Gehorsam

Gehorsam

Im Neuen Testament ist manchmal von „Gehorsam“ die Rede. Und „Gehorsam“ wird dort auch gefordert. Doch löst der Begriff kein Gefühl der Beklemmung aus, sondern hat positiven Klang. Denn es ist der Gehorsam gegen Gott gemeint, gegen seine Gebote, gegen Christus und sein Evangelium. Dem Evangelium „gehorsam“ zu sein, ist im Neuen Testament natürlich etwas Gutes und Erstrebenswertes. Und solcher „Gehorsam“ wird mit dem „Glaube“ fast gleichgesetzt, wenn etwa Paulus sagt, er wolle „den Gehorsam des Glaubens aufrichten“ unter den Heiden (Röm 1,5; 15,18; 16,26). Gehorsam und Glaube gehören schon sprachlich zusammen, weil das Wort „Ge-horsam“ mit dem „Gehör“ zu tun hat – und dementsprechend das „Ge-horchen“ vom „Horchen“ kommt. Das Evangelium aber ist ein lauter Appell, der in die Nachfolge Christi beruft. Und wer sich dagegen nicht taub stellt, sondern dem Ruf folgt, der „gehorcht“ damit dem Gehörten, glaubt, was Christus ihm sagt, nimmt Gott beim Wort und handelt entsprechend. Glaube ist also hörender Gehorsam. Er erkennt, dass Gott in seiner Schöpfung „das Sagen“ hat über alle Dinge, und lässt sich daher, was Gott redet, „gesagt sein“. Er nimmt Gottes Wort so ernst, wie es gemeint ist – und tut gut daran! Und dennoch haftet heute am Begriff des „Gehorsams“ ein störender Beigeschmack. Denn unter dem Einfluss der antiautoritären Erziehung sind wir's nicht mehr gewöhnt, „Gehorsam“ positiv zu werten. Im Gegenteil! Wir denken da an preußische Tugenden, an Untertanengeist, Prügelstrafe und „Kadavergehorsam“. Auf dem Kasernenhof wird der Wille eines Menschen herabgewürdigt, bloß noch ein Mittel fremder Zwecke zu sein. Und das empört uns! Aber – lässt sich bei dem Wort „Gehorsam“ nicht auch Besseres denken? Und wäre ein Gehorsam, der aus Überzeugung geleistet wird, nicht wirklich etwas anderes? Wo der Mensch sich bloß äußerem Zwang beugt, verdient das eigentlich gar nicht „Gehorsam“ genannt zu werden. Denn so einer folgt ja nicht willig, sondern widerwillig. Nach außen hin tut er, was er soll. Da er aber mit dem Herzen nicht dabei ist, kann man‘s höchstens einen halben Gehorsam nennen, denn innerlich ordnet er sich keineswegs unter, sondern ballt die Faust in der Tasche. Er hasst es, das Werkzeug dessen zu sein, der ihn zwingt. Er sieht in dem, der ihn knechtet, keine echte Autorität. Und willentliche Hingabe fehlt ganz. Kann's also das sein, was im Neuen Testament als „Glaubens-Gehorsam“ gelobt und gefordert wird? Nein, es muss Besseres gemeint sein als so eine Nötigung! Aber was? Ist es in der Gottesbeziehung vielleicht so zu denken, dass der Mensch weniger gehorchen „muss“, als aus eigener Überzeugung gehorchen „will“? Das klingt schon viel sympathischer. Denn an die Stelle von Zwang und Gewalt treten dann Einsicht und freie Zustimmung. Dieser bessere „Gehorsam“ bestünde in der überzeugten Gefolgschaft dessen, der die Gedanken und Ziele des Befehlenden verstehen kann, sie nachvollzieht – und sich darum auch gern zur Umsetzung bereit erklärt. So ein Gehorchender begreift, warum er soll, was er soll, und folgt entsprechend willig. Er leistet kein „blinden“ Gehorsam, sondern einen „sehenden“. Er wird nicht zur Marionette des anderen, sondern „denkt mit“. Und weil das gut ist, machen wir‘s auch in der Erziehung so, dass wir unseren Kindern möglichst erklären, warum sie etwas sollen. Allerdings: was passiert, wenn sie‘s nicht einsehen? Müssen sie dann nicht mehr gehorchen – oder müssen sie‘s trotzdem? An dem Punkt wird es kritisch. Denn es ist zwar ideal, wenn der Mensch einer Weisung mit Einsicht folgt. Doch wenn er das zur Bedingung erhebt und anderenfalls nicht folgt, wo bleibt dann der „Gehorsam“? Wollten sich Soldaten darauf beschränken, nur die Befehle umzusetzen, die ihnen einleuchten, käme die Armee bald in Schwierigkeiten. Denn wer vom Tagesbefehl erst wortreich überzeugt werden muss