Weisheit
Ist ihnen mal aufgefallen, dass die Menschheit zwar immer klüger wird – aber nicht weiser? Die Wissenschaft macht Entdeckungen ohne Ende und sammelt Daten in bisher unbekannten Ausmaß. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich in immer kürzeren Abständen. Aber irgendwie scheint diese Informationsflut den Menschen nicht schlauer zu machen. Denn all das Wissen hindert uns nicht, uns weiterhin dumm zu verhalten. Die Güter der Erde sind immer noch ungerecht verteilt, weiterhin führen wir Kriege, zerstören unsere Lebensgrundlagen und verfolgen eigensüchtige Ziele mit fragwürdigen Mitteln. Scheinbar werden wir immer klüger – und verhalten uns dennoch töricht. Die neuen Erkenntnisse bringen uns nicht wirklich voran. Und wenn wir bisher annahmen, wer wenig weiß, sei „dumm“, und wer viel weiß, werde davon „weise“, so müssen wir das heute als Irrtum erkennen. Denn offenbar ist kluges Bescheidwissen nicht dasselbe wie Weisheit. Ein Professor kann den Nobelpreis gewinnen und trotz hoher Intelligenz ein Narr sein. Und zugleich kann ein alter Hirte, der nicht mal Lesen lernte, große Weisheit zeigen. Bildung sorgt nicht automatisch für Durchblick! Wenn angehäuftes Wissen aber nicht „weise“ macht – was ist dann „Weisheit“? Es ist gar nicht leicht zu sagen. Und darum helfen wir uns gern, indem wir aufzählen, worin sich Weisheit äußert. Wir sagen: weise ist, wer es versteht, an der richtigen Stelle zu reden und an der richtigen zu schweigen. Oder: weise ist, wer sich von äußerem Glanz nicht blenden lässt und das Unscheinbare nicht verachtet. Weise ist, wer sich selbst misstraut und nicht gegen sein Gewissen handelt, wer seine Grenzen kennt und über sich selbst lachen kann. Weise ist, wer auf Ruhm und Reichtum leichten Herzens verzichtet und andere Menschen nicht nach ihren Erfolgen, sondern nach ihren Absichten beurteilt. Weise ist, wer versteht, dass nicht alles Richtige zu jeder Zeit richtig ist, wer nicht alles sagt, was er denkt, und nicht alles tut, nur weil er’s kann. Weise ist, wer nicht nur den Preis, sondern auch den Wert der Dinge kennt, wer sich nicht mehr sorgt als nötig und versteht, worauf‘s im Leben ankommt. Weise ist, wer über den Moment hinaussieht, die eigenen Abgründe erkannt und seine Prioritäten geklärt hat… Wir könnten sicher noch mehr nennen, worin sich Weisheit zeigt! Es fällt aber auf, dass sich dabei immer drei Elemente verbinden. Erstens nämlich, dass die Person zutreffend und tief erkennt, was wahr ist und was gut ist. Zweitens, dass diese Erkenntnis dem Betreffenden nicht äußerlich bleibt, sondern „verinnerlicht“ wird. Und dass sich diese innere Prägung dann drittens in einem der Erkenntnis gemäßem Fühlen, Wollen und Verhalten niederschlägt. Nun kann man einwenden, das sei doch nichts Besonderes, denn so sollte es immer sein, wenn der Mensch bei klarem Verstand ist! Es sollte eigentlich normal sein, dass wir erkennen, wie die Dinge liegen, das Erkannte zu Herzen nehmen und dementsprechend leben! Doch funktioniert das so selten störungsfrei, dass wir es, wenn‘s bei jemandem klappt und Früchte trägt, als „Weisheit“ bestaunen – und ihm dazu gratulieren. Was die Regel sein sollte, ist leider die Ausnahme. Und wir wissen auch warum. Denn (1.) ist unsere Wahrnehmung nicht sehr zuverlässig – wir sehen zwar vieles, interpretieren unsere Beobachtungen dann aber falsch, ziehen verkehrte Schlüsse und täuschen uns über die wahren Zusammenhänge. Wir wollen manchmal Offenkundiges nicht gelten lassen und geben uns mit Halbwahrheiten zufrieden, wenn sie bestätigen, was wir gern glauben möchten. Und (2.) bleiben uns viele richtige Einsichten äußerlich wie angelernte Lehrsätze, die wir lustlos aus einem Schulbuch abgeschrieben haben. Wir können’s zwar