Weisheit und Torheit

Weisheit und Torheit

Wer über Weisheit und Torheit nachdenkt, kommt nicht darum herum, sich selbst irgendwo zwischen den Extremen einzuordnen. Denn reden wir von Weisheit und Torheit, so fragt sich ja, ob wir selbst uns eher für weise oder für töricht halten. Sind wir also „klug“? Sind wir intelligent und schlau – oder gehören wir eher zu den Dummen, Begriffsstutzigen und geistig Trägen? Ich vermute, wenn man einzelne Menschen danach fragte, würden sich fast alle im Mittelfeld verorten oder etwas darüber. Denn zu behaupten, man selbst sei „superklug“, wäre gegen alle Bescheidenheit. Und zuzugeben, dass man sich selbst für dumm hält, wäre doch irgendwie peinlich. Die meisten Menschen würden sagen, sie seien – wenn auch kein „Genie“ – so doch mit ihrer geistigen Ausstattung durchaus zufrieden. Und ein Spötter hat darum behauptet, nichts auf der Welt sei so gerecht verteilt wie der Verstand, weil jeder Mensch überzeugt ist, dass er genug davon habe.

Es ist ja wirklich wahr: Keiner hält sich selbst für „doof“! Aber es will auch keiner von den Anderen dafür gehalten werden, denn Klugheit ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert und „clever–sein“ oder „helle–sein“ zählt fast so viel wie Jugend, Gesundheit oder Reichtum. Diese Hochschätzung der Intelligenz ist deutlich spürbar, wenn man mit älteren Menschen über ihre Kinder und Enkelkinder spricht und erlebt, wie da mancher mit leuchtenden Augen und voller Stolz von den tollen Zeugnissen seiner Enkel erzählt. Denn auf seine Intelligenz hält man sich etwas zu gute in dieser Gesellschaft, die allem vertraut, was als „Wissenschaft“ dargeboten wird:

Ein Professorentitel macht allemal noch Eindruck. Und einem Nobelpreisträger glaubt man fast alles. Denn ganz allgemein hält der Mensch viel vom menschlichen Verstand und traut ihm zu, praktisch alles zu erforschen. Wir schätzen Intelligenz, weil der Intelligente sich erkennend der Dinge bemächtigen kann, sie durchschauen und berechnen, voraussagen und manipulieren kann: „Wissen ist Macht“, sagt man. Und weil der Mensch nach dieser Macht begierig ist, möchte er gern klug sein. An einem Punkt allerdings, da erlebt die stolze Vernunft eine arge Schlappe und in einer Sache richtet sie nichts aus: Wenn es nämlich um den Glauben geht. Zu gern würde der Mensch es mit Gott machen, wie er es mit der Welt gemacht hat. Er würde Gott zu gern erforschen, wie er den Nordpol, den Dschungel und die Tiefsee erforscht hat. Zu gern würde der Mensch seinen Schöpfer untersuchen wie eine Mücke, die man unter das Mikroskop legt, um sich auch der göttlichen Dinge erkennend zu bemächtigen. Zu gern würde der Mensch Beweise des Glaubens haben, um dann nach Prüfung der Beweisführung auf eine risikolose und rational abgesicherte Weise zu „glauben“ – oder den Glauben besser gleich gegen ein verlässliches Wissen einzutauschen. Aber das alles geht nicht. Die Vernunft erleidet eine Schlappe. Denn Gott will nicht mit den Maßstäben des Irdischen gemessen werden und zeigt darum der menschlichen Neugier die kalte Schulter. Er entzieht sich ihrem Zugriff und frustriert damit absichtlich die stolze Vernunft, weil der Mensch von Gott nichts anderes wissen soll, als nur, was Gott ihn wissen lässt durch das biblische Wort.

Unser Verstand begreift Gott nicht, und unsere Gefühle erfühlen ihn nicht, unsere Logik erschließt ihn nicht, und unsere Sinne sehen ihn nicht. Welchen Vorteil haben also die Klugen von ihrer Klugheit? In weltlichen Geschäften haben sie ganz sicher einen Vorteil. Doch Gott gegenüber haben sie keinen – und sollen auch keinen haben, denn Gott ist barmherzig mit allen und zieht die Intelligenzbestien den Unterbelichteten keineswegs vor. Der Glaube, den ein Mensch haben muss, um gerettet zu werden, soll allen Menschen zugänglich sein. Gott will, dass sein Evangelium unabhängig von der Intelligenz des Menschen verstanden werden kann. Darum hat er der menschlichen Vernunft den Zugriff auf dieses Evangelium verweigert und die Wahrheit des Glaubens nicht dem Menschengeist anvertraut, sondern seinem Heiligen Geist, der diese Wahrheit den Klugen und den Dummen gleichermaßen zugänglich machen oder verweigern kann.