und anderenfalls nicht mitmacht, gehorcht faktisch nicht seinem Offizier, sondern dem eigenen Ermessen. Dieser Befehlsempfänger macht sich zum Richter über die Verbindlichkeit des Befehls. Und im Grunde hat er damit mehr Macht als der, der ihn führen soll! Das kann's also auch nicht sein, was das Neue Testament unter „Gehorsam“ versteht. Denn Christus, der Herr, ist nicht gekommen, um seinen Jüngern unverbindliche Vorschläge zu unterbreiten. Worin besteht dann aber jener „echte“ Gehorsam, der zum Glauben gehört und mit dem Glauben fast identisch ist, weil er sich Gottes Wort „gesagt sein lässt“? Ich meine dieser „echte“ Gehorsam schaut allein auf die Person – und folgt Weisungen und Ansagen nur um der Person willen, die er achtet wie keine andere. Es ist die Bindung an diesen speziellen Menschen, die der Forderung ihr Gewicht verleiht. Und je mehr der Mensch „echte Autorität“ besitzt, umso weniger hat er es nötig, „autoritär“ aufzutreten. Wo das Vertrauen tief, und der Gehorsam echt ist, bedarf es keines Zwangs und keiner Überredung. Und genau so sehen wir‘s bei Jesus, dem seine Jünger aus freien Stücken folgen – und ohne für jeden Schritt erst eine Begründung zu verlangen. Jesus redet in „Vollmacht“, ganz anders als die Priester (Mt 7,29; Joh 7,46; Mk 1,22.27; Lk 4,32). Durch ihn redet sein himmlischer Vater. Und viele, die ihn hören, spüren das so unmittelbar, dass er ihren Gehorsam nicht erst durch Überredung gewinnen oder durch das Versprechen eines Lohns erkaufen muss, sondern seine Weisungen sind verbindlich um der Person willen, die sie gibt. Jesus selbst sind die Jünger verbunden. Und bei dem, was er fordert, gehen sie mit, weil er es ist, der es will. Das Gewicht seiner Worte beruht weder auf äußeren Machtmitteln noch auf Argumenten oder Bitten, sondern einfach auf der Hochachtung der Person, die den Jüngern unmittelbaren Respekt und Vertrauen einflößt. Sie gehorchen Jesus nicht, weil sie seine Entscheidungen prüfen und für gut befinden, sondern weil sie ganz ungeprüft darauf vertrauen, von diesem Mann auf die bestmögliche Weise geführt zu werden. Sie kontrollieren das nicht erst, um hinterher loyal zu sein. Sondern die Jünger gehorchen, weil sie sich mit ihrem Herrn identifizieren und den Konsens mit ihm höher schätzen und mehr wollen als alles andere, was sie sonst noch wollen könnten. In ihrem Gehorsam sind sie fest „gebunden“ – und als Schüler ihrem Meister verpflichtet. Und doch sind sie's jederzeit „aus freien Stücken“. Denn ihr Glaubens-Gehorsam kennt keinen Gegensatz von „heteronom“ und „autonom“, sondern ist Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung. Ja, Glaubens-Gehorsam ist der seltsame Eigensinn, unbedingt mit dem, an den man glaubt, „eines Sinnes“ sein zu wollen. Und dies erstrebend lehnt es der Gehorchende ab, eigene Wege zu gehen. Er möchte nicht durch abweichendes Wollen die kostbare Gemeinschaft in Frage stellen. Vielmehr ist es seine Entscheidung, das Entscheiden dem Herrn zu überlassen. Denn einerseits geht ihm dessen Gemeinschaft über alles. Und andererseits vertraut er ihm mehr als sich selbst. Der Jünger sieht in seinem Gehorsam nichts anderes als die höchste Betätigung seiner Freiheit. Er folgt darin keinem fremden Impuls, sondern allein seinem eigenen Bedürfnis, das darin besteht, jenem Führenden „durch dick und dünn“ zu folgen. Sich von Christus bestimmen zu lassen, hält er für die ihm gemäße Form der Selbstbestimmung. Und mit seinem Herrn im Konsens zu stehen, macht für ihn gelingendes Leben aus. Daher ist jener Glaubens-Gehorsam, den das Neue Testament fordert, kein äußerer Zwang, ist aber für den, der Gott hingegeben leben will, eine innere Notwendigkeit. Und die vielen biblischen Gestalten, bei denen Glaube und Gehorsam untrennbar zusammenfallen, bestätigen das. Noahs Gehorsam ist berühmt, weil er sein Schiff baut auf trockenem Land, während von