: /

Wann wirst du auch in mir / Auf ewig alles sein?

 

O dass ich möchte gar / Aus meinem Aug verschwinden /

Und dich allein in mir, / Du höchstes Wesen finden! /

Ich hab schon allzuviel / Durch Sünd entehret dich; /

Verklär dich wiederum / In mir fort ewiglich.

 

Ich gebe zu, dass dieses Gedicht schwer zu verstehen ist. Es ist fern von der heutigen Art des Denkens und Redens. Und doch sollte man sich hüten, darin bloß frommen „Schmus“ zu sehen. Nein! Auf seine Weise sagt Tersteegen hier sehr klar und präzise, was wahre Frömmigkeit ist. Denn in den vielen Wendungen seines Gedichtes wiederholt er immer nur den einen Gedanken: Dass er nämlich sein kleines, ängstlich umklammertes Ich in Gott hinein verlieren will, dass er aufhören will, sich selbst wichtig zu nehmen, um Gott immer mehr Raum zu geben und ihn schließlich Alles in Allem sein zu lassen. Dass das unserer Natur widerstrebt, weiß der Dichter sehr wohl. Denn er spürt an sich selbst, was wir alle erfahren: Normalerweise ist unsere ganze Aufmerksamkeit gefesselt durch unsere eigenen kleinen Nöte und Freuden. Wir starren tagtäglich auf uns selbst, wir träumen unsere Träume und verfolgen unsere Pläne so verbissen, als hinge von ihrer Erfüllung das Heil der Welt ab. Unser Herz ist randvoll mit unseren kleinen, persönlichen Anliegen und Nöten: Mein Wille und meine Gesundheit. Mein Spaß und mein Leiden. Mein Ansehen, meine Pläne und meine Sorgen. Um diese Dinge kreisen die Gedanken, auf sie sind wir fixiert, von ihnen lassen wir uns beherrschen, ihnen dient unser Denken und Tun. Frömmigkeit aber beginnt genau dort, wo dieser Krampf sich löst – und wo die Gegenwart Gottes im Herzen alles andere zurücktreten und verblassen lässt. „Ich, ich, ich“ – das ist dann plötzlich nicht mehr das Ein und Alles. Sondern wo einer fromm wird, da gibt er dieses „ich“ preis, damit es in Gott eingeht und in ihm aufgeht, bis nicht mehr „ich“ in mir lebe, sondern Gott in mir lebt. Der eigene Wille weicht, damit Gottes Wille geschehe. Das eigene Wort verstummt, damit Gottes Wort laut werde. Die eigenen Gedanken schweigen, damit Raum werde für Gottes Gedanken – und nichts mehr die Stille stört vor seinem Thron. Damit das aber möglich wird, und das Herz Frieden findet in Gott, müssen alle kleinlichen Sorgen hinaus aus dem Herzen:

Das ewige Recht-haben-wollen muss hinaus. Das Etwas-gelten-wollen muss hinaus. Eitelkeit und Gier, Selbstmitleid und Stolz, Egoismus und Neid – das alles muss hinaus, weil es in uns zu viel Platz einnimmt und unsere Aufmerksamkeit zu sehr bindet. Erst dann nämlich hören wir auf, uns vorwiegend für uns selbst zu interessieren. Erst dann geht unser nervöser Blick weg von uns selbst und richtet sich unverwandt auf Gott und die göttlichen Dinge. Was ich „bin“, was ich „habe“ und was ich „kann“ – das verschwindet dabei nicht einfach, aber es erscheint plötzlich viel, viel kleiner. Es steht hintenan. Und es hat überhaupt nur noch Bedeutung, sofern ich durch Gott „bin“ und „habe“ und „kann“. Denn der Glaube will nicht mehr sein, als was er durch Gott ist. Er will nichts wissen, als was Gott ihn wissen lässt. Und er will auch kein Werk vollbringen, außer wenn Gott es ihn vollbringen heißt. Denn der Gläubige hat keine eigenen Pläne mehr, die mit Gottes Plänen in Konkurrenz treten könnten, sondern er hat nur den einen Plan, die ihm in Gottes Plan zugedachte Rolle willig zu spielen – sei sie auch klein und unbedeutend.

Ja: Fromm-Sein, das heißt, sein aufgeblähtes, ängstlich behauptetes „Ich“ fröhlich preiszugeben und es in Gott hinein zu verlieren. Es heißt klein werden, damit Gott in meinem Leben groß werde. Es heißt, ein Blatt sein, das von Gottes Wind fortgetragen wird, ein Tropfen in seinem weiten Meer, ein kleiner Funke in seiner hellen Flamme. Es heißt so nah an Gott heranrücken, dass ich zwar von Gott noch unterschieden, aber nicht mehr von ihm getrennt bin. Darum ist echte Frömmigkeit das größte Geschenk, das Gott einer Seele machen kann: Dass er nämlich ihr Denken, Tun und Wollen immer mehr verschmelzen lässt mit seinem eigenen göttlichen Denken, Tun und Wollen – bis zwischen ihm und der Seele nichts mehr steht...

Ich denke, wer das begriffen hat, wird über Frömmigkeit nicht mehr spotten, sondern wird erkennen, dass echte Frömmigkeit ein Vorgriff auf die Erlösung ist, nach der sich Christen sehnen. Denn entgegen allen Klischees macht wahre Frömmigkeit nicht engherzig, sondern froh und offen. Sie hat gerade nichts Zwanghaftes an sich, sondern sie verleiht dem Menschen die beneidenswerte Freiheit und die Stabilität dessen, der nicht in sich, sondern in Gott ruht. Solche Menschen bewirken oft im Stillen Großes und sind ein Segen für die Gemeinde, die sie beherbergt, denn sie streben danach, Gott immer mehr und mehr Raum zu geben – in ihrem eigenen Leben und im Leben ihrer Stadt…

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Thomas Gerlach (privat)