auswenig hersagen, nehmen’s aber nicht zu Herzen, lassen es nicht an uns heran, sperren uns innerlich und eignen es nicht an. Sträuben wir uns aber dergestalt gegen die Wahrheit, so finden sich (3.) auch immer Gründe, wider besseres Wissen in Widersprüchen zu leben und zu ignorieren, was wir nicht wahrhaben wollen. Oft tun wir selbst nicht, was wir anderen raten, und laufen in Fallen, von denen wir eigentlich wissen müssten. Das ist dann natürlich töricht! Aber keiner wundert sich. Denn die Inkonsequenz und innere Zerrissenheit, die unser Denken, Fühlen und Handeln in Widersprüche verwickelt, ist so alltäglich, dass wir sie „natürlich“ und „normal“ finden, während wir die Übereinstimmung von Denken, Fühlen und Handeln, die die Regel sein sollte, als Ausnahme bestaunen und „Weisheit“ nennen! Der Weise fällt uns auf, weil er mit sich im Reinen ist. Und wir bewundern an ihm (1.) die Übereinstimmung seines Denkens mit dem Wahren und Guten, das er nicht nur oberflächlich, sondern tief und im Zusammenhang versteht. Wir bewundern (2.) die Übereinstimmung seiner Persönlichkeit und seines Empfindens mit dem erkannten Wahren und Guten, das ihn durchdringt wie eine „zweite Natur“. Und wir bewundern (3.) die Übereinstimmung seiner Lebensäußerungen mit den Einsichten, die er hat, weil der Weise im Tun des Richtigen ganz ungezwungen bei sich selbst ist und aus seiner inneren Teilhabe am Wahren und Guten ganz von selbst entsprechende Worte und Taten fließen. Was uns am „Weisen“ fasziniert, ist demnach die dreifach ungewohnte Harmonie, in der sich das Denkens dem hingibt, was wahr und gut ist, der Willen sich dem hingibt, was richtig und wertvoll ist, und die Lebensführung alledem auch noch stimmigen Ausdruck verleiht. Das alles ist beim Weisen im Einklang. Oder mit den Worten Schopenhauers gesagt: Weisheit ist die „richtige Erkenntnis der Dinge … , die den Menschen so völlig durchdrungen hat, dass sie nun auch in seinem Handeln hervortritt…“
Das trifft den Punkt. Und doch ist es nur eine formale Bestimmung von Weisheit, die noch der inhaltlichen Ergänzung bedarf. Denn wie es nicht die reine Informationsfülle ist, die weise macht, so ist‘s auch nicht allein deren konsequente „Verarbeitung“, sondern Weisheit erfordert insofern einen bestimmten Sachgehalt als neben vielen Wahren insbesondere die Erkenntnis und die Aneignung des Guten nicht fehlen darf. Oder hätte man je von einem Weisen gehört oder gelesen, der weise und zugleich böse war? Zweifellos kennt die Sagenwelt den bösen Zauberer, der klug und darum mächtig ist. Aber der wird nie „weise“ genannt! Auch ein schlechter Mensch kann intelligent, schlau und gerissen sein wie Satan selbst. Aber „weise“ würde man ihn deswegen nicht nennen. Denn sich dem Bösen zu verschreiben, ist per se eine „Dummheit“. Und zum Begriff der Weisheit gehören darum notwendig Güte, Tugend und Herzensbildung. Weisheit ist mehr als das Faktenwissen, das einen Menschen bloß zum „wandelnden Lexikon“ macht. Sie ist immer auch das orientierende Wissen um Werte, Pflichten und Ziele, durch das der zustimmende Menschen „tugendhaft“ wird. Weisheit beschränkt sich also nicht auf die Kenntnis technischer Möglichkeiten, sondern sie entscheidet auch, von welcher Möglichkeit man verantwortlich Gebrauch machen kann. Weisheit ist nicht bloß erfolgreich im Welt-Erkennen, sondern auch im Selbst-Erkennen. Sie fragt nicht nur, was ist und was wie zusammenhängt, was geht – und wie man’s macht. Sondern Weisheit fragt immer auch, was von alledem, was möglich wäre, denn überhaupt wert ist, angestrebt zu werden. Sie fragt also, wer man selbst ist und wer man sein sollte, worauf es im Leben wirklich ankommt und was von alledem, was man tun kann, man auch tun darf. Natürlich bildet