der Sintflut weit und breit noch nichts zu sehen ist. Abraham erweist sich als gehorsam, weil er seine Heimat verlässt, ohne zu wissen, wohin Gott ihn führen wird. Und am Ende ist er sogar bereit, seinen Sohn zu opfern, obwohl ihm Gottes Befehl völlig unverständlich sein muss. Der Prophet Jeremia bleibt gehorsam, auch wenn er sich mit Gottes Wort furchtbar unbeliebt macht. Er hält seinen Kurs, während er verfolgt, verlacht, verprügelt und um Gottes willen von allen gehasst wird. Und Daniel, dem durch königliches Gesetz das Beten verboten wird, gehorcht Gott mehr als allen Menschen – selbst, wenn ihn das direkt in die Löwengrube bringt. Jesus gibt in eigener Person ein Beispiel eisernen Gehorsams, als er in der Wüste dreimal vom Teufel versucht wird. Und im Garten Gethsemane ringt er sich dazu durch, dem Willen des Vaters unbeirrt zu folgen, obwohl ihn das am nächsten Tag das Leben kostet. Auch bei Stephanus, Petrus und Paulus könnten wir beobachten, wie Glaube und Gehorsam Hand in Hand gehen. Denn Glaube ist eine Beziehung, die wir nur wahren können im Konsens mit dem, an den wir glauben. Glaube wäre nicht echt, wenn er die Preisgabe des menschlichen Eigensinns nicht mit einschlösse. Glaube begreift, dass kein anderer als Gott das Sagen hat! Und so gehorcht er nicht, wie ein bezahlter Söldner gehorcht um des Lohnes willen, nicht, weil er unbedingt in den Himmel will, nicht, weil er gezwungen wäre oder durch tausend Argumente überredet würde. Sondern der Gläubige folgt Gottes Weisungen, weil er ihm nahe sein möchte und ihm nicht nahe sein kann, wo er ihn nicht „Herr“ sein lässt, über alles. „Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung“ ist die logische Konsequenz, wenn man in Jesus den Christus erkennt. Und der Glaubens-Gehorsam manifestiert sich dann ganz von selbst in der entsprechenden Lebensführung. Denn eine positive Bindung an Gott kann nicht gelebt werden, ohne die gleichzeitige Bindung an seinen Willen und sein Wort. Man kann nicht „bei“ Gott sein – und zugleich „gegen“ ihn. Widerwillig wird man nicht „eins“ mit ihm! Und doch muss sich der Mensch zum Gehorsam nicht groß „verbiegen“, weil es ja gleichermaßen gegen seine Einsicht wie gegen sein Interesse wäre, mit dem Schöpfer zu streiten. Menschlicher Eigensinn kann gegen Gott niemals Recht behalten, weil ein natürliches Gefälle besteht, dass dem Allmächtigen zweifellos erlaubt, über uns zu gebieten. Der Schöpfer des Universums hat Eigentumsrecht und Verfügungsrecht über alle Kreatur! Dazu kommt aber, dass Gott in der Regel gar nichts Schweres fordert, sondern, wenn wir seine Gebote eins nach dem anderen durchgehen wollten, fänden wir lauter Dinge, die uns selbst guttun und unsere Beziehung zu Gott und den anderen Menschen gesund erhalten. Gottes Weisungen führen auf einen guten Weg, der uns zuletzt in den Himmel bringt! Das Evangelium gebietet in erster Linie, dass wir uns durch Gottes Gnade retten lassen! Und verboten werden uns nur die Dummheiten, mit denen wir uns selbst schadeten und der Gnade im Weg stünden! Was liegt also näher, als freudig zu gehorchen? Als Christen verwerfen wir die Möglichkeit, anders zu wollen, als Gott will. Denn unser Leben gelingt genau in dem Maße, wie wir mit Gott im Konsens bleiben. Wir versuchen gar nicht erst, eigensinnig gegen ihn Recht zu behalten. Denn wenn sein Wille und unserer in verschiedene Richtungen auseinanderstrebten – was hätten wir davon? Wir würden in diesem Fall das Bessere erkennen – und trotzdem das Schlechtere tun! Und diese Inkonsequenz, dass wir unserer besseren Einsicht nicht folgen, ginge als ein tiefer Riss durch unser ganzes Dasein. Der innere Widerspruch, dass sich ein Gewächs von der eigenen Wurzel losreißen will, zerstörte nicht nur die Integrität unserer Person, sondern offenbarte auch täglich, dass es zwischen uns und Gott nicht mehr „stimmt“. So kläglich ist der