Wahrlich: Gott wollte nicht, dass der Glaube ein Rätsel sei, das nur die Schlauen lösen, um auch hier im Vorteil zu sein. Gott wollte nicht, dass die Dummen auch in Glaubensdingen „dumm“ dastehen, wie sie so oft „dumm“ dastehen. Sondern er wollte gerade den Übergescheiten eine Lehre erteilen und ihren Wissensstolz demütigen, weshalb er das heilsbringende Evangelium sehr schlicht und regelrecht töricht verpackt hat.

Denn was wäre in den Augen der Welt törichter und dümmer als die Botschaft vom Kreuz Jesu Christi? Was ist törichter, als dass einer die Sicherheit und Herrlichkeit des Himmels eintauscht gegen einen irdischen Foltertod? Was ist närrischer als Gottes Liebe zu uns Narren? Kein schlechterer Tausch ist denkbar als dieser, dass Gott seine Macht eintauscht gegen die Ohnmacht des Gekreuzigten und seine Gerechtigkeit eintauscht gegen die Sünde der Sünder. Menschenweisheit wäre darauf nie gekommen. Und die Philosophen stehen bis heute ratlos davor. Sie verstehen weder das Evangelium, noch können sie verstehen, wie ein Christ ohne greifbare Beweise seines Glaubens gewiss werden kann. Für Gott aber ist dies genau der richtige Weg, um die Klugen zum Narren zu halten und die Übergescheiten dadurch zu demütigen, dass er sie blind und ratlos macht vor dem Geheimnis seiner Gnade.

Zwar will Gott sein Evangelium verstehen lassen, er will die Menschen erleuchten, er will Gotteserkenntnis schenken und will zu uns in Beziehung treten. Aber er tut es ganz bewusst zu seinen und nicht zu unseren Bedingungen. Er unterwirft dabei seine Wahrheit nicht unserer Kontrolle, damit sich niemand rühme und keiner damit prahle, er habe Gottes Wahrheit durchschaut. Niemand soll sagen, er habe sich seinen Glauben selbst ergrübelt und sei frömmer als die anderen, weil er klüger sei. Keiner soll sagen, er habe Gottes Wahrheit geprüft wie die Klassenarbeit eines Schülers. Keiner soll sagen, er habe Gott erforscht. Sondern für alle, die gewürdigt werden, etwas von Gott zu erkennen, soll es gnadenhaft geschenkte Erkenntnis sein. Die Klugen sollen bei Gott keinen Vorteil haben. Und die Dummen sollen nicht verzweifeln müssen, weil Gott den Einfältigen gewiss nicht ferner ist als den Genies. Er liebt die Gescheiten nicht mehr als die Trottel, und teilt sich darum der Welt mit in einem Evangelium, dem menschliche Dummheit nichts abbrechen, und dem menschliche Weisheit nichts hinzuzufügen vermag.

Dass es sich aber wirklich so verhält, kann jeder sehen, wenn er sich in den Kirchen umschaut und dort große Narren und große Gelehrte friedlich nebeneinander sitzen sieht. Ja, wenn wir darauf schauen, wer den Weg zum Glauben findet, so sind es nicht vorrangig die Gebildeten und Klugen, es sind auch nicht nur die Ungebildeten oder Dummen, sondern es sind quer durch alle Intelligenzniveaus hindurch Menschen aller Bildungsschichten. Schon Jesus selbst hat seine Jünger nicht etwa aus der Bildungselite des Volkes gewählt, sondern mitten heraus aus den Arbeitern und Handwerkern. Jesus hat sich offenbar von den Gescheiten nicht mehr erwartet als von den anderen auch – und mit dieser Kränkung müssen die Gescheiten bis heute zurechtkommen. Denn ihre Klugheit mag in allen irdischen Bezügen ein Vorteil sein, wie es Gesundheit auch ist, oder Wohlstand, aber sie ist kein Vorteil in Glaubensdingen, sondern es gilt viel eher das Gegenteil, weil es leicht zur Gefahr wird, wenn einer auf seine Klugheit zu sehr vertraut. Die sich für Weise halten in dieser Welt, die macht Gott gerade durch ihre Weisheit zu Narren. Wenn sie aber glauben wollen, müssen sie einsehen, dass Gottes Torheit weiser ist als alle Weisheit der Menschen, und müssen akzeptieren, was Paulus sagt: „Weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.“ „..was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme.“