sich Weisheit auch ein Urteil bezüglich der in der Welt vorfindlichen Dinge und Kräfte – sie untersucht das Zusammenspiel von Ursachen und Wirkungen und schließt daraus, was mit welchen Mitteln machbar wäre. Aber das ist eben nur das eine Bein, auf dem Weisheit steht. Und genauso wichtig ist jener andere Bereich, in dem die Weisheit Gut und Böse unterscheidet, niedere und höhere Güter auf einer Werteskala verortet, sich die besten und die schlimmsten Möglichkeiten des Mensch-Seins vor Augen führt, sie selbstkritisch mit dem eigenen Zustand abgleicht, Sinn und Ziel des Daseins erfasst, beschreibt, was gelingendes Leben ausmacht, und demgemäß ihre Prioritäten klärt… Die formale Beschreibung der Weisheit ist deshalb nicht falsch! Weisheit besteht wirklich in zutreffender Erkenntnis, die eine Person so erfüllt, dass sie in allen Lebensäußerungen zu Tage tritt. Zu ergänzen ist aber, dass solche Weisheit ihrem Gehalt nach nicht bloß aus korrekten Seinsurteilen bestehen kann, sondern notwendig auch zutreffende Werturteile, Selbsterkenntnis, Herzensbildung und Tugend in sich schließt. Schulbildung allein nützt da gar nichts – sie lehrt nicht, worauf‘s im Leben ankommt! Und wer sich auf das beschränken wollte, was Naturwissenschaften zu Tage fördern, würde inmitten einer erstaunlichen Fülle korrekter Informationen doch niemals „weise“ werden. Denn er wüsste zwar nicht „wenig“, sondern „sehr viel“, wüsste aber insofern das Falsche, als Faktenwissen nicht zu ethischer Orientierung führt und daher für sich genommen auch noch nicht „weise“ macht… Wie kommen wir dann aber weiter? Woher kommt Weisheit, wenn uns Google nicht dazu verhilft? Man wird einem Christen nicht verdenken, wenn er an diesem Punkt die Bibel zitiert und sagt: „Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn, und den Heiligen erkennen, das ist Verstand“ (Spr 9,10). Für die Bibel ist es selbstverständlich, dass zwischen Glaube und Weisheit ein enger Zusammenhang besteht. Und das wird dort nicht bloß in frommem Überschwang behauptet, sondern es lässt sich zeigen, dass es gar nicht anders sein kann. Denn wenn Weisheit das Wirkliche ergründet, und Gott der tiefste Grund und Quell alles Wirklichen ist – wie sollte dann jemand zu Weisheit gelangen, der Gott nicht auf dem Schirm hat? Ihm fehlt in seiner Rechnung der wichtigste Faktor! Denn wer kennt das Wesen eines Dings, wenn er nicht seinen Ursprung kennt und den größeren Kontext, in den der Schöpfer es gestellt hat? Wer kennt die Bedeutung eines Ereignisses, wenn er es nicht zu Gottes Plan in Beziehung setzt? Oder wie soll ein Mensch beurteilen, was in seinem Leben wichtig ist, wenn er nicht weiß, welche Aufgabe Gott ihm zugedacht hat? Wie kann einer Gut und Böse unterscheiden, wenn er nicht den Willen Gottes kennt, der für Gut und Böse der alleinige Maßstab ist? Oder wie wird einer Selbsterkenntnis und Demut lernen, wenn er sich nicht erkennt im Gegenüber zu dem Heiligen, dem er Rechenschaft schuldet? Damit ist nicht gesagt, dass jeder kluge Mensch glauben müsste! Aber selbst einem Atheisten kann einleuchten, dass wenn Gott existiert (unter dieser Voraussetzung), die Erkenntnis seines Wesens und seines Wirkens der Schlüssel zur Weisheit sein muss. Wenn Gott ist, wie die Bibel ihn voraussetzt, kann nur er der maßgebliche Bezugspunkt aller relevanten Fragen sein. Und keine Skala von niederen und höheren Werten ist dann vollständig, wenn sie nicht an ihrem obersten Ende bei Gott selbst als dem „höchsten Gut“ endet. Hat die Bibel Recht, so ist Gottes Geschichte mit der Menschheit die Rahmenerzählung jedes einzelnen Leben. Ohne Einsicht in unsere Schuld Gott gegenüber gibt es dann keine zutreffende Selbsterkenntnis. Und ohne Versöhnung mit dem Höchsten ist erst