Zustand eines Sünders! Der Glaubens-Gehorsam hingegen heilt den inneren Schaden – und fügt die Dinge wieder harmonisch zusammen. Denn da erkennt der Verstand, was Gott mit Recht fordert. Das Gemüt bejaht von Herzen, was der Verstand eingesehen hat. Der Wille beugt sich vertrauensvoll der höheren Autorität. Und der Leib setzt diese Beugung in Worte und Taten um. Zuletzt steht einer mit sich und mit Gott völlig im Einklang – und das ist wunderschön! Warum widerstreben wir dann aber? Wenn‘s nie einen echten Vorteil bringen kann, den eigenen Willen vom Willen Gottes abzuspalten, welcher Teufel reitet uns, dass wir’s trotzdem tun? Vielleicht denken sie nun, Überlegungen zum Gehorsam müssten darauf hinauslaufen, dass man am Ende schimpft und mehr Disziplin verlangt. Doch – was nützte das wohl? Wer kann sich denn schon zum Guten zwingen, wenn er das Gute nicht liebt? Und umgekehrt – wer muss sich zum Gehorsam erst noch zwingen, wenn er starken Glauben hat und folglich Gottes Liebe zum Guten teilt? Es stimmt etwas nicht mit unserem Gehorsam, solange er schwer fällt und Anstrengung erfordert! Denn echter Gehorsam ergibt sich ganz von selbst aus einer gesunden Gottesbeziehung. Wer Gott bejaht, wird das Böse ganz von selbst verneinen und wird davor dieselbe Abscheu empfinden, die auch Gott empfindet. Dass die Liebe echt ist, erkennt man daran, dass die Treue Spaß macht – das gilt nicht nur für Paarbeziehungen, sondern auch für die Gottesbeziehung! Was besagt es also, wenn wir uns mit saurer Miene zum Gehorsam zwingen müssen? Dass die Liebe echt ist, erkennt man daran, dass die Treue Spaß macht. Wenn sie dagegen schwer fällt, und wir unter Gottes Geboten jammern und klagen als wären es schlimme Einschränkungen, ja, wenn uns das Gute wie ein enges Korsett vorkommt, das unsere freie Entfaltung stört: was stimmt dann nicht mit uns? Wo die Liebe echt ist, empfindet man die Treue nicht als eine bittere Pflicht. Da muss man auch nicht erst überredet oder gemahnt werden, da braucht’s weder Drohung noch Bestechung. Sondern wo die Liebe echt ist, fällt’s einem gar nicht ein, die Beziehung aufs Spiel zu setzen. Und Disziplin ist dann ein Kinderspiel, denn es hat sowieso nichts größeren Reiz als eben der, den man liebt! Wenn‘s aber zwischen uns und Gott nicht so steht, dann ist unser Ungehorsam nur das Symptom einer tiefer liegenden Schadens. Und ein bloß äußerlich erzwungener Gehorsam könnte den niemals heilen, sondern wäre genauso wenig wert, wie eine erzwungene Treue. Tatsächlich verrät mangelnder Gehorsam einfach mangelnden Glauben. Und er ist nicht anders heilbar als durch stärkeren Glauben. Empfindet das einer als Qual, seiner Frau treu sein zu müssen, so liebt er sie nicht. Und empfindet er es als Qual, dass er Gottes Weisung folgen soll, ist es ganz dasselbe. Es ist ihm dann eben die Gemeinschaft mit Gott nicht wichtig genug. Und beteuert er trotzdem, sein Glaube sei echt und innig, dementiert sein Verhalten das sofort. Denn das Herz ist ja nicht dabei. Bin ich aber mit dem Herzen nicht dabei, kann ich Treue und Gehorsam nur simulieren. Alles bleibt Krampf, Heuchelei und Mühsal. Und auf solche Jünger, für die das Gute ein „Krampf“ ist, kann Jesus verzichten. Denn „unechter“ Gehorsam ist genau das, was er an den Pharisäern so verabscheut. Sollte man das Nachdenken über den Gehorsam also mit Appellen beschließen, mit Drängen, Mahnen, Schimpfen, Drohen, Locken? Ach, nein. Es ist deutlich genug, vor welcher Alternative wir stehen. Und wie es der Einzelne nun haben will, muss jeder bei sich selbst erforschen. Gott aber helfe uns allen zu der völligen Klarheit und Konsequenz jenes guten Gehorsams, der uns zugemutet werden kann – und auch wirklich zugemutet wird.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: A Mother and Child in an interior

Peter Vilhelm Ilsted (1861-1933), Public domain, via Wikimedia Commons