Was aber bedeutet das für uns? Und welche Konsequenzen hat es? Wird es damit überflüssig über Glaubensdinge nachzudenken? Wird die Vernunft damit für wertlos erklärt, obwohl doch auch die Vernunft eine Gabe Gottes ist? Nein: Ich meine durchaus, dass die menschliche Vernunft dem Glauben zu dienen vermag. Aber sie muss dazu Demut lernen und muss dem Glauben untergeordnet werden, wie auch unser Gefühl und unser Gewissen, unser Wille und unsere Kraft unterzuordnen sind.

Denn in den anderen Bereichen ist es ja genauso. Wenn es z.B. um Gerechtigkeit geht, richten wir auch mit unseren „guten Werken“ nichts aus, sondern müssen demütig hinnehmen, dass uns Vergebung und Gerechtigkeit nur aus Gnade zuteil werden. Wenn es ums Leben und Sterben geht, richten wir mit Willenskraft ebenso wenig aus, sondern müssen demütig hinnehmen, dass uns der Schöpfer das Leben schenkt und wieder nimmt. Und wenn es um Erkenntnis geht – warum soll es dann plötzlich anders sein? Auch da richten wir mit Grübelei und Logik wenig aus, sondern müssen hinnehmen, dass Gottes Geist sich vorbehalten hat, die Dummen genauso zu erleuchten wie die Schlauen, wann immer es ihm gefällt.

Das kränkt dann gewiss unseren stolzen Verstand, dass er sich nicht zu Gott „hindurchdenken“ kann. Aber diese Kränkung ist notwendig und heilsam. Denn des Menschen Verstand ist in göttlichen Dingen so inkompetent, dass er das Ziel der Gewissheit nicht nur nicht erreicht, sondern dieses Ziel – je mehr er dem eigenen Erkennen zutraut – um so sicherer verfehlt. Wir müssen akzeptieren, dass in der Beziehung zu Gott alles nur durch Gott geschehen kann, und dass Eigenmächtigkeit in dieser Hinsicht immer nur schadet:

Wenn das Geschöpf sein Leben nicht vom Schöpfer empfangen und ihm verdanken, sondern das Leben sich selbst verschaffen und gewährleisten will, handelt es sich im eigenmächtigen Zugriff auf das Leben den Tod ein. Wenn der Schuldige sich Vergebung und Rechtfertigung nicht um Christi willen zusprechen lässt, sondern sie durch „gute Werke“ verdienen will, vermehrt der eigenmächtige Zugriff auf die Gerechtigkeit nur seine Schuld. Und wenn der Unwissende die Wahrheit über Gott nicht von Gottes Geist erfahren, sondern sie mit Menschengeist erdenken, herleiten und begründen will, steigert der eigenmächtige Zugriff auf Gottes Wahrheit nur die resultierende Verwirrung.

Gerade die „Übergescheiten“ machen sich dabei am schnellsten zum Narren. Und darum ist es viel besser, dass man die geistliche Armut akzeptiert, die Gott uns auferlegt, statt einen geistlichen Reichtum zu fordern, den er nicht geben will. Ja, zum Ärger der Bescheidwisser und der Weltweisen sei es gesagt, dass mancher Trottel klüger handelt als sie. Denn auch als Trottel ist man kein Trottel mehr, wenn man die Zumutung geistiger Schwäche als Zumutung Gottes aus seiner Hand annimmt und sich an seiner Gnade genügen lässt.

Ich empfehle darum, nicht haben zu wollen, was Gott uns nicht haben lässt, und nicht zu fordern, was er nicht geben will. Ich empfehle nicht reich sein zu wollen, wo Gott uns arm sein lässt, und nicht groß sein zu wollen in dem, worin er uns klein gemacht hat. Ich empfehle Gott schon vorab Recht zu geben, in allem, was er mit uns vorhat, und die Dummheit, die Gott uns zumutet, jeder Klugheit vorzuziehen. Denn dann muss man sich nicht scheuen, um Christi willen für einen Narren gehalten zu werden, sondern kann sich fröhlich an die Torheit Gottes halten, die tausend mal weiser ist als alle Weisheit dieser Welt...

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Die Weisheit

Ernst Moritz Geyger, Public domain, via Wikimedia Commons