recht kein gelingendes Leben denkbar. Wirklichen „Wert“ hat dann nur, was einen Mensch Gott näher bringt. Und wirkliches „Unglück“ ist nur das, was ihn von Gott trennt. So versteht nur der sich selbst, der sich von Gott her versteht. Nur der sieht recht, der die Dinge versucht mit Gottes Augen zu sehen. Wenn uns aber nur Gottesfurcht lehrt, diese Perspektive einzunehmen, bildet sie notwendig den Anfang aller Weisheit… Freilich könnte jemand einwerfen, infolgedessen wäre nur ein Frommer auch „weise“. Ich kann aber dieser empörenden Konsequenz nicht ausweichen, sondern muss sogar sagen: Frömmigkeit ist Weisheit, und Gotteserkenntnis bildet ihre Basis, die auch der Klügste nicht in der Schule lernt, sondern durch Gottes Geist geschenkt bekommt. Und mag es auch manchen provozieren, so ergibt sich daraus doch unausweichlich, dass der biblische Begriff von Weisheit letztlich mit dem des Glaubens derart zusammenfällt, dass man beide nicht mehr unterscheiden kann. Denn ob man es „Weisheit“ oder „Glaube“ nennt – wer davon ergriffen wird, erlangt die tiefe Einsicht, dass nichts wirklich ist, außer dem, dem Gott Wirklichkeit verleiht, dass nichts gut ist, außer dem, was seinem Willen entspricht, dass alles Zorn verdient, was sich Gott widersetzt, und nichts Zukunft hat, was sich nicht mit ihm versöhnt. Aus solchem Gott-verstehen erwächst vertieftes Welt-verstehen und Selbst-verstehen. Denn wo Gotteserkenntnis aufblitzt, rückt sie alles in ein neues Licht. Und wer davon erfasst wird, dem bleibt die Einsicht dann auch nicht äußerlich, sondern sie fällt ihm tief ins Gemüt, greift ihm ans Herz und färbt ihn so durch und durch, dass er schließlich allen Widerstand und alle Reserve gegen die Wahrheit Gottes aufgibt, um künftig nur noch Gott in all seiner Strenge und Güte recht haben zu lassen. Und ob man das dann „Weisheit“ oder „Glaube“ nennt, ist ganz gleich. Denn so oder so wird dem Menschen die getroste Ergebung in Gott zur zweiten Natur. Gottes Geist bezeugt seinem Geist, was wahr und was gut ist. Und mit der Teilhabe an diesem Wissen gewinnt der Mensch geistliches Urteilsvermögen und Orientierung. Reichtum kann er dann leicht entbehren, denn Gott selbst ist ihm das höchste Gut. Überheblichkeit ist ihm fremd, weil er seine eigenen Abgründe kennt. Und gütig wird er ganz von selbst, weil er schließlich von Gottes Güte lebt. So einer sieht die Dinge im rechten Maßstab, weil er sie mit Gottes Augen anschaut. Und weil er sich Gott verschrieben hat, lebt er dann auch so, ist mit sich im Reinen, und alle können sehen, dass sich in seinem Reden und Tun die Wahrheit und Güte niederschlägt, von der dieser Mensch ergriffen wurde…
Freilich ist solche Glaubensweisheit kein Forschungsergebnis. Sie wird nicht aus der Vernunft geboren und erscheint daher den Weisen dieser Welt sehr töricht! Als von Gott geschenkte Weisheit ist sie auch gar nicht den Gebildeten vorbehalten, sondern adelt viele, die der Welt unverständig erscheinen! Es ist eine Weisheit nicht für Übergescheite und Neunmalkluge, sondern gerade für schlichte Gemüter! Aber sollten wir nicht umso größere Freude an ihr haben? Die Besserwisser verlaufen sich im eigenen Kopf, und die Gelehrten verheddern sich in ihren Gedanken! Christen aber müssen nicht schlau tun, sondern dürfen darauf verweisen, dass die wahren Schätze der Weisheit und der Erkenntnis in Christus verborgen liegen (Kol 2,2-3). Der ist weise genug für uns alle, kompensiert gern unsere Fehlleistungen und wird nicht müde, seine Hand über uns zu halten. Wer ihn darum bittet, dem wird er alle Weisheit schenken, die er nötig hat. Und dafür gebührt ihm großer Dank.
Bild am Seitenanfang: A Saint, from the 'Jackdaw of Rheims'
Briton Rivière, Public domain, via Wikimedia Commons